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Hes­si­sches LAG, Ur­teil vom 24.03.2010, 6/7 Sa 1373/09

   
Schlagworte: Schwerbehinderung, Fragerecht des Arbeitgebers
   
Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6/7 Sa 1373/09
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 24.03.2010
   
Leitsätze: Die tätigkeitsneutrale Frage nach einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung ist unzulässig. Sie stellt eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung schwerbehinderter Menschen dar. Eine Anfechtung des Arbeitsvertrages oder Kündigung ist wegen unwahrer Beantwortung dieser Frage unzulässig. Ein Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs 2 AGG kommt grundsätzlich in Betracht, kann aber im Einzelfall ausgeschlossen sein, wenn der materielle Schadensausgleich ausreichend ist.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Frankfurt, Urteil vom 20.05.2009, 7 Ca 7633/08
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt Hes­sen v.

24.03.2010, Az.: 6/7 Sa 1373/09

 

Te­nor:

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts in Frank­furt am Main vom 20. Mai 2009 – 7 Ca 7633/08 – wird zurück­ge­wie­sen, so­weit sich die Be­klag­te ge­gen die Fest­stel­lung des Ar­beits­ge­rich­tes wen­det, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch die An­fech­tung der Be­klag­ten vom 08. Ok­to­ber 2008 und nicht durch die außer­or­dent­li­che noch durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 22. Ok­to­ber 2008 auf­gelöst wor­den ist.

Die Be­ru­fung der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­rich­tes in Frank­furt am Main vom 20. Mai 2009 – 7 Ca 7633/08 – wird zurück­ge­wie­sen, so­weit die­se die Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­rich­tes und die Ver­ur­tei­lung der Be­klag­ten zur Zah­lung ei­ner in das Er­mes­sen des Ge­rich­tes ge­stell­ten Entschädi­gung, die je­doch den Be­trag von 96.000,00 € nicht un­ter­schrei­ten soll­te, be­gehrt.
Die Kos­ten­ent­schei­dung bleibt dem Schlus­s­ur­teil vor­be­hal­ten. Die Re­vi­si­on wird für bei­de Par­tei­en zu­ge­las­sen.

 

Tat­be­stand:

Die Par­tei­en strei­ten zunächst über den durch ei­ne An­fech­tungs­erklärung des Ar­beit­ge­bers bzw. ei­ne außer­or­dent­li­che, hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung des Ar­beit­ge­bers an­ge­grif­fe­nen Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses in­fol­ge der wahr­heits­wid­rig von der Kläge­rin in ei­nem Per­so­nal­fra­ge­bo­gen

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be­ant­wor­te­ten Fra­ge nach dem Be­ste­hen ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung, so­wie um ei­nen Entschädi­gungs­an­spruch gem. § 15 Abs. 2 AGG .

Die am ... ge­bo­re­ne, ver­hei­ra­te­te und zwei Kin­dern zum Un­ter­halt ver­pflich­te­te Kläge­rin ist bei der Be­klag­ten seit 01. März 2007 im Ver­trieb auf­grund ei­nes Ar­beits­ver­tra­ges vom 31. Ja­nu­ar 2007 (Bl. 22 - 29 und 155 - 162 d. A.) beschäftigt. Die Kläge­rin ist seit dem 23. Ju­li 1998 an­er­kann­te Schwer­be­hin­der­te mit ei­nem GdB 50. Das Jah­res­ein­kom­men der Kläge­rin (Ziel­ge­halt 2008) be­lief sich auf € 80.000,04 brut­to, wo­von € 50.500,04 brut­to Fix­ge­halt wa­ren. Wei­ter stand der Kläge­rin ein Dienst­wa­gen zur pri­va­ten Nut­zung zur Verfügung. Für die Pri­vat­nut­zung ist steu­er­lich ein Be­trag von € 416,00 mo­nat­lich in An­satz ge­bracht wor­den.

Die Be­klag­te ist ein Soft­ware­un­ter­neh­men mit Sitz in xxx. Bei der Be­klag­ten sind bun­des­weit mehr als 1200 Ar­beit­neh­mer, da­von rund 20 an­er­kannt Schwer­be­hin­der­te beschäftigt. Die Be­klag­te un­terhält ei­ne Nie­der­las­sung in xxx.

Die Kläge­rin war bei der Be­klag­ten im Geschäfts­be­reich Busi­ness Unit In­for­ma­ti­on (BUI schwer­punktmäßig mit IT-Ser­vice­ma­nage­ment be­traut, was ent­spre­chen­de Rei­sen bzw. Dienst­fahr­ten mit sich brach­te. So­fern die Kläge­rin nicht im Außen­dienst tätig war bzw. Kun­den be­such­te, kam sie ih­rer Tätig­keit in der Nie­der­las­sung der Be­klag­ten in xxx nach.

In ei­nem sog. Per­so­nal­fra­ge­bo­gen zum Ar­beits­ver­trag (vgl. Bl. 116 - 119 d. A.), den die Kläge­rin hand­schrift­lich ausfüll­te, ant­wor­te­te sie wie folgt auf die Fra­gen der Be­klag­ten bzw. kreuz­te fol­gen­de Ant­wor­ten an:

„...
II. Persönli­che Verhält­nis­se:

Sind Sie an­er­kann­ter Schwer­be­hin­der­ter oder Gleich­ge­stell­ter?

a [] Nein [x]

...
Gibt es ge­sund­heit­li­che Be­ein­träch­ti­gun­gen, die mögli­cher­wei­se die Ar­beits­leis­tung ein­schränken können?

Ja [] Nein [x]

...
Sind Sie auch für ei­ne Außen­diensttätig­keit voll be­last­bar?

Ja [x] Nein [] ...“

Ob und in­wie­weit die Kläge­rin ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Ver­pflich­tun­gen während der Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses an­stands­los und zur Zu­frie­den­heit der Be­klag­ten er­bracht hat, ist zwi­schen den Par­tei­en um­strit­ten. Im Jahr 2007 lag der Ziel­er­rei­chungs­grad der Kläge­rin bezüglich der va­ria­blen Vergütung bei 70,74%. In­so­weit und auch hin­sicht­lich der Be­ur­tei­lung der Kläge­rin ins­ge­samt wird auf die Nie­der­schrift ei­nes Mit­ar­bei­ter­gesprächs 2008 vom 07. April 2008 (Bl. 120 - 122 d. A.) ver­wie­sen.

