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ARBEITSRECHT AKTUELL // 15/251

Über­stun­den kann man schät­zen

Das Ge­richt kann Über­stun­den schät­zen, wenn der Ar­beit­neh­mer nicht je­de ein­zel­ne Über­stun­de be­wei­sen kann: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 25.03.2015, 5 AZR 602/13
Wanduhr

10.09.2015. Deut­sche Ar­beit­neh­mer ge­hö­ren beim The­ma Über­stun­den im EU-Ver­gleich zu den Spit­zen­rei­tern. Zwei Drit­tel al­ler Be­schäf­tig­ten sit­zen re­gel­mä­ßig län­ger als ver­ein­bart im Bü­ro.

Dem­ent­spre­chend oft kommt es zu Lohn­kla­gen, mit de­nen der kla­gen­de Ar­beit­neh­mer Be­zah­lung von Über­stun­den ver­langt, die Ar­beit­ge­ber meist be­strei­ten.

Hier hilft dem Ar­beit­neh­mer, der die Be­weis­last für sei­ne be­haup­te­ten Über­stun­den trägt, die Mög­lich­keit ei­ner ge­richt­li­chen Schät­zung, d.h. die Ar­beits­ge­rich­te kön­nen den Um­fang der strei­ti­gen Über­stun­den in be­stimm­ten Fäl­len schät­zen: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 25.03.2015, 5 AZR 602/13.

Was müssen Ar­beit­neh­mer vor­tra­gen, wenn sie Über­stun­den er­folg­reich ein­kla­gen wol­len?

Im Nor­mal­fall ist im Ar­beits- oder in ei­nem Ta­rif­ver­trag die tägli­che und/oder wöchent­li­che Ar­beits­zeit fest­ge­legt. Wer auf An­wei­sung des Ar­beit­ge­bers hin länger ar­bei­tet, leis­tet Über­stun­den. Sie sind im All­ge­mei­nen zu be­zah­len, auch wenn darüber kei­ne ver­trag­li­chen Re­ge­lun­gen ge­trof­fen wur­den, denn schließlich geht man ja zur Ar­beit, um Geld zu ver­die­nen.

Grund­la­ge für den An­spruch auf Be­zah­lung von Über­stun­den ist dann § 612 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB). Da­nach "gilt" ei­ne Vergütung als still­schwei­gend ver­ein­bart, wenn die Dienst­leis­tung den Umständen nach nur ge­gen ei­ne Vergütung zu er­war­ten ist. Ei­ne sol­che Vergütungs­er­war­tung be­steht nur in Aus­nah­mefällen nicht, so z.B. dann, wenn der Ar­beit­neh­mer sehr gut ver­dient und/oder Diens­te "höhe­rer Art" zu er­brin­gen hat und/oder wenn sein Ge­halt va­ria­ble er­folgs­abhängi­ge Be­stand­tei­le um­fasst wie z.B. Ver­kaufs­pro­vi­sio­nen.

Nor­mal­ver­die­ner können da­her in der Re­gel vom Ar­beit­ge­ber ver­lan­gen, dass ih­re Über­stun­den be­zahlt wer­den. Das führt vor Ge­richt im­mer wie­der zum Streit darüber, ob über­haupt Über­stun­den ge­leis­tet wur­den - und wenn ja, wie vie­le. Hier muss der kla­gen­de Ar­beit­neh­mer im Prin­zip für je­de ein­zel­ne Über­stun­de nach­wei­sen,

  • dass er sie ge­leis­tet hat (Da­tum? Uhr­zeit? Ar­beits­auf­ga­ben?), und
  • dass der Ar­beit­ge­ber die­se Über­stun­de an­ge­ord­net (wie? durch wel­chen Vor­ge­setz­ten?) oder zu­min­dest ge­kannt und ge­dul­det hat.

An die­sen Vor­aus­set­zun­gen schei­tern vie­le Kla­gen, d.h. der Ar­beit­ge­ber kommt oft da­mit durch, dass er jeg­li­che Mehr­ar­beit schlicht be­strei­tet.

