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ARBEITSRECHT AKTUELL // 15/098

Be­vor­zu­gung von Ge­werk­schafts­mit­glie­dern durch Stich­tags­re­ge­lun­gen

BAG: Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­der dür­fen per Ta­rif­so­zi­al­plan hö­he­re Ab­fin­dun­gen er­hal­ten: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 15.04.2015, 4 AZR 796/13
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20.04.2015. Hin und wie­der sor­gen ta­rif­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen für Streit, mit de­nen die Ge­werk­schaf­ten den Ver­such un­ter­neh­men, be­stimm­te Ver­güns­ti­gen al­lein ih­ren Mit­glie­dern zu­kom­men zu las­sen.

Sol­che ta­rif­li­chen Re­ge­lun­gen, die zwi­schen Ge­werk­schafts­mit­glie­dern und Nicht-Ge­werk­schafts­mit­glie­dern un­ter­schei­den, nennt man Dif­fe­ren­zie­rungs­klau­seln. Sie sind im All­ge­mei­nen zu­läs­sig, d.h. so­lan­ge sie dem Ar­beit­ge­ber nicht ver­bie­ten, Au­ßen­sei­ter eben­falls frei­wil­lig von der ta­rif­li­chen Leis­tung pro­fi­tie­ren zu las­sen.

In ei­nem ak­tu­el­len Fall hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) ent­schie­den, dass Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­der dür­fen per Ta­rif­so­zi­al­plan hö­he­re Ab­fin­dun­gen er­hal­ten dür­fen als Ar­beit­neh­mer, die nach ei­nem be­stimm­ten Stich­tag der Ge­werk­schaft bei­ge­tre­ten sind: BAG, Ur­teil vom 15.04.2015, 4 AZR 796/13 (Pres­se­mel­dung des Ge­richts).

Höhe­re Ab­fin­dun­gen für Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­der in Ta­rif­so­zi­alplänen?

Kommt es in größeren Un­ter­neh­men zu Be­triebs­sch­ließun­gen oder Ent­las­sungs­wel­len, d.h. zu Be­triebsände­run­gen mit mas­si­vem Ar­beits­platz­ab­bau, über­las­sen die Ge­werk­schaf­ten die Ver­ein­ba­rung von So­zi­alplänen oft nicht al­lein dem Be­triebs­rat des be­trof­fe­nen Be­triebs, son­dern ver­han­deln selbst mit dem Un­ter­neh­men, und zwar über ei­nen sog. Ta­rif­so­zi­al­plan.

Ein Ta­rif­so­zi­al­plan ist ein nor­ma­ler (Haus-)Ta­rif­ver­trag, der al­ler­dings von sei­nem In­halt her Ab­fin­dun­gen und ähn­li­che Leis­tun­gen vor­sieht, wie sie für So­zi­alpläne ty­pisch sind. Ist der Ta­rif­so­zi­al­plan in tro­cke­nen Tüchern, wird er durch Be­triebs­rat und Ar­beit­ge­ber nach­ge­zeich­net, d.h. es wird ein in­halts­glei­cher (ech­ter) So­zi­al­plan ver­ein­bart.

Der Vor­teil die­ses Vor­ge­hens aus Ar­beit­neh­mer- bzw. Ge­werk­schafts­sicht be­steht dar­in, dass hin­ter Ver­hand­lun­gen über ei­nen Ta­rif­so­zi­al­plan ein größerer Druck steht als hin­ter rei­nen So­zi­al­plan­ver­hand­lun­gen. Denn da ein Ta­rif­so­zi­al­plan ein Ta­rif­ver­trag ist, darf man dafür strei­ken (Ar­beits­recht ak­tu­ell: 07/06 Bun­des­ar­beits­ge­richt er­laubt Streiks um Ta­rif­so­zi­alpläne).

Weil Ta­rif­so­zi­alpläne von Ge­werk­schaf­ten ge­macht wer­den, stellt sich die Fra­ge, ob Ge­werk­schafts­mit­glie­der durch Ta­rif­so­zi­alpläne bes­ser ge­stellt wer­den können als an­de­re Ar­beit­neh­mer. Ei­ne sol­che Pri­vi­le­gie­rung in So­zi­alplänen wäre ein Ver­s­toß ge­gen den Gleich­be­hand­lungs­grund­satz und da­her un­zulässig, doch sind Ta­rif­so­zi­alpläne eben kei­ne So­zi­alpläne, son­dern Ta­rif­verträge, wenn auch mit so­zi­al­planmäßigen In­hal­ten.