Die Kläge­rin teil­te der Be­klag­ten am 07. Ok­to­ber 2008 ih­re An­er­ken­nung als Schwer­be­hin­der­te mit, nach­dem ihr un­ter Hin­weis auf be­triebs­be­ding­te Gründe na­he ge­legt wur­de, ge­gen Ab­fin­dung aus dem Ar­beits­verhält­nis aus­zu­schei­den.

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Mit Schrei­ben vom 08. Ok­to­ber 2008, der Kläge­rin zu­ge­gan­gen am 10. Ok­to­ber 2008, erklärte die Be­klag­te die An­fech­tung des Ar­beits­ver­tra­ges we­gen arg­lis­ti­ger Täuschung. Zur Be­gründung nahm die Be­klag­te Be­zug auf die un­wah­re Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung in dem Per­so­nal­fra­ge­bo­gen. Mit Schrei­ben vom 22. Ok­to­ber 2008 (Bl. 12 d. A.), der Kläge­rin zu­ge­gan­gen am 23. Ok­to­ber 2008, kündig­te die Be­klag­te vor­sorg­lich außer­or­dent­lich frist­los, hilfs­wei­se or­dent­lich zum nächstmögli­chen Ter­min nach Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes zur außer­or­dent­li­chen frist­lo­sen, hilfs­wei­se or­dent­li­chen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses.

Zu­vor war die Kläge­rin am Abend des 07. Ok­to­ber 2008 von der Ar­beits­leis­tung frei­ge­stellt wor­den. Da­bei wur­de sie auf­ge­for­dert, ih­re persönli­chen Sa­chen aus ih­rem Büro zu ent­fer­nen und die Fir­men­kre­dit­kar­te und den Com­pu­ter ab­zu­ge­ben. Wei­ter wur­den die Zu­gangs­be­rech­ti­gun­gen der Kläge­rin zu den be­trieb­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­teln, der EDV und den Kun­den­da­ten­ban­ken so­wie dem Fir­men­kon­to ge­sperrt. Nach Ein­las­sung der Be­klag­ten ha­be es sich da­bei um bei je­der strei­ti­gen Tren­nung von Mit­ar­bei­tern, ins­be­son­de­re aber von sol­chen aus dem Ver­trieb, völlig nor­ma­le und un­be­dingt an­ge­zeig­te Maßnah­me ge­han­delt.

Das Ar­beits­ge­richt hat mit Ur­teil vom 20. Mai 2009 der Kla­ge in­so­weit statt­ge­ge­ben, als es fest­ge­stellt hat, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en nicht durch die An­fech­tungs­erklärung der Be­klag­ten vom 08. Ok­to­ber 2008 und nicht durch die außer­or­dent­li­che frist­lo­se, hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 22. Ok­to­ber 2008 auf­gelöst wor­den ist. Das Ar­beits­ge­richt hat im Wei­te­ren hin­sicht­lich wei­te­rer anhängi­ge­rer Kündi­gungs­schutz­anträge bezüglich außer­or­dent­li­cher frist­lo­ser und hilfs­wei­se or­dent­li­cher Kündi­gun­gen vom 05. und 14. Ja­nu­ar 2009 fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis auf­grund der hilfs­wei­se or­dent­li­chen Kündi­gung vom 05. Ja­nu­ar 2009 mit dem 15. Fe­bru­ar 2009 ge­en­det hat. Das Ar­beits­ge­richt hat dem­ent­spre­chend der Kla­ge der Kläge­rin auf An­nah­me­ver­zugs­lohn bis zum 15. Fe­bru­ar 2009 statt­ge­ge­ben und der Kläge­rin ei­ne Pro­vi­si­ons­schluss­zah­lung in Höhe von € 15.600,00 brut­to zu­ge­spro­chen, bezüglich de­rer die Be­klag­te Auf­rech­nung mit Ver­trags­stra­fe­ver­spre­chen gem. § 12 Nr. 1 des Ar­beits­ver­tra­ges der Par­tei­en im Hin­blick auf be­haup­te­te Pflicht­ver­let­zun­gen (vgl. Schrift­satz der Be­klag­ten vom 06. Fe­bru­ar 2009, S. 11, Bl. 278 d. A.) erklärt hat; letz­te­res un­ter Zurück­wei­sung der Auf­rech­nung der Be­klag­ten. Das Ar­beits­ge­richt hat wei­ter ei­nem An­spruch auf Ent­fer­nung ei­ner Ab­mah­nung vom 12. De­zem­ber 2008 (Bl. 70, 71 d. A.) statt­ge­ge­ben. Ab­ge­wie­sen hat das Ar­beits­ge­richt den Entschädi­gungs­an­spruch der Kläge­rin nach § 15 Abs. 2 AGG , die Kla­ge auf Fort­be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses auf­grund Rechts­un­wirk­sam­keit al­ler an­ge­grif­fe­nen Kündi­gun­gen, die Kla­ge auf Wei­ter­beschäfti­gung und die Kla­ge auf An­nah­me­ver­zug auf Nut­zungs­aus­fall­entschädi­gung für die pri­va­te Nut­zung des der Kläge­rin über­las­se­nen Dienst­wa­gens, der die­ser nicht bis zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zur Verfügung ge­stellt wur­de. Das Ar­beits­ge­richt hat fer­ner ei­ne Kla­ge auf Be­rich­ti­gung bzw. Neu­er­tei­lung ei­nes der Kläge­rin un­ter dem 10. Ok­to­ber 2008 (Bl. 166 d. A.) er­teil­ten Zeug­nis­ses ab­ge­wie­sen. We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des erst­in­stanz­li­chen Vor­brin­gens, der dort ge­stell­ten Anträge so­wie der Erwägun­gen des Ar­beits­ge­richts wird auf die an­ge­grif­fe­ne Ent­schei­dung Be­zug ge­nom­men.

