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VG Düs­sel­dorf, Ur­teil vom 15.12.2010, 31 K 3904/10.O

   
Schlagworte: Beamter, Streik
   
Gericht: Verwaltungsgericht Düsseldorf
Aktenzeichen: 31 K 3904/10.O
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 15.12.2010
   
Leitsätze:

1. Auch nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bleibt es dabei, dass in Deutschland Beamte nicht streiken dürfen. Tun sie dies gleichwohl (hier: Lehrerin), so begehen sie ein Dienstvergehen, das die Einleitung eines Disziplinarverfahrens nach sich zieht.

2. Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme (hier: Geldbuße) wegen der Streikteilnahme ist indessen unzulässig, wenn der Beamte nicht zu dem in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK beschriebenen Kernbereich hoheitlicher Staatsverwaltung gehört. In derartigen Fällen ist das Disziplinarverfahren vielmehr einzustellen, da nur so der EMRK Rechnung getragen werden kann (völkerrechtsfreundliche Auslegung).

Vorinstanzen:
   

Ver­wal­tungs­ge­richt Düssel­dorf, 31 K 3904/10.O

 

Te­nor:

Die Dis­zi­pli­nar­verfügung des Be­klag­ten vom 10. Mai 2010 wird auf­ge­ho­ben.

Der Be­klag­te trägt die Kos­ten des Ver­fah­rens. Die Be­ru­fung wird zu­ge­las­sen.

 

Die 1965 ge­bo­re­ne Kläge­rin steht als Leh­re­rin (Bes­Gr A12) im Schul­dienst des be­klag­ten Lan­des. Seit Sep­tem­ber 2002 ist sie Be­am­tin auf Le­bens­zeit. Straf­recht­lich und dis­zi­pli­nar ist sie bis­her nicht in Er­schei­nung ge­tre­ten.

Mit Verfügung vom 10. Au­gust 2009 lei­te­te der Be­klag­te ge­gen die Kläge­rin ein Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren ein. An­lass war die Teil­nah­me der Kläge­rin an Warn­streiks am 28. Ja­nu­ar so­wie 5. und 10. Fe­bru­ar 2009. Nach Anhörung der Kläge­rin und Be­tei­li­gung der Gleich­stel­lungs­be­auf­trag­ten er­ließ der Be­klag­te am 10. Mai 2010 ei­nen Dis­zi­pli­nar­verfügung, mit der er der Kläge­rin ei­ne Geld­buße in Höhe von 1.500,- Eu­ro auf­er­leg­te. Die Dis­zi­pli­nar­verfügung wur­de der Kläge­rin am 17. Mai 2010 zu­ge­stellt.

Am 17. Ju­ni 2010 hat die Kläge­rin Kla­ge er­ho­ben. 

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Die Kläge­rin ist der Auf­fas­sung, ihr ste­he ein Streik­recht zu. Dies er­ge­be sich aus Art. 11 der Eu­ropäischen Men­schen­rechts-Kon­ven­ti­on (EM­RK). Das dort nor­mier­te Streik­recht gel­te auch für Be­am­te; es sei nicht auf Streiks be­schränkt, die auf den Ab­schluss ei­nes Ta­rif­ver­tra­ges ab­ziel­ten, son­dern dürfe auch für Streiks mit dem Ziel ei­ner Ände­rung von Vor­schrif­ten über die Be­am­ten­be­sol­dung in An­spruch ge­nom­men wer­den.

Aus­ge­schlos­sen sei le­dig­lich ein po­li­ti­scher Streik. Zu­dem er­ge­be sich das Streik­recht auch aus Art. 9 Abs. 3 GG bei der ge­bo­te­nen völker­rechts­freund­li­chen Aus­le­gung und Abwägung mit Art. 33 Abs. 5 GG.

Die Kläge­rin be­an­tragt, 

die Dis­zi­pli­nar­verfügung des Be­klag­ten vom 10. Mai 2010 auf­zu­he­ben.

