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BAG, Be­schluss vom 08.12.2011, 6 AZN 1371/11

   
Schlagworte: Probezeit, Kündigung
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6 AZN 1371/11
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 08.12.2011
   
Leitsätze:

1. Der in Art. 30 GRC geregelte Schutz von Arbeitnehmern vor ungerechtfertigter Entlassung ist nach nationalem Recht für Arbeitnehmer während der gesetzlichen Wartezeit des § 1 KSchG dadurch gewährleistet, dass von den Gerichten für Arbeitssachen überprüft wird, ob die Kündigung gegen die guten Sitten verstößt (§ 138 Abs. 1 BGB) oder ob sie Treu und Glauben (§ 242 BGB) aus Gründen verletzt, die nicht von § 1 KSchG erfasst sind.

2. Nach der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Neuregelung des Revisionszugangs zum Bundesarbeitsgericht zählen Landesarbeitsgerichte, die die Revision bzw. die Rechtsbeschwerde nicht zulassen, aufgrund der Möglichkeit, die Nichtzulassungsbeschwerde auf die grundsätzliche Bedeutung einer Frage des Unionsrechts zu stützen, nicht mehr zum Kreis der vorlagepflichtigen Gerichte iSv. Art. 267 Abs. 3 AEUV.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Freiburg (Breisgau), Urteil vom 18.01.2011, 5 Ca 286/10, Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Urteil vom 05.07.2011, 22 Sa 11/11
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

6 AZN 1371/11
22 Sa 11/11
Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ba­den-Würt­tem­berg

BESCHLUSS

In Sa­chen

Kläger, Be­ru­fungskläger und Be­schwer­deführer,

pp.

Be­klag­te, Be­ru­fungs­be­klag­te und Be­schwer­de­geg­ne­rin,

hat der Sechs­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts am 8. De­zem­ber 2011 be­schlos­sen:

1. Die Be­schwer­de des Klägers ge­gen die Nicht­zu­las­sung der Re­vi­si­on im Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ba­den-Würt­tem­berg - Kam­mern Frei­burg - vom 5. Ju­li 2011 - 22 Sa 11/11 - wird zurück­ge­wie­sen.
 


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2. Der Kläger hat die Kos­ten des Be­schwer­de­ver­fah­rens zu tra­gen.

3. Der Streit­wert wird auf 11.880,00 Eu­ro fest­ge­setzt. Gründe

I. Die Par­tei­en strei­ten über die Rechts­wirk­sam­keit ei­ner von der Be­klag­ten in der ge­setz­li­chen War­te­zeit des § 1 KSchG erklärten or­dent­li­chen Kündi­gung so­wie über die Ver­pflich­tung der Be­klag­ten zur Wei­ter­beschäfti­gung des Klägers und zur Abände­rung des dem Kläger er­teil­ten Zeug­nis­ses.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Be­ru­fung des Klägers ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts zurück­ge­wie­sen. Die Re­vi­si­on hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt nicht zu­ge­las­sen. Mit sei­ner Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de be­gehrt der Kläger die Zu­las­sung der Re­vi­si­on ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung ei­ner ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Rechts­fra­ge, we­gen Ver­let­zung sei­nes An­spruchs auf recht­li­ches Gehör so­wie we­gen Vor­lie­gens des ab­so­lu­ten Re­vi­si­ons­grun­des der nicht vor­schriftsmäßigen Be­set­zung des er­ken­nen­den Ge­richts.

II. Die Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de ist un­be­gründet. 


1. Die Re­vi­si­on ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts ist nicht we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung ent­schei­dungs­er­heb­li­cher Rechts­fra­gen zu­zu­las­sen.


a) Gemäß § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ArbGG muss die Be­gründung ei­ner Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de, mit der die grundsätz­li­che Be­deu­tung ei­ner Rechts­fra­ge gel­tend ge­macht wird, die Dar­le­gung der grundsätz­li­chen Be­deu­tung der auf­ge­wor­fe­nen Rechts­fra­ge und de­ren Ent­schei­dungs­er­heb­lich­keit ent­hal­ten. In der Re­gel ist es er­for­der­lich, dass der Be­schwer­deführer die durch die an­zu­fech­ten­de Ent­schei­dung auf­ge­wor­fe­ne Rechts­fra­ge kon­kret be­nennt
 