Ge­gen die­ses Ur­teil ha­ben die Par­tei­en in­ner­halb der zur Nie­der­schrift der Be­ru­fungs­ver­hand­lung vom 24. März 2010 fest­ge­stell­ten und dort er­sicht­li­chen Fris­ten Be­ru­fung ein­ge­legt.

Die Kläge­rin greift da­bei u.a. die Ab­wei­sung des Entschädi­gungs­an­spruchs an. Die Kläge­rin meint, sie ha­be In­di­zi­en an­geführt und un­ter Be­weis ge­stellt, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen ei­nes in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des ver­mu­ten las­sen. Die­se In­di­zi­en würden dar­auf be­ru­hen, dass sie we­gen ei­ner zulässi­gen Falsch­be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ih­rer Be­hin­de­rung un­mit­tel­bar gekündigt wor­den ist und der Ar­beits­ver­trag an­ge­foch­ten wor­den ist. Darüber hin­aus ha­be sie In­di­zi­en dar­ge­legt, dass sie auf­grund die­ser Falsch­be­ant­wor­tung auch noch unwürdig be­han­delt wur­de. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts ha­be die Fra­ge nach der an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung et­was mit § 1 AGG zu tun, da ei­ne sol­che Fra­ge dis­kri­mi­nie­rend sei und da­her un­zulässig sei. Der Hin­weis der Be­klag­ten in § 14 des Ar­beits­ver­tra­ges, das fal­sche An­ga­ben im Per­so­nal­fra­ge­bo­gen zur Kündi­gung führen können, vermöge dem­ge­genüber kei­nen Recht­fer­ti­gungs­grund dar­zu­stel­len. Auch die Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­amts zur Kündi­gung be­wei­se nicht, dass die Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses we­gen Falsch­be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung sei. Nichts an­de­res als die

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Schwer­be­hin­de­rung der Kläge­rin sei Auslöser al­ler Maßnah­men, die die Be­klag­te er­grif­fen ha­be. Die Dis­kri­mi­nie­rung der Kläge­rin er­ge­be sich auch aus der Art und Wei­se, in der die Kläge­rin ih­ren Ar­beits­platz ha­be ver­las­sen müssen. Im Übri­gen er­ge­be sich ei­ne Dis­kri­mi­nie­rung auch aus dem Pro­zess­ver­hal­ten der Be­klag­ten, in dem die­se ver­su­che, der Kläge­rin ei­ne Be­hin­de­rung aus psy­chi­schen Gründen zu un­ter­stel­len.

Die Kläge­rin be­an­tragt,

1. un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Frank­furt am Main vom 20. Mai 2009, Az.: 7 Ca 7633/98, fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Tatkündi­gung der Be­klag­ten vom 05. Ja­nu­ar 2009 auf­gelöst ist (Zif­fer 4 der Kla­ge­anträge 1. In­stanz);

2. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en we­der durch die frist­lo­se noch durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Ver­dachtskündi­gung der Be­klag­ten vom 05. Ja­nu­ar 2009 auf­gelöst ist (Zif­fer 3 der Kla­ge­anträge 1. In­stanz);

3. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Ver­dachtskündi­gung der Be­klag­ten vom 14. Ja­nu­ar 2009 auf­gelöst ist (Zif­fer 5 der Kla­ge­anträge 1. In­stanz);

4. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Tatkündi­gung der Be­klag­ten vom 14. Ja­nu­ar 2009 auf­gelöst ist (Zif­fer 6 der Kla­ge­anträge 1. In­stanz);

5. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en nicht durch an­de­re Be­en­di­gungs­tat­bestände be­en­det wur­de (Zif­fer 7 der Kla­ge­anträge 1. In­stanz);

6. hilfs­wei­se für den Fall des Ob­sie­gens mit sämt­li­chen vor­ge­hen­den Be­stands­schutz­anträgen die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, die Kläge­rin vorläufig bis zu ei­ner rechts­kräfti­gen Ent­schei­dung in der Haupt­sa­che als Se­ni­or Ac­count Ma­na­ge­rin zu un­veränder­ten ar­beits­ver­trag­li­chen Be­din­gun­gen ent­spre­chend des Ar­beits­ver­tra­ges vom 31. Ja­nu­ar 2007 wei­ter zu beschäfti­gen;

7. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin € 1.950,00 brut­to nebst Zin­sen i. H. v. fünf Pro­zent­punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz aus je­weils € 650,00 seit dem 01. März 2009 und aus € 1.300,00 seit dem 01. April 2009 zu zah­len (nicht zu­ge­spro­che­ner An­teil aus Zif­fer 11 der Kla­ge­anträge);

8. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin € 6.312,51 nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz aus je­weils € 2.104,17 ab dem 01. März 2008 und aus € 4.208,34 ab dem 02. April 2008 zu zah­len (nicht zu­ge­spro­che­ner An­teil aus Zif­fer 14 der Kla­ge­anträge);

9. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin wei­te­re € 424,25 net­to nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz aus je­weils € 141,75 ab dem 02. März 2008 und aus € 283,50 ab dem 02. April 2008 zu zah­len (nicht zu­ge­spro­che­ner An­teil aus Zif­fer 15 der Kla­ge­anträge);

10. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin wei­te­re € 2.361,81 brut­to nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem je­wei­li­gen Ba­sis­zins­satz aus € 281,81 seit dem 02. No­vem­ber 2008 und aus je­weils € 416,00 brut­to seit dem 02. De­zem­ber 2008, 02. Ja­nu­ar 2009, 02. Fe­bru­ar 2009, 02. März 2009 und 02. April 2009 zu zah­len (be­gründe­te Zah­lungs­ansprüche we­gen Weg­fall der Nut­zungsmöglich­keit des Kfz. - Zif­fer 16 der Kla­ge­anträge);

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11. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, der Kläge­rin ein Zeug­nis gemäß dem Kla­ge­an­trag Zif­fer 17 zu er­tei­len;

12. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin ei­ne in das Er­mes­sen des Ge­richts ge­stell­te Entschädi­gung, wel­che je­doch ei­nen Be­trag von € 96.000,00 nicht un­ter­schrei­ten soll­te, nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 25. No­vem­ber 2008 zu zah­len.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Kla­ge un­ter Abände­rung des Ur­teils des Ar­beits­ge­richts Frank­furt am Main vom 20. Mai 2009 - 7 Ca 7633/08 - ab­zu­wei­sen.