Der Be­klag­te be­an­tragt, 

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

We­gen des wei­te­ren Sach- und Streit­stan­des wird auf die Ge­richts­ak­te und die bei­ge­zo­ge­nen Per­so­nal­ak­ten und Dis­zi­pli­nar­vorgänge des Be­klag­ten Be­zug ge­nom­men.

Ent­schei­dungs­gründe

Die Kla­ge hat Er­folg. Sie ist zulässig und be­gründet. Die Dis­zi­pli­nar­verfügung vom 10. Mai 2010, mit der ge­gen die Kläge­rin ei­ne Geld­buße (§ 7 LDG NRW) in Höhe von 1.500,- Eu­ro verhängt wur­de, ist rechts­wid­rig und ver­letzt die Kläge­rin in ih­ren Rech­ten (§ 3 Abs. 1 LDG NRW, § 113 Abs. 1 Satz 1 Vw­GO).

1. Die Kläge­rin hat al­ler­dings ein ein­heit­li­ches Dienst­ver­ge­hen (§ 47 Abs. 1 Be­am­tStG, ehe­mals § 83 Abs. 1 LBG NRW a.F.) da­durch be­gan­gen, dass sie an drei Ta­gen - am 28. Ja­nu­ar so­wie 5. und 10. Fe­bru­ar 2009 - während der Dienst­zeit vorsätz­lich an Warn­streiks teil­ge­nom­men und da­bei den Dienst versäumt hat. Da­mit hat sie schuld­haft ge­gen ih­re Dienst­leis­tungs­pflicht ver­s­toßen. Die Dienst­leis­tungs­pflicht ist die zen­tra­le Pflicht des Be­am­ten. Er darf gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 (ehe­mals § 79 Abs. 1 Satz 1) LBG NRW nicht oh­ne Ge­neh­mi­gung sei­nes Dienst­vor­ge­setz­ten dem Dienst fern­blei­ben.

2. Die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Be­am­ten bil­det we­der ei­nen Recht­fer­ti­gungs- noch ei­nen Ent­schul­di­gungs­grund für das Ver­hal­ten der Kläge­rin.

a) Die Gewähr­leis­tung der Ko­ali­ti­ons­frei­heit im na­tio­na­len Recht (Art. 9 Abs. 3 GG) 1vermittelt Be­am­ten kein Streik­recht; denn Ar­beitskämp­fe set­zen ein ta­rif­ver­trag­lich re­gel­ba­res Ziel vor­aus. Die Bezüge von Be­am­ten wer­den aber nicht durch Ta­rif­ver­trag, son­dern durch Ge­setz fest­ge­legt. Be­am­te sind nach den her­ge­brach­ten Grundsätzen des Be­rufs­be­am­ten­tums (Art. 33 Abs. 5 GG) nicht be­fugt, zur Förde­rung ge­mein­sa­mer Be­rufs­in­ter­es­sen kol­lek­ti­ve Kampf­maßnah­men zu er­grei­fen. Die Zu­las­sung ei­nes Streiks ist ver­fas­sungs­recht­lich aus­ge­schlos­sen.

Vgl. BVerfG, Be­schluss vom 11. Ju­ni 1958 - 1 BvR 1/52, 46/52 -, BVerfGE 8, 1, 17; Be­schluss vom 30. März 1977 - 2 BvR 1039, 1045/75 -, BVerfGE 44, 249, 264; BVerwG, Ur­teil v. 3. De­zem­ber 1980 - 1 D 86.79 -, BVerw­GE 73, 97, 102; Ur­teil vom 10. Mai 1984 - 2 C 18.82 -, BVerw­GE 69, 208, 212 f.; Ur­teil vom 23. Fe­bru­ar 1994 - 1 D 48.92 -, Dok­Ber B 1994, 231; an­ders für "in­sich-be­ur­laub­te" Be­am­te Ur­teil vom 7. Ju­ni 2000 - 1 D 4.99 -, BVerw­GE 111, 231, 234.

Dar­an ändert sich auch nichts mit Blick auf das eu­ropäische Recht. 

