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Keine Urlaubsabgeltung für langjährig erkrankte Mitarbeiter der Baubranche?
20.09.2012. Nach den Vorgaben des Europarechts hat jeder Arbeitnehmer das Recht auf einen bezahlten Jahresurlaub von mindestens vier Wochen, der am Ende des Arbeitsverhältnisses durch Geld ersetzt, d.h. „abgegolten“, werden darf (Art.31 Abs.2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12.12.2007 i.V.m. Art.7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung - Arbeitszeitrichtlinie).
Der Bundesrahmentarifvertrag Bau (BRTV-Bau): unvereinbar mit dem Europarecht?
Auch nach deutschem Recht steht jedem Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr ein Anspruch auf vier Wochen bezahlten Erholungsurlaub zu, vgl. §§ 1, 3 Abs.1 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG). Allerdings darf per Tarifvertrag im Baugewerbe und in ähnlichen Wirtschaftszweigen, in denen kurze Arbeitsverhältnisse üblich sind, von diesen gesetzlichen Vorschriften abgewichen werden, und zwar ausdrücklich auch zu Lasten der Arbeitnehmer (§ 13 Abs.1 BUrlG). Die Möglichkeit zur Abweichung nach unten besteht aber nur „soweit dies zur Sicherung eines zusammenhängenden Jahresurlaubs für alle Arbeitnehmer erforderlich ist“, § 13 Abs.2 BUrlG. Diese Regelung ist eine „gesetzliche Öffnungsklausel“, da sie Tarifverträgen die Möglichkeit eröffnet, vom Gesetz abzuweichen.
Der Bundesrahmentarifvertrag Bau (BRTV-Bau) ist für die Baubranche allgemeinverbindlich und enthält gleich einen ganzen Schwung an nachteiligen Urlaubsregelungen für Bauarbeitnehmer. Zwar haben Bauarbeiter auf den ersten Blick stattliche sechs Wochen Urlaub pro Jahr, wobei zwölf „Beschäftigungstage“ zu einem Tag Urlaubsanspruch führen (§ 8 Nr.2.2 BRTV-Bau). Aber nicht jeder Kalendertag im Arbeitsverhältnis ist ein „Beschäftigungstag“. Nicht berücksichtigt werden Tage, für die ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer weder Arbeitsentgelt noch Krankengeld oder Verletztengeld erhalten hat (§ 8 Nr.2.3 BRTV-Bau).
Auch die Berechnung der Urlaubsvergütung und Urlaubsabgeltung weicht deutlich vom Gesetz ab. Anders als in § 11 BUrlG ist Berechnungsgrundlage nicht der Durchschnittslohn der letzten drei Monate, sondern es sind 14,25 Prozent des im Urlaubsjahr (= Kalenderjahr) tatsächlich verdienten Bruttolohns zu Grunde zu legen (§ 8 Nr.4.1, Nr.4.2 und Nr.6.1. BRTV-Bau). Die Urlaubsvergütung und -abgeltung wird dadurch an den im Jahr erzielten Bruttolohn gekoppelt.
Diese Regelungen haben zur Folge, dass langjährig erkrankte Bauarbeitnehmer keine Urlaubsansprüche mehr erwerben, wenn sie kein Krankengeld mehr erhalten. Und vor allem sind sogar im Prinzip erworbene Urlaubstage wertlos, wenn der Arbeitnehmer im maßgeblichen Urlaubsjahr keinen Bruttolohn erzielt hat.
Es ist zweifelhaft, ob dieses Ergebnis mit dem europarechtlichen Anspruch auf vier Wochen bezahlten Urlaub vereinbar ist, denn dieser steht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) jedem Arbeitnehmer unabhängig von seinem Gesundheitszustand zu.
Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) Ende 2009 zu den tarifrechtlichen Regelungen der Baubranche und der Öffnungsklausel in § 13 Abs.2 BUrlG bereits entschieden, dass hier zwar möglicherweise ein Widerspruch zwischen Europarecht und deutschem Arbeitsrecht vorliegt, dass das deutsche Arbeitsrecht hier aber ausnahmsweise nicht europarechtskonform ausgelegt und/oder fortgebildet werden kann, weil es abschließende und eindeutige Regelungen enthält: Bestehende Gesetze und Tarifverträge müssen im Privatrechtsverkehr auch dann angewendet werden, wenn sie europäischen Richtlinien widersprechen, aber nicht richtlinienkonform interpretiert werden können: BAG, Urteil vom 17.11.2009, 9 AZR 844/08.
Damit hat das BAG die Probleme, die sich aus der Unvereinbarkeit des Urlaubsrechts der Baubranche mit dem EU-Recht ergeben, auf den Gesetzgeber abgeschoben. Das wollte ein niedersächsisches Arbeitsgericht nicht schlucken.
Der Fall: Keine Urlaubsabgeltung für langjährig erkrankte Arbeitnehmer
Im Streitfall war ein Bauarbeiter seit Ende 2009 arbeitsunfähig erkrankt. Er bekam zunächst Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, dann Krankengeld und seit Mitte 2011 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Das Arbeitsverhältnis endete schließlich Ende Dezember 2011. Daraufhin verklagte der Arbeitnehmer seinen Ex-Arbeitgeber u.a. auf Urlaubsabgeltung für das Jahr 2011.
Das mit der Klage befasste Arbeitsgericht Nienburg hatte sich wohl oder übel mit vielen schwierigen Rechtsfragen herumzuschlagen. Nimmt man - wie das BAG - den Wortlaut des BUrlG und des Tarifvertrages ernst, hat der Arbeitnehmer für das Jahr 2011 nur einen Urlaubsanspruch von 15,23 Tagen, der obendrein finanziell wertlos ist, weil er in diesem Jahr keinen Bruttolohn erzielte und die Berechnungsgrundlage für die Vergütung bzw. Abgeltung des Urlaubs damit „null“ beträgt.
Die zentrale Frage lautete damit: Welche Konsequenzen ergeben sich für das deutsche Recht aus der Tatsache, dass das Bundesurlaubsgesetz es Tarifverträgen des Baugewerbes erlaubt, entgegen dem EU-Recht Arbeitnehmern weniger als vier Wochen oder sogar gar keinen bezahlten Jahresurlaub zu gewähren?
Das Arbeitsgericht Nienburg bezieht Position gegen das BAG
Das ArbG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH sieben Fragen zur Vereinbarkeit des deutschen Bau-Urlaubsrechts mit dem EU-Recht vor (EuGH-Vorlage vom 15.06.2012, 2 Ca 472/11). Dabei begründet das Arbeitsgericht immer wieder, warum es die Rechtslage anders als das BAG bewertet.
Mit seiner ersten Frage möchte das Gericht vom EuGH wissen, ob § 13 Abs.2 BUrlG mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Anders als das BAG hält es dabei eine sinnentsprechende Anwendung für möglich. Eine tarifvertragliche Einschränkung des Rechts auf bezahlten Mindesturlaub ist nach seiner Auffassung nicht im Sinne der Öffnungsklausel, d.h. sie ist nicht „zur Sicherung eines zusammenhängenden Jahresurlaubs für alle Arbeitnehmer erforderlich“.
Mit der zweiten, dritten und fünften Frage spricht das Arbeitsgericht das Problem an, ob es unionsrechtlich überhaupt erlaubt ist, dass krankheitsbedingte Verdienstkürzungen auf die Berechnung der Urlaubsvergütung bzw. der Abgeltung durchschlagen können. Maßvolle Absenkungen von Urlaubsvergütung und Abgeltung hält das Gericht für möglich, soweit dadurch nicht der vierwöchige Mindesturlaub ausgehöhlt wird. Ob das stimmt und bei welcher prozentualen Grenze ausgehend vom durchschnittlichen Arbeitsverdienst der Schlussstrich zu ziehen ist, soll nun der EuGH klären.