Die Be­klag­te meint, die Kla­ge­statt­ga­be im Hin­blick auf die Ver­nei­nung ei­ner rechts­wid­ri­gen Täuschung im Sin­ne von § 123 Abs. 1 BGB und des Feh­lens ei­nes wich­ti­gen Grun­des nach § 626 BGB und ei­ner ar­beits­ver­trag­li­chen Pflicht­ver­let­zung im Sin­ne von § 1 Abs. 2 KSchG , so­dass das Ar­beits­verhält­nis we­der durch die An­fech­tung vom 08. Ok­to­ber 2008 noch durch die Kündi­gun­gen vom 22. Ok­to­ber 2008 auf­gelöst wor­den sei, über­zeu­ge nicht. Die Be­klag­te ver­weist dar­auf, dass das Bun­des­ar­beits­ge­richt noch in sei­ner Ent­schei­dung vom 18. Ok­to­ber 2000 (- 2 AZR 380/99 -) die Fra­ge nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung des Be­wer­bers als un­ein­ge­schränkt zulässig an­sah; dies ob­wohl die EU-Gleich­be­hand­lungs­richt­li­nie 2000/78/EG zu die­sem Zeit­punkt be­reits kurz vor ih­rer Ver­ab­schie­dung stand. Die Be­klag­te ver­weist dar­auf, dass sie sich mit ih­rem Fra­ge­bo­gen auf die­se ständi­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts ver­las­sen ha­be und auch dar­auf ver­las­sen durf­te. Das Ver­trau­en der Be­klag­ten in die ständi­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts sei hier schützens­wert. Die Be­klag­te meint wei­ter, eu­ro­pa­recht­lich und im am 18. Au­gust 2006 in Kraft ge­tre­te­nen AGG wer­de nicht zwi­schen Be­hin­de­rung und an­er­kann­ter Schwer­be­hin­de­rung un­ter­schie­den. War­um die­ser wei­te­re Be­griff der Be­hin­de­rung aber nun zwin­gend be­deu­ten soll, dass je­de da­hin­ge­hen­de Fra­ge des Ar­beit­ge­bers un­zulässig sein soll, sei nicht nach­voll­zieh­bar. In Deutsch­land zu­min­dest sei der ge­setz­li­che Schutz von Schwer­be­hin­der­ten, so­weit es die An­bah­nung von Ar­beits­verhält­nis­sen an­ge­he, durch das AGG nicht aus­ge­wei­tet, son­dern so­gar ab­ge­baut wor­den. Die Be­klag­te meint wei­ter, sie könne sich für die Zulässig­keit der Fra­ge nach der an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung auf § 8 Abs. 1 AGG be­ru­fen. Die Fra­ge nach der an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung oder Gleich­stel­lung sei in ers­ter Li­nie er­folgt, weil die Be­klag­te ih­re Schwer­be­hin­der­ten­quo­te ha­be erhöhen wol­len. Die Kläge­rin hätte bei wahr­heits­gemäßer Ant­wort ih­re Chan­cen auf Ein­stel­lung so­gar erhöht, sie wäre ge­nau­so ein­ge­stellt wor­den.

Hin­sicht­lich der Be­ru­fung der Kläge­rin zum ab­ge­wie­se­nen Entschädi­gungs­an­spruch führt die Be­klag­te aus, dass die Be­wei­ser­leich­te­rung des § 22 AGG vor­aus­set­ze, dass die Kläge­rin dar­legt und den Voll­be­weis für ei­ne Be­nach­tei­li­gung er­bringt. Dies sei nicht ge­sche­hen. Die Be­klag­te ver­weist dar­auf, dass das Ar­beits­ge­richt die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft (nur) „wer­tungsmäßig“ als dis­kri­mi­nie­rend an­ge­se­hen ha­be, weil erst die Nicht­ein­stel­lung die ei­gent­li­che Dis­kri­mi­nie­rung bzw. Be­nach­tei­li­gung ge­we­sen wäre und die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung die­se nur (ver­meint­lich) vor­be­rei­ten soll­te. Die Be­klag­te wie­der­holt an die­ser Stel­le, dass Grund für die An­fech­tung und die Kündi­gung al­lein der Ver­trau­ens­ver­lust we­gen der Lüge der Kläge­rin war. Ganz im Ge­gen­satz zum „Recht zur Lüge“ sei­en Of­fen­heit und Ehr­lich­keit im Um­gang mit­ein­an­der seit je­her fes­te Be­stand­tei­le der Un­ter­neh­mens­kul­tur der Be­klag­ten. Bei ei­ner Lüge auf je­de an­de­re gleich be­deut­sa­me Fra­ge hätte die Be­klag­te ganz ge­nau­so re­agiert. Über den Grund der Schwer­be­hin­de­rung der Kläge­rin ha­be man erst lan­ge nach An­fech­tung und Kündi­gung und nur des­halb spe­ku­liert, weil die Kläge­rin den Grund für ih­re Schwer­be­hin­de­rung nicht be­kannt ge­ben woll­te.

We­gen des wei­te­ren Vor­brin­gens der Par­tei­en in der Be­ru­fungs­in­stanz wird auf den vor­ge­tra­ge­nen In­halt der ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen und den übri­gen Ak­ten­in­halt ver­wie­sen.

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Ent­schei­dungs­gründe

Die Be­ru­fun­gen der Par­tei­en sind statt­haft ( §§ 8 Abs. 2 , 64 Abs. 1 , Abs. 2 lit. b) und c) ArbGG ), außer­dem form- und frist­ge­recht ein­ge­legt ( §§ 66 Abs. 1 ArbGG , 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519 , 520 ZPO ) und da­mit ins­ge­samt zulässig.