Die Ver­ei­ni­gungs­frei­heit ist eu­ro­pa­recht­lich in Art. 11 EM­RK gewähr­leis­tet. Die­ses 

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Men­schen­recht um­fasst zwar auch die Be­fug­nis zu Kol­lek­tiv­ver­hand­lun­gen und zum Streik. Für den öffent­li­chen Dienst darf es nur sol­chen Ein­schränkun­gen un­ter­wor­fen wer­den, die mit Art. 11 Abs. 2 EM­RK ver­ein­bar sind. Der­ar­ti­ge Ein­schränkun­gen dürfen be­stimm­te Be­am­ten­ka­te­go­ri­en er­fas­sen, sich aber nicht auf Be­am­te im All­ge­mei­nen er­stre­cken. Die ge­setz­li­chen Ein­schränkun­gen des Streik­rechts müssen so klar und eng wie möglich die Ka­te­go­ri­en der be­trof­fe­nen Be­am­ten fest­le­gen.

Vgl. Eu­ropäischer Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR), Ent­schei­dun­gen vom 12. No­vem­ber 2008 - Nr. 34503/97 -, De­mir und Bay­ka­ra, und vom 21. April 2009 - Nr. 68959/01 -, En­er­ji Ya­pi-Yol Sen, AuR 2009, 269 und 274; NVwZ 2010, 1018 (L).

An die­sen An­for­de­run­gen ge­mes­sen dürf­te das deut­sche Be­am­ten­recht eu­ro­pa­rechts­wid­rig sein. Denn es schließt Streiks von Be­am­ten ge­ne­rell aus, oh­ne ei­ne Un­ter­schei­dung nach be­stimm­ten Ka­te­go­ri­en von Be­am­ten vor­zu­neh­men.

Die (mut­maßli­che) Eu­ro­pa­rechts­wid­rig­keit des na­tio­na­len Rechts ändert aber nichts dar­an, dass die­ses Recht wei­ter­hin gültig ist. Es lässt sich nicht im We­ge völker­rechts­freund­li­cher Aus­le­gung be­am­ten­recht­li­cher Vor­schrif­ten an die EM­RK an­pas­sen. Denn da die her­ge­brach­ten Grundsätze des Be­rufs­be­am­ten­tums ent­ge­gen­ste­hen, wären da­mit die Gren­zen der Aus­le­gung über­schrit­ten. Soll­te der Ver­s­toß ge­gen die EM­RK durch die zuständi­gen Über­wa­chungs­or­ga­ne auf­ge­grif­fen wer­den, könn­te dies da­zu führen, dass die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land we­gen Ver­let­zung der Kon­ven­ti­on ver­ur­teilt wird. Dies gibt dem ein­zel­nen Be­am­ten aber nicht das Recht, sich über die be­ste­hen­den Re­ge­lun­gen hin­weg­zu­set­zen. Viel­mehr ist es Auf­ga­be des ver­fas­sungsändern­den Ge­setz­ge­bers, ei­nen mit Art. 11 EM­RK ver­ein­ba­ren Rechts­zu­stand im deut­schen Be­am­ten­recht her­bei­zuführen.

Vgl. A. Sei­fert, KritV 2009, 357, 375 f. 

b) Die Kläge­rin han­del­te auch schuld­haft. Sie durf­te sich bei der Teil­nah­me an den Warn­streiks nicht von der Vor­stel­lung lei­ten las­sen, sie sei eu­ro­pa­recht­lich zum Streik be­fugt. Ihr muss­te klar sein, dass Streiks von Be­am­ten nach gel­ten­dem Recht nicht zulässig sind. Ent­spre­chend ist sie in Ein­zel­gesprächen mit der Schul­lei­te­rin und der Kon­rek­to­rin am 23. und 26. Ja­nu­ar 2009 be­lehrt wor­den. Auf ver­ein­zelt im Schrift­tum ver­tre­te­ne Ge­gen­mei­nun­gen durf­te sie sich nicht ver­las­sen. Viel­mehr hätte sie sich, wenn sie ih­rem Ver­hal­ten ei­ne sol­che ab­wei­chen­de Rechts­auf­fas­sung zu­grun­de le­gen woll­te, vor­her er­kun­di­gen müssen, ob die­ser Rechts­stand­punkt von den letzt­in­stanz­lich zuständi­gen Ge­rich­ten ge­teilt wird. Bei ei­ner un­vor­ein­ge­nom­me­nen, fach­lich fun­dier­ten Be­ra­tung wäre ihr die Aus­kunft er­teilt wor­den, dass dies nicht der Fall ist.

