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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/134

Ab­schied vom Grund­satz der Ta­rif­ein­heit

Vier­ter und Zehn­ter Se­nat er­mög­li­chen Ta­rifp­lu­ra­li­tät in Be­trie­ben: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Be­schluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10
Zwei Gruppen von je drei Arbeitnehmern mit Helm, Bekleidung der beiden Gruppen unterschiedlich Ein Be­trieb, meh­re­re Ge­werk­schaf­ten, vie­le Ta­rif­ver­trä­ge

13.07.2010. Nach der stän­di­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts galt bis­her das Pri­ni­zip "Ein Be­trieb - Ein Ta­rif­ver­trag". Die­ser so ge­nann­te Grund­satz der Ta­rif­ein­heit be­sag­te im Kern, dass von meh­re­ren, an sich im glei­chen Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­ver­trä­gen nur der spe­zi­ells­te Ta­rif­ver­trag an­ge­wen­det wird. Hin­ter­grund für die­se Recht­spre­chung war der ganz prag­ma­ti­sche Wunsch nach ei­ner ein­fa­chen, prak­ti­ka­blen Lö­sung die­ser zu­neh­mend auf­tre­ten­den Si­tua­ti­on.

Die­ser be­ste­chend ein­fa­che An­satz wur­de je­doch schon im­mer von der Li­te­ra­tur kri­ti­siert. Be­män­gelt wur­de ins­be­son­de­re der Ein­griff in die grund­recht­lich ge­schütz­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit.

Un­ter dem Ein­druck die­ser kri­ti­schen Stim­men er­wog der vier­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) ei­ne Recht­spre­chungs­än­de­rung und frag­te den zehn­ten Se­nat, ob die­ser ei­ner Än­de­rung zu­stimmt. Die­ser hat nun die mit Span­nung er­war­te­te Ant­wort ge­ge­ben: BAG, Be­schluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10.

Ta­rif­ein­heit und Ta­rifp­lu­ra­lität im Be­trieb

In Ta­rif­verträgen ent­hal­te­ne Rechts­nor­men, die In­halt, Ab­schluss und Be­en­di­gung von Ar­beits­verhält­nis­sen ord­nen, gel­ten gemäß § 4 Abs. 1 Ta­rif­ver­trags­ge­setz (TVG) un­mit­tel­bar und zwin­gend zwi­schen den bei­der­seits ta­rif­ge­bun­de­nen Ar­beits­ver­trags­par­tei­en, wenn sie bzw. ihr Ar­beits­verhält­nis un­ter den Gel­tungs­be­reich des Ta­rif­ver­trags fal­len. Ar­beit­neh­mer sind ta­rif­ge­bun­den, wenn sie Mit­glied der ta­rif­sch­ließen­den Ge­werk­schaft sind. Ar­beit­ge­ber sind ta­rif­ge­bun­den, wenn sie dem ta­rif­sch­ließen­den Ar­beit­ge­ber­ver­band an­gehören oder selbst im ei­ge­nen Na­men ei­nen (Fir­men-)Ta­rif­ver­trag ab­ge­schlos­sen ha­ben.

Die Vor­schrif­ten des TVG schließen die Möglich­keit nicht aus, dass für die Ar­beit­neh­mer des­sel­ben Be­triebs Ta­rif­verträge ver­schie­de­ner Ge­werk­schaf­ten an­wend­bar sind. So kann ein Ar­beit­ge­ber oder Ar­beit­ge­ber­ver­band oh­ne wei­te­res mit ver­schie­de­nen Ge­werk­schaf­ten Ta­rif­verträge ab­sch­ließen, was in der Pra­xis auch häufig vor­kommt. Dann müss­te der Ar­beit­ge­ber in sei­nem Be­trieb je­den Ar­beit­neh­mer gemäß dem Ta­rif­ver­trag be­han­deln, den „sei­ne“ Ge­werk­schaft ver­ein­bart hat.

Die­se Si­tua­ti­on ist für den Ar­beit­ge­ber et­was unüber­sicht­lich. Lie­gen Löhne und sons­ti­ge Leis­tun­gen nämlich nicht ge­ne­rell über dem Ni­veau al­ler im Be­trieb an­wend­ba­ren Ta­rif­verträgen, son­dern will bzw. kann der Ar­beit­ge­ber nicht mehr leis­ten, als sei­nen ta­rif­ver­trag­li­chen Pflich­ten ent­spricht, muss er bei der Durchführung der Ar­beits­verhält­nis­se zwi­schen der je­wei­li­gen Ge­werk­schafts­zu­gehörig­keit sei­ner Ar­beit­neh­mer un­ter­schei­den.