Im ent­schei­dungs­rei­fen Um­fang sind die Be­ru­fun­gen der Par­tei­en je­doch un­be­gründet. Das Be­ru­fungs­ge­richt sieht den Rechts­streit nur teil­wei­se, nämlich hin­sicht­lich des durch An­fech­tungs­erklärung der Be­klag­ten vom 08. Ok­to­ber 2008 und durch Kündi­gung der Be­klag­ten vom 22. Ok­to­ber 2008 an­ge­grif­fe­nen Be­stan­des des Ar­beits­verhält­nis­ses und hin­sicht­lich des von der Kläge­rin gel­tend ge­mach­ten Entschädi­gungs­an­spruchs gem. § 15 Abs. 2 AGG als ent­schei­dungs­reif an, wes­halb in­so­weit gem. § 301 ZPO Teil­ur­teil er­geht. Bezüglich der Kündi­gun­gen vom 05. Ja­nu­ar und vom 14. Ja­nu­ar 2009 wird ei­ne wei­te­re Sach­ver­halts­aufklärung (Be­weis­auf­nah­me) für er­for­der­lich ge­hal­ten. Hier­von hängen die Kla­ge auf Ent­fer­nung der Ab­mah­nung, im Wei­te­ren die Kla­ge auf Pro­vi­si­ons­zah­lung im Hin­blick auf Auf­rech­nungs­erklärung der Be­klag­ten we­gen Ver­trags­pflicht­ver­let­zun­gen und das Zeug­nis so­wie zu­min­dest teil­wei­se auch An­nah­me­ver­zugs­lohn­ansprüche ab. Die­ser Teil des Rechts­streits ist bis zur Ent­schei­dungs­rei­fe über die zunächst außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 05. Ja­nu­ar 2009 da­her eben­falls nicht ent­schei­dungs­reif.

Das Be­ru­fungs­ge­richt folgt dem Ar­beits­ge­richt dar­in, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en nicht durch die An­fech­tungs­erklärung der Be­kla­gen bzw. die auf die Falsch­be­ant­wor­tung der Fra­ge nach an­er­kann­ter Schwer­be­hin­de­rung ge­gründe­ten außer­or­dent­li­chen Kündi­gung vom 22. Ok­to­ber 2008 ge­en­det hat. Ne­ben dem An­fech­tungs­recht kann bei Dau­er­schuld­verhält­nis­sen auch ein or­dent­li­ches bzw. außer­or­dent­li­ches Kündi­gungs­recht be­ste­hen. Das An­fech­tungs­recht wird nicht durch das Recht zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung ver­drängt; es be­steht viel­mehr ein Wahl­recht. An­fech­tung und Kündi­gung können auch zeit­lich erklärt wer­den, wo­bei al­ler­dings we­gen der stärke­ren Wir­kung der An­fech­tung über die­se zu­erst zu ent­schei­den ist. Im Streit­fall ist da­bei schon des­halb zunächst über die An­fech­tung zu ent­schei­den, weil die­se für den Fall der Wirk­sam­keit zu ei­ner frühe­ren Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses führen würde. Kündi­gungs­ver­bo­te des be­son­de­ren Kündi­gungs­schut­zes (z. B. §§ 85 ff. SGB X ) ste­hen der An­fech­tung da­bei nicht ent­ge­gen. Die Kündi­gungs­ver­bo­te oder -ein­schränkun­gen sol­len nur das rechts­feh­ler­haft zu­stan­de ge­kom­me­ne Ar­beits­verhält­nis schützen. Im Wei­te­ren setzt die Täuschungs­an­fech­tung vor­aus, dass ei­ne Täuschung be­steht. Ei­ne Täuschung be­steht in der Er­re­gung oder Auf­recht­er­hal­tung ei­nes Irr­tums bezüglich ob­jek­tiv nach­prüfba­rer Umstände, durch die der Erklärungs­geg­ner zur Ab­ga­be ei­ner Wil­lens­erklärung ver­an­lasst wird ( BAG, Ur­teil vom 05.10.1995 - 2 AZR 923/94 - AP Nr. 40 zu § 23 BGB, un­ter I. 1. d.Gr.) . Im Wei­te­ren setzt die An­fech­tung we­gen arg­lis­ti­ger Täuschung Rechts­wid­rig­keit vor­aus. Un­ge­schrie­be­nes Tat­be­stands­merk­mal der Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist wie bei der Dro­hung de­ren Rechts­wid­rig­keit. Das BGB geht da­von aus, dass die arg­lis­ti­ge Täuschung stets rechts­wid­rig ist. Den Fall rechtmäßiger Täuschung - vor al­lem im Ar­beits­verhält­nis - sieht das Ge­setzt nicht. Die­se Lücke des Ge­set­zes wird nach herr­schen­der Mei­nung durch te­leo­lo­gi­sche Re­duk­ti­on ge­schlos­sen. Die Norm des § 123 BGB ist in­so­fern zu weit ge­fasst, als sie die Fälle ei­ner an sich arg­lis­ti­gen, aber recht­lich er­laub­ten Täuschung mit­um­fasst (vgl. BAG, Ur­teil vom 21.02.1991 - 2 AZR 449/90 - AP Nr. 35 zu § 123 BGB, un­ter I. b) d.Gr.) . So­mit stellt im Be­reich der Fra­ge­rech­te des Ar­beit­ge­bers nur ei­ne fal­sche Ant­wort auf ei­ne zulässi­ger­wei­se ge­stell­te Fra­ge ei­ne arg­lis­ti­ge Täuschung dar ( BAG, Ur­teil vom 19.05.1983 - 2 AZR 171/81 - AP Nr. 25 zu § 123 BGB, un­ter A. I. 3. c) d.Gr.) . Sch­ließlich setzt die An­fech­tung vor­aus, dass die Täuschung für die Be­gründung des Ar­beits­verhält­nis­ses ursächlich ge­wor­den ist. Das ist der Fall, wenn der Getäusch­te die Wil­lens­erklärung an­de­ren­falls nicht oder mit ei­nem an­de­ren In­halt ab­ge­ge­ben hätte. Es reicht aus, wenn die Täuschung zu­min­dest mit­ursächlich für den Ent­schluss des Getäusch­ten von Be­deu­tung war ( BAG, Ur­teil vom 11.11.1993 - 2 AZR 467/93 - AP Nr. 38 zu § 123 BGB, un­ter II. 1. b) ee) d.Gr.) .