Hier hilft dem Ar­beit­neh­mer in man­chen Fällen § 287 Zi­vil­pro­zess­ord­nung (ZPO). Nach Ab­satz 1 die­ser Vor­schrift kann das Ge­richt in Scha­dens­er­satz­pro­zes­sen den Um­fang des strei­ti­gen Scha­dens schätzen, und nach § 287 Abs.2 ZPO ist ei­ne sol­che Schätzung auch bei ver­trag­li­chen Ansprüchen aus­nahms­wei­se möglich,

"so­weit un­ter den Par­tei­en die Höhe ei­ner For­de­rung strei­tig ist und die vollständi­ge Aufklärung al­ler hierfür maßge­ben­den Umstände mit Schwie­rig­kei­ten ver­bun­den ist, die zu der Be­deu­tung des strei­ti­gen Tei­les der For­de­rung in kei­nem Verhält­nis ste­hen."

Ist da­her un­be­strit­ten, dass der Ar­beit­neh­mer Über­stun­den ge­macht hat, ist al­ler­dings strei­tig, in wel­chem Um­fang, dann kann das Ge­richt den Um­fang der strei­ti­gen Über­stun­den schätzen. Nach dem Wort­laut des Ge­set­zes ist das aber nur dann möglich, wenn der Aufklärungs­auf­wand vor Ge­richt we­gen der (ge­rin­gen) Be­deu­tung der strei­ti­gen Über­stun­den un­verhält­nismäßig wäre.

In ei­nem ak­tu­el­len Ur­teil hat sich das BAG zu­guns­ten des Ar­beit­neh­mers auf § 287 Abs.2 ZPO be­ru­fen und die Be­deu­tung die­ser Vor­schrift gestärkt: BAG, Ur­teil vom 25.03.215, 5 AZR 602/13.

Der Streit­fall: Bus­fah­rer ver­langt von Ar­beit­ge­ber die nachträgli­che Vergütung von 649,65 Über­stun­den

Im Streit­fall war ein Bus­fah­rer be­fris­tet für elf Mo­na­te bei ei­nem pri­va­ten Om­ni­bus­un­ter­neh­men tätig, und zwar für ei­nen Mo­nats­lohn von 1.800,00 EUR brut­to. Im Ar­beits­ver­trag hieß es, der Bus­fah­rer wer­de "in Voll­zeit" tätig beschäftigt. Nach Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses klag­te er Be­zah­lung von an­geb­li­chen 649,65 Über­stun­den ein, wo­bei er sei­ne "voll­zei­ti­ge" Beschäfti­gung als 40-St­un­den-Wo­che in­ter­pre­tier­te.

Das Ar­beits­ge­richt Dort­mund wies die Kla­ge ab (Ur­teil vom 18.04.2012, 5 Ca 2205/12), wo­hin­ge­gen das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Hamm ihr im­mer­hin im Um­fang von 108 Über­stun­den statt­gab (LAG Hamm, Ur­teil vom 18.04.2013, 8 Sa 1649/12).

Da­bei be­rief sich das LAG auf ei­ne (et­was un­ge­schick­te oder der zi­vil­pro­zes­sua­len Wahr­heits­pflicht ge­hor­chen­de?) Ein­las­sung des ver­klag­ten Bus­un­ter­neh­mens, dass die Ar­beits­zeit des Bus­fah­rers "al­len­falls 8,5 St­un­den pro Tag" be­tra­gen ha­be.

Dar­auf na­gel­te das LAG den Ar­beit­ge­ber fest, denn im­mer­hin lag die­ser Aus­sa­ge ei­ne kon­kre­te Be­trach­tung der tägli­chen Fahrt­tou­ren, der Rüstzei­ten usw. zu­grun­de. Dass der Ar­beit­ge­ber sie ganz zu­letzt wi­der­rief, ließ das LAG nicht gel­ten, denn die­sen Rück­zie­her hätte der Ar­beit­ge­ber mit Re­chen­feh­lern oder dgl. kon­kret be­gründen müssen.

Der Bus­fah­rer sei­ner­seits mach­te sich die Be­haup­tung von 8,5 Ar­beits­stun­den pro Tag "hilfs­wei­se zu ei­gen", d.h. er be­rief sich eben­falls dar­auf. Auf die­ser Grund­la­ge "schätz­te" das LAG den Min­dest­um­fang der Über­stun­den un­ter Be­ru­fung auf § 287 Abs.2 ZPO mit 0,5 St­un­den pro Ar­beits­tag, wor­aus sich 108 zu be­zah­len­de Über­stun­den er­rech­ne­ten.

BAG: Ge­richt darf Über­stun­den schätzen, wenn der Ar­beit­neh­mer nicht je­de ein­zel­ne Über­stun­de be­wei­sen kann

Das BAG wies die Re­vi­si­on des Bus­un­ter­neh­mens zurück und seg­ne­te auch die Be­gründung des LAG ab, wo­nach im hier im Streit­fall von ei­ner 40-St­un­den-Wo­che aus­zu­ge­hen war und 0,5 Über­stun­den pro Tag un­strei­tig blie­ben.