Das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) ver­ein­fach­te die­se Rechts­la­ge für den Ar­beit­ge­ber bis­lang in der Wei­se, dass es nur den­je­ni­gen Ta­rif­ver­trag für zur An­wen­dung kom­men ließ, der dem Be­trieb räum­lich, be­trieb­lich, fach­lich und persönlich am nächs­ten steht. Die­ser spe­zi­el­le­re Ta­rif­ver­trag ver­dräng­te so­mit al­le an­de­ren, im Prin­zip eben­falls auf den Be­trieb bzw. sei­ne Ar­beit­neh­mer an­wend­ba­ren Ta­rif­verträge. Eben dies ist be­sagt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit.

Der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit hat für Ar­beit­ge­ber prak­ti­sche Vor­tei­le und begüns­tigt zu­dem die großen (DGB-)Ge­werk­schaf­ten, da de­ren Ta­rif­verträge meist die spe­zi­ells­ten im Sin­ne des Ein­heits­grund­sat­zes sind. Der gra­vie­ren­de Nach­teil die­ses Rechts­grund­sat­zes ist al­ler­dings, dass er kei­ne kla­re ge­setz­li­che Grund­la­ge hat und die in Art. 9 Abs. 3 Grund­ge­setz (GG) gewähr­te Ko­ali­ti­ons­frei­heit der (klei­ne­ren) Ge­werk­schaf­ten, de­ren Ta­rif­verträge in­fol­ge des Ein­heits­grund­sat­zes ver­drängt wer­den, sehr stark ein­schränkt.

Da­her zer­bröckelt der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit in den letz­ten Jah­ren zu­neh­mend, d.h. die Ge­rich­te sind im­mer we­ni­ger be­reit, ihn ih­rer Recht­spre­chung zu­grun­de zu le­gen. In die­sem Sin­ne hat z.B. vor kur­zem das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Schles­wig-Hol­stein ent­schie­den (Ur­teil vom 11.02.2010, 4 Sa 444/09 - wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 10/128: LAG Schles­wig-Hol­stein nimmt En­de der Ta­rif­ein­heit vor­weg).

Aus­druck die­ser Ten­denz ist der Be­schluss des vier­ten Se­nats des BAG vom 27.01.2010, mit dem die­ser den zehn­ten BAG-Se­nat of­fi­zi­ell um ei­ne Stel­lung­nah­me zu der Fra­ge er­such­te, ob er wei­ter an dem Grund­satz der Ta­rif­ein­heit fest­hal­ten wol­le oder nicht (BAG, Be­schluss vom 27.01.2010, 4 AZR 549/08 (A)). En­de Ju­ni 2010 hat nun­mehr der zehn­te Se­nat die­se An­fra­ge be­ant­wor­tet (Be­schluss vom 23.06.2010, 10 AS 3/10).

Der Fall: Ta­rif­ein­heit im Kran­ken­haus oder Ne­ben­ein­an­der von BAT und TVÖD/VKA?

Die Ärz­te­ver­ei­ni­gung Mar­bur­ger Bund ließ sich lan­ge Jah­re von der DAG und später von der ver.di in Ta­rif­ver­hand­lun­gen ver­tre­ten, wi­der­rief dann aber im Jah­re 2005 die­se Ver­hand­lungs­voll­macht und ver­han­delt seit­dem selbst über Ta­rif­verträge für Kran­ken­hausärz­te.

In­fol­ge der Ein­be­zie­hung des Mar­bur­ger Bun­des in die von der DAG bzw. der ver.di ver­han­del­ten Ta­rif­ab­schlüsse war auch der Mar­bur­ger Bund an den Bun­des-An­ge­stell­ten­ta­rif­ver­trag (BAT), ge­bun­den, bis er ihn zum 31.12.2005 kündig­te. Schon ein Quar­tal früher, nämlich be­gin­nend zum 01.10.2005, er­setz­te ein von der ver.di ab­ge­schlos­se­ner BAT-Nach­fol­ge­ta­rif­ver­trag, der TVöD/VKA, den BAT.

Vor die­sem Hin­ter­grund strit­ten ein im Mar­bur­ger Bund or­ga­ni­sier­ter Kran­ken­haus­arzt und sein Ar­beit­ge­ber über ei­nen Ur­laub­s­auf­schlag, den der Arzt un­ter Ver­weis auf den für ihn als Mar­bur­ger Bund-Mit­glied gel­ten­den BAT für zwei Ur­laubs­wo­chen im Ok­to­ber 2005 ver­lang­te.

Der Ar­beit­ge­ber da­ge­gen mein­te, für den Arzt würde we­gen des Grund­sat­zes der Ta­rif­ein­heit nicht der BAT, son­dern der von der ver.di ver­ein­bar­te TVöD/VKA gel­ten. Da auf der strei­ti­ge Zu­schlag auf die­ser Grund­la­ge nicht oder nicht in der ge­for­der­ten Höhe ver­langt wer­den konn­te, ver­wei­ger­te der Ar­beit­ge­ber die Zah­lung.