Vor­lie­gend strei­ten die Par­tei­en zunächst über die Zulässig­keit der Fra­ge der Be­klag­ten in ih­rem Per­so­nal­fra­ge­bo­gen nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung oder ei­ner Gleich­stel­lung. Be­ant­wor­tet ein schwer­be­hin­der­ter Be­wer­ber zulässi­ge Fra­gen des Ar­beit­ge­bers in ei­nem
Ein­stel­lungs­gespräch vorsätz­lich falsch, kann der später ge­schlos­se­ne Ar­beits­ver­trag we­gen

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arg­lis­ti­ger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB an­fecht­bar sein. Ob die „tätig­keits­neu­tra­le“ Fra­ge des Ar­beit­ge­bers als zulässig an­ge­se­hen wer­den kann, war lan­ge Zeit hef­tig um­strit­ten. Nach der bis­her noch nicht auf­ge­ge­be­nen Recht­spre­chung des 2. Se­nats des Bun­des­ar­beits­ge­richts ist sie zulässig (vgl. zu­letzt BAG, Ur­teil vom 18.10.2000 - 2 AZR 380/99 - AP Nr. 59 zu § 123 BGB) . Als tätig­keits­neu­tral wird die­se Fra­ge be­zeich­net, weil sie kei­nen Be­zug zur vor­ge­se­he­nen Beschäfti­gung hat, son­dern nur dar­auf zielt zu er­fah­ren, ob ei­ne Schwer­be­hin­de­rung fest­ge­stellt ist, und zwar un­abhängig da­von, wel­che Aus­wir­kun­gen die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft oder die Gleich­stel­lung so­wie die zu­grun­de lie­gen­de Be­hin­de­rung kon­kret für die in Aus­sicht ge­nom­me­ne Tätig­keit hat (vgl. BAG, Ur­teil vom 01.08.1985 - 2 AZR 101/83 - AP Nr. 30 zu § 123 BGB, un­ter II. 3. a) d.Gr. und BAG, Ur­teil vom 05.10.1995 - 2 AZR 923/94 - AP Nr. 40 zu § 123 BGB, un­ter B. II. 2. d.Gr.) . Seit In-Kraft-Tre­ten des § 81 SGB IX zum 01. Ju­li 2001 ging je­doch die ganz über­wie­gen­de Mei­nung im Schrift­tum von der Un­zulässig­keit ei­ner tätig­keits­neu­tra­len Fra­ge des Ar­beit­ge­bers nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung aus. Be­gründet wur­de dies u.a. da­mit, dass das Bun­des­ar­beits­ge­richt in sei­ner Ent­schei­dung vom 05. Ok­to­ber 1995 (- 2 AZR 923/94 -) sei­ne Auf­fas­sung zur Zulässig­keit der Fra­ge u.a. da­mit be­gründet hat­te, die Auf­nah­me des Ver­bots der Be­nach­tei­li­gung Be­hin­der­ter in das Grund­ge­setz ( Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ) recht­fer­ti­ge kei­ne an­de­re Be­wer­tung. Ein Ver­gleich mit der Zulässig­keit der Fra­ge nach der Schwan­ger­schaft, die als dis­kri­mi­nie­rend an­ge­se­hen wird, sei un­statt­haft, denn während der Ge­setz­ge­ber in § 611 a BGB ein aus­drück­li­ches ge­schlechts­spe­zi­fi­sches Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot bei der Be­gründung von Ar­beits­verhält­nis­sen nor­miert ha­be, feh­le es im Fall der Be­hin­der­ten. Da nun­mehr aber aus­drück­lich in § 81 SGB IX ein der­ar­ti­ges Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot - § 611 a a.F. BGB nach­ge­bil­det - vor­ge­se­hen sei, könne die­se Ar­gu­men­ta­ti­on nach Auf­fas­sung von Düvell BB 2001, 1529 ff.; Mes­sing­schla­ger NZA 2003, 301 ff.; Thüsing, We­ge, FA 2003, 296 ff. ; von Kop­pen­fels-Spies, AuR 2004, 43 ff.; Brecht-Heinz­mann, ZdR 2006, 639 ff. nicht mehr grei­fen; of­fen ge­las­sen: Dörner in Hand­buch des Fach­an­walts, Ar­beits­recht, 8. Aufl., Ka­pi­tel 2, Rn 291.

§ 81 Abs. 2 SGB IX in der bis zum In-Kraft-Tre­ten des AGG lau­ten­den Fas­sung be­stimm­te in Satz 2
Nr. 1:

„Ein schwer­be­hin­der­ter Beschäftig­ter darf bei ei­ner Ver­ein­ba­rung oder ei­ner Maßnah­me, ins­be­son­de­re bei der Be­gründung des Ar­beits- oder sons­ti­gen Beschäfti­gungs­verhält­nis­ses, beim be­ruf­li­chen Auf­stieg, bei ei­ner Wei­sung oder ei­ner Kündi­gung nicht we­gen sei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt wer­den. Ei­ne un­ter­schied­li­che Be­hand­lung we­gen der Be­hin­de­rung ist je­doch zulässig, so­weit ei­ne Ver­ein­ba­rung oder ei­ne Maßnah­me die Art von dem schwer­be­hin­der­ten Beschäftig­ten aus­zuüben­den Tätig­keit zum Ge­gen­stand hat und ei­ne be­stimm­te körper­li­che Funk­ti­on, geis­ti­ge Fähig­keit oder see­li­sche Ge­sund­heit we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung für die­se Tätig­keit ist.“

In der der­zeit gülti­gen Fas­sung lau­tet § 81 Abs. 2 SGB IX wie folgt:

„Ar­beit­ge­ber dürfen schwer­be­hin­der­te Beschäftig­te nicht we­gen ih­rer Be­hin­de­rung be­nach­tei­li­gen. Im Ein­zel­nen gel­ten hier­zu die Re­ge­lun­gen des all­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes.“

Nach Auf­fas­sung des Be­ru­fungs­ge­richts ist so­wohl nach § 81 Abs. 2 SGX IX a.F. wie nach § 81 SGB IX n.F. die Zulässig­keit ei­ner tätig­keits­neu­tra­len Fra­ge des Ar­beit­ge­bers nach ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft im Hin­blick auf das Ver­bot der Un­gleich­be­hand­lung be­hin­der­ten Men­schen nicht mehr auf­recht­er­hal­ten.