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(BAG 14. April 2005 - 1 AZN 840/04 - BA­GE 114, 200). Die Be­schwer­de ist be­gründet, wenn die Ent­schei­dung des Rechts­streits von der auf­ge­wor­fe­nen Rechts­fra­ge abhängt, die­se Rechts­fra­ge durch das Re­vi­si­ons­ge­richt klärungs-fähig und klärungs­bedürf­tig ist und die­se Klärung ent­we­der von all­ge­mei­ner Be­deu­tung für die Rechts­ord­nung ist oder sie we­gen ih­rer tatsächli­chen Aus­wir­kun­gen die In­ter­es­sen der All­ge­mein­heit oder je­den­falls ei­nes größeren Teils der All­ge­mein­heit eng berührt (vgl. BAG 17. Ok­to­ber 2001 - 4 AZN 326/01 - zu II 1 der Gründe mwN, Ez­BAT BAT §§ 22, 23 B. 1 All­ge­mei­ner Ver­wal­tungs­dienst VergGr. IIa Nr. 11a). Ei­ne Rechts­fra­ge ist klärungsfähig, wenn sie vom Re­vi­si­ons­ge­richt be­ant­wor­tet wer­den kann. Klärungs­bedürf­tig ist ei­ne Rechts-fra­ge, wenn sie höchst­rich­ter­lich noch nicht ent­schie­den und ih­re Be­ant­wor­tung nicht of­fen­kun­dig ist (BAG 14. April 2005 - 1 AZN 840/04 - aaO; 22. März 2005 - 1 ABN 1/05 - BA­GE 114, 157). Ei­ne Fra­ge­stel­lung, de­ren Be­ant­wor­tung von den Umständen des Ein­zel­falls abhängt und da­mit auf die Ant­wort „Kann sein“ hin­ausläuft, ist un­zulässig. Es muss ei­ne kon­kre­te Rechts­fra­ge be­nannt sein, die mit „Ja“ oder „Nein“ be­ant­wor­tet wer­den könn­te (BAG 23. Ja­nu­ar 2007 - 9 AZN 792/06 - BA­GE 121, 52). Ent­schei­dungs­er­heb­lich ist ei­ne Rechts­fra­ge, wenn die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts von ihr ab­hing.

b) Die­se Vor­aus­set­zun­gen sind nicht erfüllt.

aa) Der Kläger will die Fra­ge geklärt ha­ben, ob ei­ne Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses we­gen ei­ner auf­grund ei­nes Ar­beits­un­falls ein­ge­tre­te­nen Ar­beits­unfähig­keit auch dann noch oh­ne wei­te­res möglich ist, wenn die­ser Ar­beits­un­fall durch ein (gra­vie­ren­des) Ver­schul­den des Ar­beit­ge­bers auf­grund der Ver­let­zung sei­ner ihm ob­lie­gen­den Sorg­falts- und Fürsor­ge­pflich­ten her­vor­ge­ru­fen wor­den ist, oder ob die Kündi­gung sit­ten­wid­rig bzw. treu­wid­rig ist. Da­mit hat der Kläger kei­ne ent­schei­dungs­er­heb­li­che Rechts­fra­ge grundsätz­li­cher Be­deu­tung so kon­kret for­mu­liert, dass sie mit „Ja“ oder „Nein“ be­ant­wor­tet wer­den kann. Be­reits an­ge­sichts der Viel­zahl mögli­cher Fall­ge­stal­tun­gen bei der schuld­haf­ten Ver­let­zung von Sorg­falts- und Fürsor­ge­pflich­ten durch Ar­beit­ge­ber ist ei­ne ein­deu­ti­ge Ant­wort nicht möglich. Außer dem Grad des Ver­schul­dens des Ar­beit­ge­bers können zB be­reits ent­stan­de­ne oder pro­gnos­ti­zier­te


