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LAG Düs­sel­dorf, Ur­teil vom 16.04.2008, 12 Sa 2237/07

   
Schlagworte: Arzt im Praktikum: Vergütung, TV-Ärzte
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Aktenzeichen: 12 Sa 2237/07
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 16.04.2008
   
Leitsätze:

1. Die Tätigkeitszeit als Arzt im Praktikum (AiP) gehört nicht zu den "Vorzeiten ärztlicher Tätigkeiten" i.S.v. § 16 Abs. 2 S. 1 TV-Ä.

2. Zur Billigkeitskontrolle der Entscheidung des Arbeitgebers, zur Kostenvermeidung die AiP-Zeit generell nicht gemäß § 16 Abs. 2 S. 2 TV-Ä zu berücksichtigen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Essen, Urteil vom 23.11.2007, Aktenzeichen
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt Düssel­dorf, 12 Sa 2237/07

 

Te­nor:

Die Be­ru­fung der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Es­sen vom 23.11.2007 wird kos­tenfällig zurück­ge­wie­sen.

Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

 

GRÜNDE:

A. Die Par­tei­en strei­ten über Vergütung.

Die Kläge­rin war vom 01.07.2001 bis 31.12.2007 als Ärz­tin im Prak­ti­kum (AiP) beim Land Nord­rhein-West­fa­len, dem Rechts­vorgänger der Be­klag­ten, beschäftigt. Seit dem 01.01.2003 war sie als Ärz­tin in der Wei­ter­bil­dung zur Fachärz­tin für Kin­der-und Ju­gend­me­di­zin bei der Be­klag­ten an­ge­stellt. Auf das Ar­beits­verhält­nis fin­det kraft bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­ge­bun­den­heit und ver­trag­li­cher Be­zug­nah­me der Ta­rif­ver­trag für Ärz­tin­nen und Ärz­te an Uni­ver­sitätsklin­ken (TV-Ä) An­wen­dung.

Die Be­klag­te zahl­te an die Kläge­rin im Zeit­raum vom 01.07.2006 bis 31.12.2006 Vergütung nach Stu­fe 4 (Ärz­te im 4. Jahr) der Ent­gelt­grup­pe 1 des TV-Ä in Höhe von mo­nat­lich Eu­ro 4.200,00 brut­to.

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Die Kläge­rin be­gehrt für die­sen Zeit­raum mit ih­rer Zah­lungs­kla­ge die Vergütung nach Stu­fe 5 (Ärz­te im 5. Jahr) in Höhe von mo­nat­lich Eu­ro 4.500,00 brut­to. Sie meint, dass ih­re Tätig­keits­zeit als Ärz­tin im Prak­ti­kum nach § 16 Abs. 2 Satz 1 TV-Ä als „Vor­zei­ten ärzt­li­cher Tätig­keit“ an­zu­rech­nen und sie da­her ab dem 01.07.2006 „Ärz­tin im 5. Jahr“ ge­we­sen sei. Je­den­falls müsse die Be­klag­te gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-Ä die AiP-Zeit als „Zei­ten von Be­rufs­er­fah­rung aus nichtärzt­li­cher Tätig­keit“ berück­sich­ti­gen: Ih­re ge­gen­tei­li­ge, al­lein von fi­nan­zi­el­len In­ter­es­sen ge­tra­ge­ne Ent­schei­dung, ge­ne­rell AiP-Zei­ten nicht an­zu­er­ken­nen, stel­le ei­ne un­ter­las­se­ne bzw. nicht sach­ge­rech­te Er­mes­sens­ausübung dar.

Nach er­folg­lo­ser vor­ge­richt­li­cher Gel­tend­ma­chung hat die Kläge­rin im Ju­li 2007 vor dem Ar­beits­ge­richt Es­sen Kla­ge er­ho­ben. Sie hat be­an­tragt,

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an sie, die Kläge­rin, 1.800,00 € zu zah­len nebst Zin­sen in Höhe von fünf Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz aus mo­nat­lich je­weils 300,00 € seit dem 31. Ju­li 2006, 31. Au­gust 2006, 30. Sep­tem­ber 2006, 31. Ok­to­ber 2006, 30. No­vem­ber 2006 und dem 31. De­zem­ber 2006.

Die Be­klag­te hat bea­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen. 