Im Streit­fall ist auch da­von aus­zu­ge­hen, dass die Fra­ge nach an­er­kann­ter Schwer­be­hin­de­rung und Gleich­stel­lung im Per­so­nal­fra­ge­bo­gen der Be­klag­ten tätig­keits­neu­tral ist. Dies folgt schon dar­aus, dass die Be­klag­te aus­drück­lich nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung fragt und nicht all­ge­mein nach dem Vor­lie­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung. Darüber hin­aus er­gibt sich dies dar­aus, dass die Be­klag­te, um die ge­sund­heit­li­che Eig­nung der Kläge­rin für die zu be­set­zen­de Stel­le zu gewähr­leis­ten, be­reits ge­son­dert nach ge­sund­heit­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen, die mögli­cher­wei­se die Ar­beits­leis­tung ein­schränken können, eben­so fragt wie, ob der Be­wer­ber auch für Außen­diensttätig­keit voll be­last­bar sei.

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Aber auch un­ter dem As­pekt ei­ner feh­len­den Kau­sa­lität kann im Streit­fall die An­fech­tung der Be­klag­ten die Auflösung des Ar­beits­verhält­nis­ses der Par­tei­en nicht be­gründen. Wie be­reits aus­geführt, muss zwi­schen der Täuschungs­hand­lung und der Wil­lens­erklärung ei­ne Kau­sa­lität be­ste­hen. Die Täuschungs­hand­lung muss zu ei­nem Irr­tum des Getäusch­ten führen, und der Irr­tum muss für ei­ne Wil­lens­erklärung ursächlich sein, die der Getäusch­te oh­ne die Täuschung nicht, mit ei­nem an­de­ren In­halt oder je­den­falls nicht zu die­sem Zeit­punkt ab­ge­ge­ben hätte (vgl. BAG, Ur­teil vom 11.11.1993 - 2 AZR 467/93 - AP Nr. 38 zu § 123 BGB, un­ter II. 1. b) ee) d.Gr.) . Die Be­klag­te hat in­so­weit vor­ge­tra­gen, dass ih­re Fra­ge nach ei­ner an­er­kann­ten Schwer­be­hin­de­rung dem Ziel ge­dient ha­be, durch Ein­stel­lung an­er­kann­ter schwer­be­hin­der­ter Be­wer­ber ih­re Schwer­be­hin­der­ten­quo­te zu erhöhen. Wei­ter hat die Be­klag­te vor­ge­tra­gen, dass die Kläge­rin bei wahr­heits­gemäßer Ant­wort ih­re Chan­cen auf Ein­stel­lung so­gar erhöht hätte. Der Irr­tum der Be­klag­ten über die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft der Kläge­rin war da­nach für de­ren Wil­lens­erklärung nicht ursächlich. Die Be­klag­te hat die Kläge­rin in Un­kennt­nis de­ren Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft als „bes­te“ Be­wer­be­rin aus­gewählt und ein­ge­stellt. Die Be­klag­te hat fer­ner ex­pli­zit erklärt, dass bei po­si­ti­ver Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung die Kläge­rin erst recht ein­ge­stellt wor­den wäre. Dass die Ein­stel­lung der Kläge­rin auf ei­ner arg­lis­ti­gen Täuschung der Be­klag­ten sei­tens der Kläge­rin be­ruht, kann da­mit nicht fest­ge­stellt wer­den. Zu die­sem Er­geb­nis kommt auch Düvell (BB 2006, 1741, 1743) , in­dem er ausführt, dass der Ar­beit­ge­ber das Recht hat zur tätig­keits­neu­tra­len Fra­ge nach dem Sta­tus der Schwer­be­hin­de­rung oder nach ei­nem lau­fen­den Fest­stel­lungs­ver­fah­ren, wenn das Ziel der Fra­ge die Ein­glie­de­rung von Be­hin­der­ten oder die Stei­ge­rung des Ist-Sat­zes der Beschäfti­gungs­pflicht nach § 71 Abs. 1 SGB IX ist, al­ler­dings im Wei­te­ren es für an­ge­bracht hält dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der­je­ni­ge, der vor­gibt, er wol­le po­si­tiv die Ein­stel­lung von Be­hin­der­ten fördern, kei­nen An­fech­tungs­grund hat, wenn er un­er­kannt ei­nen be­hin­der­ten Be­wer­ber als „Bes­ten“ aus­gewählt und ein­ge­stellt hat. Erklärt er nach Kennt­nis­er­lan­gung von der Be­hin­de­rung die An­fech­tung (so Düvell) we­gen Ver­schwei­gens der Be­hin­de­rung, so ist das nach § 242 BGB un­be­acht­lich. Die­se Über­le­gun­gen grei­fen auch hin­sicht­lich der von der Be­klag­ten un­ter Be­ru­fung auf die Falsch­be­ant­wor­tung der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft aus­ge­spro­che­ne außer­or­dent­li­che, hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung vom 22. Ok­to­ber 2008.