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Fehl­zei­ten des Ar­beit­neh­mers so­wie ei­ne da­durch be­ding­te Be­ein­träch­ti­gung be­trieb­li­cher In­ter­es­sen von Be­deu­tung sein, so dass die Be­ant­wor­tung der vom Kläger auf­ge­wor­fe­nen Fra­ge von den je­wei­li­gen Umständen des Ein­zel­falls abhängt. Während ein vom Ar­beit­ge­ber vorsätz­lich her­bei­geführ­ter Un­fall des Ar­beit­neh­mers mit nach­fol­gen­der Ar­beits­unfähig­keit ei­ne Kündi­gung des Ar­beit­ge­bers we­gen der Ar­beits­unfähig­keit in der Re­gel nicht recht­fer­ti­gen dürf­te (vgl. BAG 8. Ju­ni 1972 - 2 AZR 285/71 - AP KSchG 1969 Nr. 1 = EzA KSchG § 1 Nr. 24), verstößt ei­ne vom Ar­beit­ge­ber während der ers­ten sechs Mo­na­te des Ar­beits­verhält­nis­ses erklärte Kündi­gung we­gen Ar­beits­unfähig­keit des Ar­beit­neh­mers re­gelmäßig nicht ge­gen die gu­ten Sit­ten (§ 138 Abs. 1 BGB) oder den Grund­satz von Treu und Glau­ben (§ 242 BGB), wenn den Ar­beit­ge­ber kein oder nur ein ge­rin­ges Ver­schul­den an der Ar­beits­unfähig­keit des Ar­beit­neh­mers trifft und nicht fest­steht, ob und ge­ge­be­nen­falls wann der Ar­beit­neh­mer die ihm ob­lie­gen­de Tätig­keit wie­der ausüben kann.


bb) So­weit der Kläger un­ter Hin­weis auf Art. 30 GRC rügt, das Lan­des­ar­beits­ge­richt hätte die Sit­ten­wid­rig­keit bzw. Treu­wid­rig­keit der Kündi­gung nicht oh­ne vor­he­ri­ge Vor­la­ge an den Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on nach Art. 267 AEUV ver­nei­nen dürfen, ver­kennt er, dass die Fra­gen der Sit­ten­wid­rig­keit im Sin­ne von § 138 Abs. 1 BGB und der Treu­wid­rig­keit im Sin­ne von § 242 BGB nicht den für ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen er­for­der­li­chen Be­zug zu ei­nem durch Uni­ons­recht ge­re­gel­ten Sach­ver­halt auf­wei­sen.

(1) Nur wenn ein kon­kre­ter An­halts­punkt dafür vor­liegt, dass der Ge­gen­stand des Rechts­streits ei­ne An­knüpfung an das Uni­ons­recht auf­weist, kommt ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV in Be­tracht (vgl. EuGH 18. De­zem­ber 1997 - C-309/96 - [An­ni­bal­di] Slg. 1997, I - 7493). Un­terfällt ein Sach­ver­halt nicht dem Uni­ons­recht und geht es auch nicht um die An­wen­dung na­tio­na­ler Re­ge­lun­gen, mit de­nen Uni­ons­recht durch­geführt wird, ist der Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on nicht zuständig (EuGH 1. März 2011 - C-457/09 -). Die Zuständig­keit des Ge­richts­hofs be­schränkt sich auf die Prüfung der Be­stim­mun­gen des Uni­ons­rechts (EuGH 12. No­vem­ber 2010 - C-339/10 - [As­pa­r­u­hov Es­tov ua.]).
 