Die Kern­aus­sa­ge der Ent­schei­dung, die das BAG in Übe­rein­stim­mung mit älte­ren Ur­tei­len for­mu­liert, lau­tet (Ur­teil, Rand­nr.21):

"Nach die­sen Grundsätzen kommt ei­ne „Über­stun­denschätzung“ in Be­tracht, wenn auf­grund un­strei­ti­gen Par­tei­vor­brin­gens, ei­ge­nem Sach­vor­trag des Ar­beit­ge­bers oder dem vom Tatrich­ter nach § 286 Abs.1 ZPO für wahr er­ach­te­ten Sach­vor­trag des Ar­beit­neh­mers fest­steht, dass Über­stun­den ge­leis­tet wur­den, weil die dem Ar­beit­neh­mer vom Ar­beit­ge­ber zu­ge­wie­se­ne Ar­beit ge­ne­rell oder zu­min­dest im Streit­zeit­raum nicht oh­ne die Leis­tung von Über­stun­den zu er­brin­gen war. Kann in ei­nem sol­chen Fal­le der Ar­beit­neh­mer nicht je­de ein­zel­ne Über­stun­de be­le­gen (et­wa weil zeit­na­he Ar­beits­zeit­auf­schrie­be feh­len, über­haupt der Ar­beit­ge­ber das zeit­li­che Maß der Ar­beit nicht kon­trol­liert hat oder Zeu­gen nicht zur Verfügung ste­hen), kann und muss der Tatrich­ter nach pflicht­gemäßen Er­mes­sen das Min­dest­maß ge­leis­te­ter Über­stun­den schätzen, so­fern dafür aus­rei­chen­de An­knüpfungs­tat­sa­chen vor­lie­gen. Je­den­falls ist es nicht ge­recht­fer­tigt, dem auf­grund des vom Ar­beit­ge­ber zu­ge­wie­se­nen Um­fangs der Ar­beit im Grund­satz be­rech­tig­ten Ar­beit­neh­mer je­de Über­stun­den­vergütung zu ver­sa­gen (vgl. BAG 21. Mai 1980 - 5 AZR 194/78 - zu 4 a der Gründe; BGH 17. De­zem­ber 2014 - VIII ZR 88/13 - Rn. 46)."

Und da hier im Streit­fall die Leis­tung von min­des­tens 8,5 Ar­beits­stun­den auf­grund der Ein­las­sung des Ar­beit­ge­bers un­strei­tig war, war die vom LAG vor­ge­nom­me­ne Schätzung von 0,5 Über­stun­den pro Tag in Ord­nung, so das BAG.

Kri­tisch ist an­zu­mer­ken, dass es im vor­lie­gen­den Fall gar nichts zu "schätzen" gab, weil der Ar­beit­ge­ber die Ab­leis­tung von 8,5 Ar­beits­stun­den pro Tag zu­ge­stan­den hat­te. In die­sem Um­fang war nämlich das Vor­brin­gen des Ar­beit­neh­mers, er ha­be ständig er­heb­lich länger als 8 St­un­den pro Tag ge­ar­bei­tet, nicht be­strit­ten wor­den und da­mit als un­strei­tig an­zu­se­hen (§ 138 Abs.3 ZPO). Im Er­geb­nis war die Be­ru­fung des LAG Hamm und des BAG auf § 287 Abs.2 ZPO überflüssig, d.h. auf die­se ZPO-Vor­schrift kam es letzt­lich gar nicht an.

Fa­zit: Ob­wohl die Aus­sa­gen des BAG zu § 287 Abs.2 ZPO für den Streit­fall ge­nau ge­nom­men un­er­heb­lich sind, sind sie ein Si­gnal für die Ar­beits­ge­rich­te, bei der Schätzung von Über­stun­den großzügi­ger zu ver­fah­ren als es dem Wort­laut der Vor­schrift ent­spricht. Denn laut BAG kann be­reits dann ei­ne Schätzung vor­ge­nom­men wer­den, wenn "fest­steht, dass Über­stun­den ge­leis­tet wur­den", z.B. weil die Ar­beits­men­ge in der re­gulären Ar­beits­zeit nicht zu bewälti­gen ist.

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Letzte Überarbeitung: 15. Juli 2020

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