Zum The­ma Bes­ser­stel­lung von Ge­werk­schafts­mit­glie­dern in Ta­rif­verträgen gibt die Recht­spre­chung des BAG fol­gen­de Eck­punk­te vor:

Vor die­sem Hin­ter­grund spricht auf den ers­ten Blick we­nig da­ge­gen, dass ein Ta­rif­so­zi­al­plan be­stimm­te Son­der­leis­tun­gen in Form ei­ner ein­fa­chen Dif­fe­ren­zie­rungs­klau­sel Ge­werk­schafts­mit­glie­dern vor­behält, d.h. von der Ge­werk­schafts­mit­glied­schaft abhängig macht.

Al­ler­dings fällt es dem Ar­beit­ge­ber in ei­ner wirt­schaft­lich an­ge­spann­ten La­ge, wie sie für Ta­rif­so­zi­alpläne ty­pisch ist, in der Re­gel schwer, von sei­ner recht­li­chen Frei­heit Ge­brauch zu ma­chen, Ta­rif­leis­tun­gen frei­wil­lig an Außen­sei­ter zu zah­len. Da­her üben ein­fa­che Dif­fe­ren­zie­rungs­klau­sel in Ta­rif­so­zi­alplänen ei­nen stärke­ren Druck auf Außen­sei­ter aus, der Ge­werk­schaft bei­zu­tre­ten, um die Ta­rif­leis­tung zu er­hal­ten. Und ein sol­cher Druck ist recht­lich be­denk­lich, da er die sog. ne­ga­ti­ve Ko­ali­ti­ons­frei­heit be­ein­träch­tigt, d.h. die Frei­heit, ei­ner Ge­werk­schaft fern­zu­blei­ben (Art.9 Abs.3 Grund­ge­setz - GG).

Kann man die­ses ju­ris­ti­sche Pro­blem um­ge­hen, in­dem man Son­der­leis­tun­gen ei­nes Ta­rif­so­zi­al­plans nicht von der Ge­werk­schafts­mit­glied­schaft abhängig macht, son­dern von der Mit­glied­schaft an ei­nem be­stimm­ten, in der Ver­gan­gen­heit lie­gen­den Stich­tag? Ja, so das BAG in der hier be­spro­che­nen Ent­schei­dung.

Im Streit: Erhöhte Ab­fin­dung und bes­se­res Trans­fer­ge­halt für Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­der

Ein ta­rif­ge­bun­de­ner Ar­beit­ge­ber plan­te An­fang 2012 ei­ne Be­triebs­sch­ließung in München, rück­te von die­sem Vor­ha­ben aber nach Ver­hand­lun­gen mit dem Be­triebs­rat und der IG Me­tall ab. Ge­werk­schaft und Ar­beit­ge­ber ei­nig­ten sich An­fang April 2012 auf ei­nen Per­so­nal­ab­bau bei gleich­zei­ti­ger Stand­ort­si­che­rung.

Kon­kret wa­ren in ei­nem „Trans­fer- und So­zi­al­ta­rif­ver­trag“ Ab­fin­dun­gen und Lohn­zah­lun­gen in be­stimm­ter Min­desthöhe durch ei­ne Trans­fer­ge­sell­schaft für die­je­ni­gen Ar­beit­neh­mer vor­ge­se­hen, die durch drei­sei­ti­gen Ver­trag ihr bis­he­ri­ges Ar­beits­verhält­nis zu­guns­ten ei­nes Trans­fer­ar­beits­verhält­nis­ses mit der Trans­fer­ge­sell­schaft auf­ge­ben würden. Die­se Re­ge­lun­gen wur­den am Tag der Ver­ein­ba­rung des Ta­rif­ver­trags durch ei­ne Ver­ein­ba­rung zwi­schen Ar­beit­ge­ber und Be­triebs­rat über­nom­men.

Von der Möglich­keit des Wech­sels zu der Trans­fer­ge­sell­schaft mit Ab­fin­dungs­zah­lung mach­te ei­ne langjährig beschäftig­te Ar­beit­neh­me­rin Ge­brauch, die al­ler­dings erst nach Ab­schluss der o.g. Ver­ein­ba­run­gen der IG Me­tall bei­trat, nämlich im Ju­li 2012, und auch bald (im Ja­nu­ar 2013) wie­der aus­trat. Der späte Ge­werk­schafts­bei­tritt hat­te hand­fes­te fi­nan­zi­el­le Aus­wir­kun­gen. Denn wenn die Ar­beit­neh­me­rin schon am 23.03.2012 Mit­glied der IG Me­tall ge­we­sen wäre, hätte sie nach ei­nem ergänzen­den Ta­rif­ver­trag ei­ne wei­te­re Ab­fin­dung von 10.000,00 EUR so­wie ein höhe­res Ge­halt bei der Trans­fer­ge­sell­schaft be­an­spru­chen können.