Die vierte Frage lautet, ob es mit dem Europarecht vereinbar ist, dass bei langer Krankheit im Anwendungsbereich des BRTV-Bau gar keine Urlaubsansprüche entstehen. Diese Frage ist aus Sicht des Arbeitsgerichts mit „nein“ zu beantworten, wobei es eine europarechtskonforme Auslegung des BRTV-Bau für möglich hält. Tarifrechtliche „Beschäftigungstage“ dürfen daher nicht Voraussetzung für den Erwerb des vierwöchigen Mindesturlaubs sein, so das Arbeitsgericht.
In der sechsten Vorlagefrage geht es darum, ob es europarechtlich gesehen besser ist, europarechtswidrige nationale Rechtsvorschriften überhaupt nicht anzuwenden oder sie „unionsrechtskonform weiterzubilden“ (d.h. sie letztlich so weit zu verbiegen, dass sie passen). Die zweite Vorgehensweise hätte zur Folge, dass eine „Auslegung“ auf Biegen und Brechen die Wirksamkeit europäischer Richtlinien auch zwischen Privatpersonen sicherstellen würde, während die Nichtanwendung EU-rechtswidriger Vorschriften im Allgemeinen nur im Verhältnis Bürger-Staat möglich ist.
Schließlich möchte das Arbeitsgericht wissen, ob nur der EuGH die Rückwirkung seiner Entscheidungen zeitlich beschränken darf oder ob auch die Gerichte der Mitgliedsstaaten das Vertrauen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in die Wirksamkeit des nationalen Rechts schützen dürfen. Diese Frage stellt sich hier für das Arbeitsgericht, weil das BAG wie erwähnt im Jahre 2009 die Wirksamkeit der Urlaubsregelungen des BRTV-Bau ausdrücklich bestätigt hat.
Und schließlich stellt es auch die seit der „KHS“-Entscheidung des EuGH brennende Frage, nach welcher Zeit Urlaubsansprüche bei langer Krankheit frühestens verfallen dürfen.
Fazit: Das ArbG Nienburg stellt viele wichtige Fragen zum europäischen Arbeitsrecht und bezieht Position gegen das BAG.
Das kann man verstehen, denn die o.g. Entscheidung des BAG vom November 2009 (BAG, Urteil vom 17.11.2009, 9 AZR 844/08) ist ein Ausreißerurteil. In anderen Fällen, z.B. bei der Einführung der Drei-Jahresfrist für die erneute Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung oder bei der Rechtsfortbildung zur Umsetzung der Urlaubsrechtsprechung des EuGH hatte das BAG kaum Bedenken, als Ersatzgesetzgeber die bestehende Gesetzeslage durch „kreative Rechtsprechung“ zielorientiert anzupassen.
So oder so ist das deutsche Urlaubsrecht weiter in Bewegung. Bauunternehmen können derzeit auf keinen Fall mehr auf das o.g. BAG-Urteil verlassen, d.h. sie können nicht mehr auf die Wirksamkeit der urlaubsrechtlichen Bestimmungen des BRTV-Bau vertrauen. Länger erkrankte Bauarbeitnehmer sollten daher ihre Urlaubsansprüche anwaltlich prüfen lassen und ggf. einklagen, insbesondere bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Nähere Informationen finden Sie hier:
- Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 17.11.2009, 9 AZR 844/08
- Arbeitsgericht Nienburg, EuGH-Vorlage vom 15.06.2012, 2 Ca 472/11
- Informationsbroschüre der SOKA-BAU: Urlaubsverfahren bei Entsendung auf Baustellen in Deutschland (Stand: August 2009)
- Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub, Urlaubsanspruch
- Handbuch Arbeitsrecht: Urlaub und Krankheit
- Arbeitsrecht aktuell: 12/180 Urlaubsabgeltung nach langer Krankheit auch für Beamte
- Arbeitsrecht aktuell: 12/159 Urlaub bei langer Krankheit
- Arbeitsrecht aktuell: 11/234 Urlaub und Krankheit: Krankheitsbedingt nicht genommener Urlaub kann nach 15 Monaten verfallen
- Arbeitsrecht aktuell: 11/074 Sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen erleichtert
- Arbeitsrecht aktuell: 09/057 Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes entsprechend dem Schultz-Hoff-Urteil des EuGH
Letzte Überarbeitung: 3. August 2020
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