Das Be­ru­fungs­ge­richt folgt dem Ar­beits­ge­richt auch dar­in, dass die Kläge­rin kei­ne Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG (Be­ru­fungs­an­trag Zif­fer 12) be­an­spru­chen kann. Die Kläge­rin hat - wie das Ar­beits­ge­richt rich­tig fest­ge­stellt hat - zunächst die ge­setz­li­chen (Aus­schluss-)Fris­ten für die Gel­tend­ma­chung des An­spruchs gem. § 15 Abs. 2 AGG ge­wahrt. Die Kla­ge­er­wei­te­rung gemäß Schrift­satz vom 17. No­vem­ber 2008, mit der der Entschädi­gungs­an­spruch gel­tend ge­macht wur­de, ist der Be­klag­ten am 25. No­vem­ber 2008 zu­ge­stellt wor­den. Da­mit ist die Frist des § 15 Abs. 4 AGG ge­wahrt. Hier­mit ist gleich­zei­tig auch die Frist des § 61 b ArbGG ein­ge­hal­ten. Ergänzend wird in­so­weit gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf die zu­tref­fen­den Ausführun­gen des Ar­beits­ge­richts ver­wie­sen. Das Be­ru­fungs­ge­richt geht auch von der grundsätz­li­chen An­wend­bar­keit des § 15 Abs. 2 AGG aus. Ob die Aus­sch­ließlich­keits­an­ord­nung des § 2 Abs. 4 AGG un­abhängig von der Er­he­bung ei­ner Kündi­gungs­schutz­kla­ge und un­ge­ach­tet der Un­wirk­sam­keit ei­ner dis­kri­mi­nie­ren­den Kündi­gung darüber hin­aus auch den Entschädi­gungs­an­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG sperrt, ist in der Li­te­ra­tur um­strit­ten (vgl. in­so­weit die Nach­wei­se im Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 22. Ok­to­ber 2009 - 8 AZR 642/08 - NZA 2010, 280 - 283, un­ter II. 1. b) d.Gr.) . Die Aus­sch­ließlich­keits­an­ord­nung des § 2 Abs. 4 AGG würde im Übri­gen oh­ne­hin für die eben­falls als dis­kri­mi­nie­rend an­ge­grif­fe­ne An­fech­tungs­erklärung der Be­klag­ten nicht grei­fen. Ob­wohl das Bun­des­ar­beits­ge­richt in der be­reits an­geführ­ten Ent­schei­dung die An­wend­bar­keit des § 15 Abs. 2 AGG of­fen ge­las­sen hat, hat es in­so­weit je­doch dar­auf ver­wie­sen, dass sei­ne An­wen­dung je­den­falls nicht sys­tem­wid­rig er­schei­ne. Da­hin­ge­stellt las­sen möch­te das Be­ru­fungs­ge­richt auch, ob der An­spruch ver­schul­dens­un­abhängig aus­ge­stal­tet ist, wo­bei schon die sys­te­ma­ti­sche Aus­le­gung dafür spricht, weil nur in Abs. 1 des § 15 AGG über den Er­satz ma­te­ri­el­ler Schäden im Wort­laut das Ver­schul­dens­er­for­der­nis for­mu­liert ist, nicht hin­ge­gen in Abs. 2 des § 15 AGG über den Er­satz im­ma­te­ri­el­ler Schäden. Auch im Übri­gen un­ter­stellt das Be­ru­fungs­ge­richt, dass die Tat­be­stands­vor­aus­set­zun­gen des § 15 Abs. 2 AGG erfüllt sind. Je­doch er­scheint un­ter dem Blick­win­kel des Scha­dens­aus­gleichs des Wei­te­ren zu berück­sich­ti­gen, ob die Persönlich­keits­rechts­ver­let­zung be­reits durch den ma­te­ri­el­len Scha­dens­er­satz aus­ge­gli­chen wur­de. Bei der Entschädi­gungs­be­mes­sung sind wei­ter auch die Schwe­re des Ver­s­toßes so­wie Fol­gen für den Ar­beit­neh­mer und das Aus­maß des Ver­schul­dens zu

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berück­sich­ti­gen (für § 81 SGB X : BAG, Ur­teil vom 12.09.2006 - 9 AZR 807/05 - BA­GE 119, 262 = AP Nr. 13 zu § 81 SGB IX) . Da im Streit­fall ei­ne ma­te­ri­el­le Ein­buße durch Be­stands­schutz­ver­lust nicht ein­ge­tre­ten ist, ist nach Dafürhal­ten des Be­ru­fungs­ge­richts die Persönlich­keits­rechts­ver­let­zung be­reits durch den ma­te­ri­el­len Scha­dens­er­satz aus­ge­gli­chen. Des Wei­te­ren berück­sich­tigt das Be­ru­fungs­ge­richt bei der Be­mes­sung der Entschädi­gung auch das Aus­maß des Ver­schul­dens der Be­klag­ten. Es ist hier nicht von ei­nem Vor­satz­fall aus­zu­ge­hen. Viel­mehr war über Jahr­zehn­te in der Recht­spre­chung an­er­kannt, dass auch ei­ne tätig­keits­neu­tra­le Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zulässi­ger­wei­se ge­stellt wer­den kann. Das Be­ru­fungs­ge­richt geht auch des Wei­te­ren von der Rich­tig­keit der Ein­las­sung der Be­klag­ten aus, dass nämlich nicht der Um­stand dass die Kläge­rin an­er­kann­te Schwer­be­hin­der­te ist, son­dern der Um­stand dass sie ei­ne Fra­ge im Per­so­nal­fra­ge­bo­gen falsch be­ant­wor­tet hat, der Grund für die An­fech­tung und die Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ist. Wei­te­re Ver­trags­pflicht­ver­let­zun­gen der Be­klag­ten dis­kri­mi­nie­ren­der Art sind sub­stan­ti­iert nicht vor­ge­tra­gen. Die Be­klag­te hat sich auf das be­schränkt, was mit der so­for­ti­gen Be­en­di­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses durch An­fech­tungs­erklärung und außer­or­dent­li­che Kündi­gung ein­her­geht.

Die Kos­ten­ent­schei­dung bleibt dem Schlus­s­ur­teil vor­be­hal­ten.

Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on folgt aus § 72 Abs. 2 Zif­fer 1 ArbGG we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung der hier ent­schie­de­nen Rechts­fra­gen.

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