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(2) Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Klägers weist der Kündi­gungs­sach­ver­halt kei­nen Be­zug zum Uni­ons­recht auf. Die Be­klag­te hat das Ar­beits­verhält­nis nicht im Rah­men ei­ner Mas­sen­ent­las­sung oder ei­nes Be­triebsüber­gangs gekündigt, so dass ei­ne An­knüpfung an die Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20. Ju­li 1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen oder an die Richt­li­nie 2001/23/EG des Ra­tes vom 12. März 2001 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über die Wah­rung von Ansprüchen der Ar­beit­neh­mer beim Über­gang von Un­ter­neh­men, Be­trie­ben oder Un­ter­neh­mens- oder Be­triebs­tei­len von vorn­her­ein aus­schei­det. An­knüpfungs­punk­te an das Uni­ons­recht lie­gen auch nicht bezüglich der Richt­li­nie 89/391/EWG des Ra­tes vom 12. Ju­ni 1989 über die Durchführung von Maßnah­men zur Ver­bes­se­rung der Si­cher­heit und des Ge­sund­heits­schut­zes der Ar­beit­neh­mer bei der Ar­beit, der Richt­li­nie 89/654/EWG des Ra­tes vom 30. No­vem­ber 1989 über Min­dest­vor­schrif­ten für Si­cher­heit und Ge­sund­heits­schutz in Ar­beitsstätten (Ers­te Ein­zel­richt­li­nie im Sin­ne des Ar­ti­kels 16 Ab­satz 1 der Richt­li­nie 89/391/EWG) oder der Richt­li­nie 95/63/EG des Ra­tes vom 5. De­zem­ber 1995 zur Ände­rung der Richt­li­nie 89/655/EWG über Min­dest­vor­schrif­ten für Si­cher­heit und Ge­sund­heits­schutz bei Be­nut­zung von Ar­beits­mit­teln durch Ar­beit­neh­mer bei der Ar­beit (Zwei­te Ein­zel­richt­li­nie im Sin­ne des Ar­ti­kels 16 Ab­satz 1 der Richt­li­nie 89/391/EWG) vor. Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit der von der Be­klag­ten erklärten War­te­zeitkündi­gung und nicht über die Aus­le­gung von uni­ons­recht­li­chen Be­stim­mun­gen, die die Si­cher­heit und die Ge­sund­heit der Ar­beit­neh­mer schützen.

(3) Die Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes bil­den ei­ne ob­jek­ti­ve Wer­te­ord­nung, aus der sich Schutz- und Hand­lungs­aufträge des Staa­tes er­ge­ben können, de­ren Erfüllung ei­ne in­halt­li­che An­rei­che­rung un­be­stimm­ter Be­grif­fe des ein­fa­chen Rechts durch die Recht­spre­chung er­for­dern kann, wie et­wa bei der Ge­win­nung von Kündi­gungs­schutz aus § 242 BGB für nicht vom Kündi­gungs­schutz­ge­setz er­fass­te Ar­beit­neh­mer (vgl. BVerfG 21. Ju­ni 2006 - 1 BvR 1659/04 - NZA 2006, 913; 27. Ja­nu­ar 1998 - 1 BvL 15/87 - BVerfGE 97, 169; ErfK/Wißmann 12. Aufl. Vor­be­mer­kung zum AEUV Rn. 6). Ein Ar­beit­neh­mer ist nach na­tio­na­lem Recht auch während der ge­setz­li­chen War­te­zeit des § 1


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KSchG vor ei­ner sit­ten- oder treu­wid­ri­gen Ausübung des Kündi­gungs­rechts des Ar­beit­ge­bers geschützt. In die­ser Zeit ist das Ver­trau­en des Ar­beit­neh­mers in den Fort­be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses al­ler­dings da­durch be­schränkt, dass er mit ei­ner Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses oh­ne den Nach­weis von Gründen rech­nen muss (vgl. BAG 22. April 2010 - 6 AZR 828/08 - Rn. 41, EzTöD 100 TVöD-AT § 34 Abs. 1 War­te­zeit Nr. 3). In der War­te­zeit er­folgt grundsätz­lich nur ei­ne Miss­brauchs­kon­trol­le (BVerfG 21. Ju­ni 2006 - 1 BvR 1659/04 - Rn. 17 f., BVerfGK 8, 244). Auch un­ter Berück­sich­ti­gung ver­fas­sungs­recht­li­cher Vor­ga­ben verstößt ei­ne Kündi­gung in der War­te­zeit des­halb nur dann ge­gen § 242 BGB, wenn sie Treu und Glau­ben aus Gründen ver­letzt, die von § 1 KSchG nicht er­fasst sind. Ei­ne sol­che Kündi­gung ist nicht willkürlich, wenn für sie ein ir­gend­wie ein­leuch­ten­der Grund be­steht (vgl. zu den dies­bezüglich zu be­ach­ten­den Grundsätzen im Ein­zel­nen BAG 24. Ja­nu­ar 2008 - 6 AZR 96/07 - Rn. 27 f., EzA BGB 2002 § 242 Kündi­gung Nr. 7).