3. Der Be­klag­te durf­te auf das Dienst­ver­ge­hen der Kläge­rin aber nicht mit dem Er­lass ei­ner Dis­zi­pli­nar­verfügung re­agie­ren. Er war dar­an durch die EM­RK und die zu ihr er­gan­ge­ne Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs für Men­schen­rech­te (EGMR) ge­hin­dert.

a) Der EGMR hat in jünge­rer Zeit mehr­fach aus­ge­spro­chen, dass Ver­trags­staa­ten kon­ven­ti­ons­wid­rig han­deln, wenn sie an die Teil­nah­me ei­nes Be­am­ten an ei­nem Streik ei­ne Sank­ti­on knüpfen. Denn nicht nur das abs­trak­te - in Deutsch­land nach dem oben Aus­geführ­ten wei­ter­hin gülti­ge und zu be­ach­ten­de - Streik­ver­bot greift in das Men­schen­recht des Be­am­ten aus Art. 11 EM­RK ein, son­dern auch die Sank­tio­nie­rung der Streik­teil­nah­me im Ein­zel­fall. Für die­sen Ein­griff fehl­te es in den vom EGMR ent­schie­de­nen Fällen an ei­ner Recht­fer­ti­gung, da er nicht - wie es Art. 11 Abs. 2 EM­RK for­dert - "in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig" (néces­sai­re dans une so­ciété de­mo­cra­tique) war.

So die Ent­schei­dun­gen des EGMR vom 27. März 2007 - Nr. 6615/03 -, Ka­ra­cay; 15. 

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Sep­tem­ber 2009 - Nr. 30946/04 -, Ka­ya und Sey­han; 13. Ju­li 2010 - Nr. 33322/07 -, Ce­ri­kci, je­weils in französi­scher Spra­che auf der Home­page des EGMR veröffent­licht.

Ei­ne un­ter dem Blick­win­kel des Art. 11 Abs. 2 EM­RK aus­rei­chen­de Recht­fer­ti­gung der Dis­zi­pli­nie­rung strei­ken­der Leh­rer ist auch im gel­ten­den Recht der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land nicht ge­ge­ben. Denn nicht an­ders als das abs­trakt-ge­ne­rel­le Streik­ver­bot (vgl. oben 2a) ist auch die kon­kret-in­di­vi­du­el­le Dis­zi­pli­nar­maßnah­me im Ein­zel­fall "in ei­ner de­mo­kra­ti­schen Ge­sell­schaft not­wen­dig" nur dann, wenn sie sich auf ge­setz­li­che Ein­schränkun­gen des Streik­rechts stützen kann, die so klar und eng wie möglich die Ka­te­go­ri­en der be­trof­fe­nen Be­am­ten fest­le­gen. Das ist im deut­schen Recht nicht der Fall. Der Ge­setz­ge­ber hat es auch nach den Ent­schei­dun­gen des EGMR bei dem all­ge­mei­nen ver­fas­sungs­recht­li­chen Ver­bot des Be­am­ten­streiks be­wen­den las­sen, oh­ne nach den Funk­tio­nen der Be­am­ten zu dif­fe­ren­zie­ren, ins­be­son­de­re ei­ne Be­gren­zung auf die Ausübung ho­heit­li­cher Be­fug­nis­se im en­ge­ren Sin­ne vor­zu­neh­men.

In die­sem Zu­sam­men­hang kann of­fen blei­ben, ob ei­ne aus­rei­chen­de Ein­schränkung be­reits in der Zu­gehörig­keit des Be­am­ten zu ei­ner der in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EM­RK ge­nann­ten Grup­pen von Staats­be­diens­te­ten (Streit­kräfte, Po­li­zei, Staats­ver­wal­tung) lie­gen kann, oh­ne dass es ei­ner aus­drück­li­chen Re­ge­lung im na­tio­na­len Recht bedürf­te. Denn Leh­rer gehören nicht zu die­sen Grup­pen, ins­be­son­de­re nicht zur "Staats­ver­wal­tung" im Verständ­nis der EM­RK.