Der Arzt zog vor das Ar­beits­ge­richt Mann­heim (Ur­teil vom 31.07.2007, 12 Ca 120/07) und ob­sieg­te dort. Auch das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ba­den-Würt­tem­berg als Be­ru­fungs­ge­richt gab dem Arzt recht (Ur­teil vom 22.01.2008, 14 Sa 87/07).

Vier­ter und Zehn­ter Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts: Der Grund­satz der Ta­rif­ein­heit wird nicht mehr an­ge­wen­det

Nach­dem be­reits der vier­te Se­nat des BAG mit Be­schluss vom 27.01.2010 (4 AZR 549/08 (A)) sei­ne An­sicht zu dem um­strit­ten Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ausführ­lich und im Sin­ne ei­ner Ab­leh­nung die­ses Grund­sat­zes dar­ge­legt hat­te, schloss sich nun­mehr der zehn­te Se­nat die­ser Rechts­mei­nung an und stell­te klar, dass auch er den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit künf­tig nicht an­wen­den wer­de (Be­schluss vom 23.06.2010, 10 AS 2/10, 10 AS 3/10).

Da­bei spar­te sich der zehn­te Se­nat ei­ne ausführ­li­che ei­ge­ne Be­gründung sei­ner Ent­schei­dung und mach­te sich die ausführ­li­che Be­gründung des vier­ten Se­nats für des­sen Be­schluss vom 27.01.2010 aus­drück­lich zu ei­gen. Die ab­leh­nen­de Po­si­ti­on des BAG - oder je­den­falls zwei­er sei­ner Se­na­te - zum Grund­satz der Ta­rif­ein­heit wird in dem Be­schluss des zwei­ten Se­nats vom 27.01.2010 zwei­fach be­gründet:

Zum ei­nen wird aus­geführt, dass das ein­fa­che Ge­set­zes­recht, d.h. die Vor­schrif­ten des TVG, den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit nicht be­inhal­ten, d.h. dass ei­ne so weit­ge­hen­de Zurück­drängung gel­ten­der Ta­rif­verträge dem der­zeit gel­ten­den Ta­rif­recht nicht ent­nom­men wer­den kann.

Zum an­de­ren wird in dem Be­schluss vom 27.01.2010 die Re­gel „Ein Be­trieb - ein Ta­rif­ver­trag“ auch aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Gründen kri­ti­siert. Denn die Ko­ali­ti­ons­frei­heit der Ge­werk­schaf­ten, de­ren Ta­rif­verträge ver­drängt wer­den, wird durch den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit er­heb­lich ein­ge­schränkt. Für so mas­si­ve Grund­rechts­ein­grif­fe braucht es ent­spre­chend mas­si­ve Gründe.

Die Grund­rechts­ein­grif­fe zu­las­ten klei­ne­rer Ge­werk­schaf­ten, die mit der sog. Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ver­bun­den sind, müss­ten da­her zum Schutz der Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie und/oder zum Schutz der Grund­rech­te Drit­ter und/oder zum Schutz an­de­rer Güter von Ver­fas­sungs­rang er­for­der­lich sein. Da­von kann aber, so je­den­falls der vier­te und der zehn­te Se­nat des BAG, kei­ne Re­de sein.

An­ders als das BAG, das den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit be­gra­ben hat, wol­len der Deut­sche Ge­werk­schafts­bund (DGB) und die Bun­des­ver­ei­ni­gung Deut­scher Ar­beit­ge­ber­verbände (BDA) ihn am Le­ben er­hal­ten, da sie ihn für un­ver­zicht­bar hal­ten. Sie schla­gen da­her in ei­nem ge­mein­sa­men Eck­punk­te­pa­pier vor, den Grund­satz der Ta­rif­ein­heit ge­setz­lich fest­zu­schrei­ben und da­mit der ak­tu­el­len Recht­spre­chung des BAG den Bo­den zu ent­zie­hen (BDA, DGB: Funk­ti­onsfähig­keit der Ta­rif­au­to­no­mie si­chern - Ta­rif­ein­heit ge­setz­lich re­geln). Ob sich die­ser Ge­setz­ge­bungs­vor­schlag durch­set­zen kann, ist an­ge­sichts der vom BAG auf­ge­zeig­ten ver­fas­sungs­recht­li­chen Pro­ble­me nicht un­ge­wiss.

Für den Arzt be­deu­tet die­se Ent­schei­dung für's Ers­te eins: Er wird sei­nen Pro­zess ge­win­nen und den Ur­laub­s­auf­schlag er­hal­ten.

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Letzte Überarbeitung: 30. Oktober 2020

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