Das Ar­beits­ge­richt hat durch Ur­teil vom 22.11.2007 die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Mit der form- und frist­ge­recht ein­ge­leg­ten und be­gründe­ten Be­ru­fung greift die Kläge­rin das Ur­teil, auf das hier­mit zur nähe­ren Dar­stel­lung des Sach- und Streit­stan­des ver­wie­sen wird, in tatsäch­li­cher und recht­li­cher Hin­sicht und un­ter Wie­der­ho­lung und Ergänzung ih­res erst­in­stanz­li­chen Vor­brin­gens an. Sie be­an­tragt die Abände­rung des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils und Statt­ga­be der Kla­ge. Die Be­klag­te ver­tei­digt das Ur­teil und be­an­tragt die Zurück­wei­sung der Be­ru­fung.

We­gen der Ein­zel­hei­ten des Par­tei­vor­brin­gens wird auf den In­halt der ge­wech­sel­ten Schriftsätze mit den hier­zu über­reich­ten An­la­gen Be­zug ge­nom­men.

B. Die Be­ru­fung hat kei­nen Er­folg. Das Ar­beits­ge­richt hat zu Recht die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Die Kam­mer macht sich gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG die Ent­schei­dungs­gründe des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils zu ei­gen. Auf die An­grif­fe der Be­ru­fung hat sie le­dig­lich das Fol­gen­de an­zufügen.

I. Die AiP-Zeit ist nicht nach § 16 Abs. 2 Satz 1 TV-Ä zu berück­sich­ti­gen. Die Ta­rif­vor­schrift setzt nach ih­rem Wort­laut vor­aus, dass „Vor­zei­ten ärzt­li­cher Tätig­keit“ vor­lie­gen. Die AiP-Tätig­keit ist, weil dem Arzt im Prak­ti­kum zum ei­nen noch die Ap­pro­ba­ti­on fehlt und er nur ei­ne Er­laub­nis nach § 10 Abs. 4 BÄO hat, und er zum an­de­ren sei­nem Aus­bil­dungs­stand gemäß tätig wer­den soll, kei­ne „ärzt­li­che Tätig­keit“ im Ta­rif­sinn. Die­ser Be­fund steht im Ein­klang mit der bis­he­ri­gen höchst­rich­ter­li­chen Spruch­pra­xis (BAG Ur­teil vom 10.12.1997, ZTR 1998, 271, Ur­teil vom 25.09.1996 ZTR 1997, 125). Den Ta­rif­ver­trags­par­tei­en des TV-Ä war die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts be­kannt. Al­lein der Um­stand, dass im TV-Ä ei­ne neue Vergütungs­struk­tur ge­schaf­fen wur­de, ließ nicht die durch die Recht­spre­chung geklärte Un­ter­schei­dung zwi­schen der Tätig­keit des Arz­tes im Prak­ti­kum ei­ner­seits und ärzt­li­chen Tätig­kei­ten i.e.S. an­de­rer­seits ent­fal­len. Da­her hat­ten die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en, wenn sie die AiP-Tätig­keit künf­tig als „ärzt­li­che Tätig­keit“ an­ge­se­hen und be­han­delt wis­sen woll­ten, Ver­an­las­sung, ih­ren Re­ge­lungs­wil­len in ei­ner ent­spre­chen­den Ta­rif­re­ge­lung zu ver­deut­li­chen. Dies ist nicht, je­den­falls nicht mit hin­rei­chen­der Klar­heit, ge­sche­hen.

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Auch aus dem ta­rif­li­chen Ge­samt­zu­sam­men­hang und der Ta­rif­ge­schich­te er­ge­ben sich kei­ne An­knüpfungs­punk­te für die An­nah­me, dass nach dem Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en – ab­wei­chend von der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts – die AiP-Tätig­keit als „Vor­zeit ärzt­li­cher Tätig­keit“ gel­ten soll­te. § 16 Abs. 2 TV-Ä hat viel­mehr er­kenn­bar zum Re­ge­lungs­zweck, AiP-Zei­ten nicht au­to­ma­tisch, son­dern nur op­tio­nal (Satz 2) als ärzt­li­che Tätig­keit zu be­han­deln und der vom ap­pro­bier­ten Arzt ge­leis­te­ten Be­rufstätig­keit gleich­zu­set­zen.