Vgl. EGMR, Ent­schei­dung vom 8. De­zem­ber 1999 - Nr. 28541/95 -, Pel­le­grin, NVwZ 2000, 661, 663, mit Hin­weis auf ei­ne Mit­tei­lung der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on vom 18. März 1988; da­zu mit Blick auf Leh­rer: Lörcher, AuR 2009, 229, 241.

Da­nach ver­stieß die hier an­ge­foch­te­ne Dis­zi­pli­nar­verfügung ge­gen die EM­RK. Denn die Warn­streiks, an de­nen die Kläge­rin teil­nahm, sind von dem durch den EGMR an­er­kann­ten Streik­recht er­fasst. Den Ent­schei­dun­gen des EGMR las­sen sich kei­ne Ein­schränkun­gen in die­ser Hin­sicht ent­neh­men. Es hat da­her bei dem all­ge­mei­nen, seit lan­gem durch das Bun­des­ar­beits­ge­richt an­er­kann­ten Grund­satz zu ver­blei­ben, dass zu den zulässi­gen Streiks auch Warn­streiks gehören.

Vgl. BAG, Ur­teil vom 17. De­zem­ber 1976 - 1 AZR 605/75 -, BA­GE 28, 295 = AP Nr. 51 zu 30 Art. 9 GG Ar­beits­kampf; Ur­teil vom 21. Ju­ni 1988 - 1 AZR 651/86 -, BA­GE 58, 364 = AP Nr. 108 zu Art. 9 GG Ar­beits­kampf.

Auch für ei­ne sons­ti­ge Un­zulässig­keit der Streiks ist un­ter dem Blick­win­kel der EM­RK nichts er­sicht­lich. Sie wa­ren ins­be­son­de­re nicht un­verhält­nismäßig.

Vgl. zum Grund­satz der Verhält­nismäßig­keit im Ar­beits­kampf­recht grund­le­gend: BAG 32 (GS), Be­schluss vom 21. April 1971 - GS 1/68 -, BA­GE 23, 292 = AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Ar­beits­kampf.

b) Die Ent­schei­dun­gen des EGMR sind zwar nicht un­mit­tel­bar ver­bind­lich, zu­mal sie nicht ge­gen die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­gan­gen sind. Es ent­spricht aber der Völker­rechts­freund­lich­keit des Grund­ge­set­zes, dass die Ge­rich­te im Rah­men ih­rer Bin­dung an Ge­setz und Recht auch die Gewähr­leis­tun­gen der EM­RK und die Ent­schei­dun­gen des EGMR zu berück­sich­ti­gen ha­ben. Dies hat in me­tho­disch ver­tret­ba­rer Ge­set­zes­aus­le­gung zu ge­sche­hen. Liegt der Kon­ven­ti­ons­ver­s­toß in dem Er­lass ei­nes be­stimm­ten Ver­wal­tungs­akts, so hat die zuständi­ge Behörde die Möglich­keit, die­sen schon nicht zu er­las­sen oder - falls dies be­reits ge­sche­hen ist - wie­der auf­zu­he­ben. Ei­ne kon­ven­ti­ons­wid­ri­ge Ver­wal­tungs­pra­xis kann geändert wer­den; die Pflicht da­zu können Ge­rich­te fest­stel­len.

Vgl. BVerfG, Be­schluss vom 14. Ok­to­ber 2004 - 2 BvR 1481/04 -, BVerfGE 111, 307, 34

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323ff. - Görgülü.