(4) Im Ver­gleich zu den Grund­rech­ten des Grund­ge­set­zes fehlt der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on vom 12. De­zem­ber 2007 (GRC) ein sol­cher um­fas­sen­der und da­mit auch ten­den­zi­ell ex­pan­si­ver Cha­rak­ter (ErfK/Wißmann 12. Aufl. Vor­be­mer­kung zum AEUV Rn. 6). Die Char­ta gilt nach ih­rem Art. 51 Abs. 1 „für die Mit­glied­staa­ten aus­sch­ließlich bei der Durchführung des Rechts der Uni­on“ (EuGH 12. No­vem­ber 2010 - C-339/10 - [As­pa­r­u­hov Es­tov ua.]). Nach Art. 6 Abs. 1 EUV, der ihr ver­bind­li­chen Cha­rak­ter ver­leiht, und nach der Erklärung der GRC im An­hang zur Schluss­ak­te der Re­gie­rungs­kon­fe­renz, die den Ver­trag von Lis­sa­bon an­ge­nom­men hat, be­gründet die GRC kei­ne neu­en Zuständig­kei­ten für die Uni­on und ändert de­ren Zuständig­kei­ten nicht (EuGH 12. No­vem­ber 2010 - C-339/10 - [As­pa­r­u­hov Es­tov ua.]). Art. 51 Abs. 2 GRC, wo­nach die GRC den Gel­tungs­be­reich des Uni­ons­rechts nicht über die Zuständig­kei­ten der Uni­on hin­aus aus­dehnt und we­der neue Zuständig­kei­ten noch neue Auf­ga­ben für die Uni­on be­gründet noch die in den Verträgen fest­ge­leg­ten Zuständig­kei­ten und Auf­ga­ben ändert, stellt dies noch­mals klar. Art. 30 GRC, wo­nach je­de Ar­beit­neh­me­rin und je­der Ar­beit­neh­mer nach dem Uni­ons­recht und den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und Ge­pflo­gen­hei­ten An­spruch auf Schutz vor un­ge­recht­fer­tig­ter Ent­las­sung hat,
 


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ändert so­mit nichts dar­an, dass nach dem ge­genwärti­gen Stand des Uni­ons­rechts die §§ 138, 242 BGB kei­ne Durchführung ei­ner eu­ropäischen Richt­li­nie dar­stel­len (vgl. Wil­lem­sen/Sa­gan NZA 2011, 258, 259) und auch kei­ne sons­ti­gen An­knüpfungs­punk­te an das Uni­ons­recht auf­wei­sen.


cc) Mit der Rüge, es sei nicht nach­voll­zieh­bar, dass das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Ne­gie­rung von Ar­beits­schutz­vor­schrif­ten durch die Be­klag­te nur als ein­fa­che Fahrlässig­keit qua­li­fi­ziert ha­be, macht der Kläger ei­ne feh­ler­haf­te Rechts­an­wen­dung durch das Lan­des­ar­beits­ge­richt gel­tend. Ei­ne sol­che eröff­net nicht die Re­vi­si­on. Mögli­chen Rechts­an­wen­dungs­feh­lern ei­nes Be­ru­fungs­ge­richts kann vom Bun­des­ar­beits­ge­richt als Re­vi­si­ons­ge­richt nur im Rah­men ei­ner zulässi­gen Re­vi­si­on nach­ge­gan­gen wer­den.