Die­se bei­den Leis­tun­gen, d.h. die wei­te­re Ab­fin­dung und das höhe­re Trans­fer­ge­halt, klag­te sie ge­gen ih­ren ehe­ma­li­gen Ar­beit­ge­ber und die Trans­fer­ge­sell­schaft ein. Das Ar­beits­ge­richt München (Ur­teil vom 22.01.2013, 25 Ca 8656/12) und das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) München wie­sen die Kla­ge ab (Ur­teil vom 25.07.2013, 4 Sa 166/13).

BAG: Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­der dürfen per Ta­rif­so­zi­al­plan höhe­re Ab­fin­dun­gen er­hal­ten

Auch in Er­furt hat­te die kla­gen­de Ar­beit­neh­me­rin kein Glück, die da­mit ih­re Kla­ge in al­len drei In­stan­zen ver­lor. In der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mel­dung des BAG heißt es zur Be­gründung:

Ein Haus­ta­rif­ver­trag mit ei­nem so­zi­al­planähn­li­chen In­halt kann Son­der­leis­tun­gen für Ge­werk­schafts­mit­glie­der vor­se­hen, auf die nur die­je­ni­gen Mit­glie­der An­spruch ha­ben, die zu ei­nem be­stimm­ten Stich­tag bzw. vor der ta­rif­li­chen Ei­ni­gung der Ge­werk­schaft be­reits bei­ge­tre­ten wa­ren, so die Er­fur­ter Rich­ter.

Nach An­sicht des BAG stell­ten sich hier gar kei­ne ju­ris­ti­schen Fra­gen im Zu­sam­men­hang mit Dif­fe­ren­zie­rungs­klau­seln, da die um­strit­te­ne Stich­tags­re­ge­lung des Ergänzungs­ta­rif­ver­trags nicht zwi­schen Ge­werk­schafts­mit­glie­dern und Nicht-Ge­werk­schafts­mit­glie­dern (Außen­sei­tern) dif­fe­ren­zier­te, son­dern zwi­schen Alt-Ge­werk­schafts­mit­glie­dern und später ein­ge­tre­te­nen Ge­werk­schafts­mit­glie­dern. Ei­ne sol­che ta­rif­li­che Ge­stal­tung ist recht­lich in Ord­nung, so das BAG.

Dem­zu­fol­ge gab es hier auch kei­ne Pro­ble­me mit der ne­ga­ti­ven Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Außen­sei­ter, denn die in­ter­ne Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen ver­schie­de­nen Grup­pen von Ge­werk­schafts­mit­glie­dern schränkt we­der die Hand­lungs- oder die Ver­trags­frei­heit des Ar­beit­ge­bers noch die der Außen­sei­ter ein. Auch ein un­zulässi­ger fak­ti­scher erhöhter Bei­tritts­druck be­stand hier aus Sicht der BAG-Rich­ter nicht.

Fa­zit: So rich­tig das Ur­teil des BAG (for­mal-)ju­ris­tisch ist, so fragwürdig ist die hier prak­ti­zier­te Ta­rif­ge­stal­tung durch die IG Me­tall un­ter or­ga­ni­sa­ti­ons­po­li­ti­schen As­pek­ten. Mas­sen­ent­las­sun­gen sind kein gu­ter Au­gen­blick, Ar­beit­neh­mern die Vor­tei­le ei­ner Ge­werk­schafts­mit­glied­schaft zu ver­deut­li­chen.

Und ob­wohl die Recht­spre­chung im­mer wie­der be­tont, dass Ab­fin­dun­gen künf­ti­ge ent­las­sungs­be­ding­te Ein­bußen aus­glei­chen sol­len, stel­len sie aus Sicht der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer (auch) ei­ne An­er­ken­nung für ih­re bis­he­ri­gen Leis­tun­gen dar. Und das Geld, das der Ar­beit­ge­ber für Ab­fin­dun­gen zur Verfügung hat, ha­ben al­le Be­triebs­an­gehöri­gen er­wirt­schaf­tet, Ge­werk­schafts­mit­glie­der so gut wie Außen­sei­ter.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das BAG sei­ne Ent­schei­dungs­gründe veröffent­licht. Das vollständig be­gründe­te Ur­teil des BAG fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 30. Januar 2019

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