Der Auf­fas­sung des EGMR, dass ei­ne dis­zi­pli­na­re Re­ak­ti­on auf ei­nen Be­am­ten­streik die EM­RK ver­letzt, hätte der Be­klag­te Rech­nung tra­gen können und müssen. Zwar war er nach § 17 Abs. 1 LDG NRW ge­hal­ten, ein Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren ein­zu­lei­ten; denn die Kläge­rin hat­te ein Dienst­ver­ge­hen be­gan­gen. Ei­ner Dis­zi­pli­nar­maßnah­me stan­den auch die §§ 14 und 15 LDG NRW nicht ent­ge­gen (§ 17 Abs. 2 LDG NRW). Das Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren hätte aber nicht zum Er­lass der Dis­zi­pli­nar­verfügung führen dürfen, son­dern nach § 33 Abs. 1 Nr. 4 LDG NRW ein­ge­stellt wer­den müssen. Über die­se Vor­schrift hätte nach ih­rem Wort­laut der Auf­fas­sung des EGMR zwang­los Rech­nung ge­tra­gen wer­den können: Ei­ne Dis­zi­pli­nar­maßnah­me war "aus sons­ti­gen Gründen", nämlich we­gen Ver­s­toßes ge­gen die EM­RK, un­zulässig.

4. Die Dis­zi­pli­nar­kam­mer teilt nicht die in der münd­li­chen Ver­hand­lung geäußer­te Befürch­tung des Be­klag­ten, die Un­zulässig­keit der dis­zi­pli­na­ri­schen Ahn­dung von Verstößen ge­gen das Streik­ver­bot wer­de da­zu führen, dass Be­am­te, ins­be­son­de­re Leh­rer, künf­tig in er­heb­li­chem Um­fang an Streik­maßnah­men teil­neh­men und da­durch die Funk­ti­onsfähig­keit des öffent­li­chen Diens­tes gefähr­den. Zum ei­nen be­deu­tet die Ver­pflich­tung zur Berück­sich­ti­gung der Recht­spre­chung des EGMR im Rah­men des § 33 Abs. 1 Nr. 4 LDG NRW nicht, dass ei­ne Streik­teil­nah­me fol­gen­los bleibt. Denn ab­ge­se­hen von der mögli­chen be­am­ten­recht­li­chen Rechts­fol­ge des Ver­lus­tes von Dienst­bezügen (vgl. § 62 Abs. 2 LBG NRW, § 9 BBesG), über die in die­sem Ver­fah­ren nicht zu be­fin­den war, muss ein Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet wer­den, das - et­wa bei Un­verhält­nismäßig­keit des Streiks - nicht zwangsläufig mit der Ein­stel­lung en­det. Zum an­de­ren sind Be­am­te in be­son­de­rer Wei­se ver­pflich­tet, Ver­fas­sung und Ge­set­ze zu be­fol­gen (vgl. § 46 Abs. 1 LBG NRW), un­abhängig da­von, ob die Nicht­be­fol­gung sank­ti­ons­be­wehrt ist. Da­her muss da­von aus­ge­gan­gen wer­den, dass sie das ver­fas­sungs­recht­li­che Streik­ver­bot auch dann be­ach­ten, wenn ein Ver­s­toß kei­ne Dis­zi­pli­nar­maßnah­me nach sich zieht. Wel­che recht­li­chen Kon­se­quen­zen sich ergäben, wenn die­se An­nah­me durch die künf­ti­ge Ent­wick­lung wi­der­legt wer­den soll­te, be­darf hier kei­ner Ent­schei­dung. Of­fen blei­ben konn­te auch, wie zu ent­schei­den ge­we­sen wäre, wenn die Kläge­rin nicht Leh­re­rin, son­dern An­gehöri­ge ei­ner der in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EM­RK ge­nann­ten Grup­pen von Be­am­ten ge­we­sen wäre (vgl. oben 3a).

Die Kos­ten­ent­schei­dung be­ruht auf § 74 Abs. 1 LDG NRW i.V.m. § 154 Abs. 1 Vw­GO. 

Die Zu­las­sung der Be­ru­fung ist nach § 64 Abs. 2 Satz 2 LDG NRW i.V.m. §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 Vw­GO er­folgt. Die Fra­ge der dis­zi­pli­na­ren Ahn­dung der Teil­nah­me ei­nes Be­am­ten an ei­nem Streik nach den ein­schlägi­gen Ent­schei­dun­gen des EGMR hat grundsätz­li­che Be­deu­tung.

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