2. Oh­ne Er­folg macht der Kläger das Vor­lie­gen des ab­so­lu­ten Re­vi­si­ons­grun­des des § 547 Nr. 1 ZPO gel­tend. Die­sen Re­vi­si­ons­grund hat er ent­ge­gen § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG nicht dar­ge­legt. Der Kläger bringt vor, das Lan­des­ar­beits­ge­richt hätte über die Aus­le­gung der na­tio­na­len Vor­schrif­ten des § 1 KSchG, des § 138 BGB und des § 242 BGB im Lich­te des Art. 30 GRC so­wie des Ver­s­toßes der Be­klag­ten ge­gen die Richt­li­ni­en 89/391/EWG so­wie 95/63/EG nicht selbst ent­schei­den dürfen, was ei­nen Ent­zug des ge­setz­li­chen Rich­ters be­deu­te. Es trifft zwar zu, dass das Recht auf den ge­setz­li­chen Rich­ter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ver­letzt ist, wenn ein na­tio­na­les Ge­richt sei­ner Pflicht zur An­ru­fung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on im We­ge des Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­rens nach Art. 267 AEUV (vor­mals Art. 234 EG) nicht nach­kommt, und die Vor­la­ge­pflicht in ver­fas­sungs­wid­ri­ger Wei­se ge­hand­habt wird, wenn ein letzt­in­stanz­li­ches Ge­richt ei­ne Vor­la­ge trotz der - sei­ner Auf­fas­sung nach be­ste­hen­den - Ent­schei­dungs­er­heb­lich­keit der ge­mein­schafts­recht­li­chen Fra­ge über­haupt nicht in Erwägung zieht, ob­wohl es selbst Zwei­fel hin­sicht­lich der rich­ti­gen Be­ant­wor­tung der Fra­ge hat (BVerfG 25. Fe­bru­ar 2010 - 1 BvR 230/09 - NZA 2010, 439). Je­doch war das Lan­des­ar­beits­ge­richt un­ge­ach­tet des feh­len­den ge­mein­schafts­recht­li­chen Be­zugs bei der An­wen­dung des § 138 Abs. 1 BGB und des § 242 BGB auch des­halb nicht zur An­ru­fung des Ge­richts­hofs der Eu­ropäischen Uni­on im We­ge des Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah-
 


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rens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ver­pflich­tet, weil die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts mit ei­ner auf die grundsätz­li­che Be­deu­tung ei­ner ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Rechts­fra­ge gestütz­ten Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de und da­mit noch mit Rechts­mit­teln des in­ner­staat­li­chen Rechts im Sin­ne von Art. 267 Abs. 3 AEUV an­ge­foch­ten wer­den konn­te (vgl. ErfK/Wißmann 12. Aufl. Art. 267 AEUV Rn. 28, 29). Die Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de war nach § 72a und § 92a ArbGG nur in der bis zum 31. De­zem­ber 2004 gel­ten­den Fas­sung kein Rechts­mit­tel im Sin­ne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil sie an­ders als jetzt gemäß § 72a und § 92a ArbGG nF we­der auf die grundsätz­li­che Be­deu­tung ei­ner Fra­ge des Uni­ons­rechts noch auf ei­nen Ver­fah­rens­man­gel gestützt wer­den konn­te und der Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on nicht zu den di­ver­genzfähi­gen Ge­rich­ten gehört. Die Neu­re­ge­lung hat der Auf­fas­sung, dass Lan­des­ar­beits­ge­rich­te, die die Re­vi­si­on bzw. die Rechts­be­schwer­de nicht zu­las­sen, zu den vor­la­ge­pflich­ti­gen Ge­rich­ten gehören (vgl. BVerfG 13. Ju­ni 1997 - 1 BvR 2102/95 - AP GG Art. 101 Nr. 52 = EzA EWG-Ver­trag Art. 177 Nr. 1), die Grund­la­ge ent­zo­gen (ErfK/Wißmann 12. Aufl. Art. 267 AEUV Rn. 28, 29).


3. Die Be­schwer­de ist auch un­be­gründet, so­weit der Kläger ei­ne Ver­let­zung sei­nes An­spruchs auf recht­li­ches Gehör rügt.

a) Das Grund­ge­setz si­chert recht­li­ches Gehör im ge­richt­li­chen Ver­fah­ren durch das Ver­fah­rens­grund­recht des Art. 103 Abs. 1 GG. Die­ses ga­ran­tiert den Par­tei­en ein Recht auf In­for­ma­ti­on, Äußerung und Berück­sich­ti­gung mit der Fol­ge, dass sie ihr Ver­hal­ten im Pro­zess ei­gen­be­stimmt und si­tua­ti­ons­spe­zi­fisch ge­stal­ten können. Ins­be­son­de­re gewähr­leis­tet das Ver­fah­rens­grund­recht des Art. 103 Abs. 1 GG, dass die Par­tei­en mit ih­ren Ausführun­gen und Anträgen gehört wer­den. Nach § 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ArbGG kann ei­ne Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de dar­auf gestützt wer­den, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be den An­spruch auf recht­li­ches Gehör ver­letzt und dar­auf be­ru­he die Ent­schei­dung.


Das Ver­fah­rens­grund­recht des Art. 103 Abs. 1 GG ver­langt grundsätz­lich nicht, dass ein Ge­richt vor sei­ner Ent­schei­dung auf ei­ne Rechts­auf­fas­sung
 


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hin­weist, die es sei­ner Ent­schei­dung zu­grun­de le­gen will (BVerfG 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - zu II 1 der Gründe, BVerfGE 84, 188). Al­ler­dings kann dies im Hin­blick auf Art. 103 Abs. 1 GG in be­son­de­ren Fällen ge­bo­ten sein (BVerfG 8. Ju­li 1997 - 1 BvR 1934/93 - zu C II 3 der Gründe, BVerfGE 96, 189). Ge­gen den An­spruch auf recht­li­ches Gehör verstößt es, wenn ein Ge­richt oh­ne vor­he­ri­gen Hin­weis auf ei­nen recht­li­chen Ge­sichts­punkt ab­stellt, mit dem auch ein ge­wis­sen­haf­ter und kun­di­ger Pro­zess­be­tei­lig­ter nach dem bis­he­ri­gen Pro­zess­ver­lauf - selbst un­ter Berück­sich­ti­gung der Viel­falt ver­tret­ba­rer Rechts­auf­fas­sun­gen - nicht zu rech­nen brauch­te (vgl. BVerfG 7. Ok­to­ber 2003 - 1 BvR 10/99 - zu B I 1 der Gründe, BVerfGE 108, 341). Dies kann im Er­geb­nis der Ver­hin­de­rung ei­nes Vor­trags zur Rechts­la­ge gleich­kom­men.


b) Die­se Vor­aus­set­zun­gen sind nicht erfüllt. Der Kläger bringt vor, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be sei­nen An­spruch auf recht­li­ches Gehör ver­letzt, in­dem es den nach § 139 Abs. 2 ZPO ge­bo­te­nen Hin­weis un­ter­las­sen ha­be, dass es im Rah­men des gel­tend ge­mach­ten Zeug­nis­be­rich­ti­gungs­an­trags wei­te­ren sub­stan­ti­ier­ten Vor­trag für er­for­der­lich hal­te. Zu der tra­gen­den An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richts, dem Ar­beit­ge­ber kom­me im Rah­men des Grund­sat­zes der Zeug­nis­wahr­heit und des Ge­bots der Zeug­nis­klar­heit grundsätz­lich die „For­mu­lie­rungs­ho­heit“ zu, verhält sich die Rüge des Klägers da­mit nicht. So­weit der Kläger in der Be­schwer­de­be­gründung auf sei­nen Vor­trag im Schrift­satz vom 25. März 2011 hin­weist, hat er die Ent­schei­dungs­er­heb­lich­keit des un­ter­las­se­nen Hin­wei­ses des Lan­des­ar­beits­ge­richts nicht dar­ge­legt. Dies gilt auch, so­weit das Lan­des­ar­beits­ge­richt an­ge­nom­men hat, an­ge­sichts der kur­zen Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses sei die Be­klag­te be­rech­tigt ge­we­sen, kei­ne An­ga­ben zur Leis­tungs­be­wer­tung des Klägers vor­zu­se­hen. Im Übri­gen hat der Kläger in der Be­schwer­de kei­ne neu­en Tat­sa­chen vor­ge­tra­gen, die mögli­cher­wei­se zu ei­ner dem Kläger güns­ti­ge­ren Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts hätten führen können. Sein Be­schwer­de­vor­brin­gen zu dem von ihm gel­tend ge­mach­ten Zeug­nis­be­rich­ti­gungs­an­spruch erschöpft sich in Rechts­ausführun­gen.
 


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III. Von ei­ner wei­te­ren Be­gründung wird gemäß § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG ab­ge­se­hen. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Fest­set­zung des Streit­werts be­ruht auf § 63 Abs. 2 GKG.

Fi­scher­mei­er 

Brühler 

Spel­ge

Uwe Za­bel 

Ma­ti­as­ke

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