II. Die AiP-Tätig­keit ist den berück­sich­ti­gungsfähi­gen „Zei­ten der Be­rufs­er­fah­rung aus nichtärzt­li­cher Tätig­kei­ten“ i. S. v. § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-Ä zu­zu­ord­nen. Dies folgt aus der weit ge­fass­ten For­mu­lie­rung „nichtärzt­li­che Tätig­keit“ und der Ziel­set­zung der Ta­rif­vor­schrift, den Ar­beits­ver­trags­par­tei­en außer­halb schlich­ten ta­rif­li­chen Norm­voll­zugs ei­nen Spiel­raum zu ge­ben, nichtärzt­li­che und da­mit auch „vorärzt­li­che“ Tätig­kei­ten im Rah­men be­trieb­li­cher Vergütungs­sys­te­me oder in­di­vi­du­al­recht­li­cher Vergütungs­ver­ein­ba­run­gen zu berück­sich­ti­gen. In­dem die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en selbst von nähe­ren Vor­ga­ben ab­se­hen, ob, wann, in wel­chem Um­fang und für wel­che Tätig­kei­ten die Berück­sich­ti­gung nichtärzt­li­cher Tätig­keits­zei­ten in Be­tracht kommt, ist in den Fällen, in de­nen es man­gels an­der­wei­tig ge­ge­be­nen Ver­pflich­tungs­tat­be­stan­des in das Er­mes­sen des Ar­beit­ge­bers ge­stellt bleibt, über die An­rech­nung von AiP-Zei­ten zu be­fin­den, ihm grundsätz­lich we­der ei­ne ein­zel­fall­be­zo­ge­ne noch ei­ne ge­ne­ra­li­sie­ren­de Ver­fah­rens­wei­se ver­sagt. Die Kon­trol­le sei­ner ein­sei­ti­gen Leis­tungs­be­stim­mung rich­tet sich nach den zu § 315 BGB ent­wi­ckel­ten Maßstäben. Hier­nach ent­spricht die ein­sei­ti­ge Leis­tungs­be­stim­mung im­mer dann der Bil­lig­keit, wenn die kon­kre­ten Umstände des Falls ab­ge­wo­gen und die bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen an­ge­mes­sen berück­sich­tigt wur­den. Nach der BAG-Recht­spre­chung (Ur­teil vom 16.10.2007, 9 AZR 144/07, Ju­ris) er­laubt das dem Ar­beit­ge­ber ein­geräum­te Leis­tungs­be­stim­mungs­recht nicht nur ei­ne ein­zi­ge Re­ge­lung, und es kommt dem Ar­beit­ge­ber bis an die Gren­zen der Bil­lig­keit ein Er­mes­sens- und Ge­stal­tungs­spiel­raum zu. Bei der Ausübung bil­li­gen Er­mes­sens hat er den Gleich­be­hand­lungs­grund­satz zu be­ach­ten (BAG, Ur­teil vom 11.10.1995, 5 AZR 1009/94 NZA-RR 1996, 313). Bei der Be­ur­tei­lung der Ent­schei­dung des Be­stim­mungs­be­rech­tig­ten (i.c. des Ar­beit­ge­bers) ist ein ob­jek­ti­ver Maßstab an­zu­le­gen, d.h. es sind al­le Umstände zu berück­sich­ti­gen, die zu dem Zeit­punkt vor­la­gen, zu dem der Ar­beit­ge­ber die Er­mes­sens­ent­schei­dung zu tref­fen hat­te. Das gilt selbst dann, wenn er – wie hier die Be­klag­te – die Be­stim­mung in der An­nah­me ge­trof­fen ha­ben soll­te, er brau­che kei­ne Er­mes­sens­ent­schei­dung zu tref­fen, weil es be­reits an den ta­rif­li­chen An­spruchs­vor­aus­set­zun­gen für die zu be­stim­men­de Leis­tung feh­le (BAG, Ur­teil vom 03.12.2002, 9 AZR 457/01, ZTR 2003, 504).

2. Hier­an ge­mes­sen, ist es nicht er­mes­sens­feh­ler­haft, wenn die Be­klag­te sich ent­schie­den hat, ge­ne­rell AiP-Zei­ten im Rah­men des § 16 Abs. 2 Satz 2 TV-Ä nicht zu berück­sich­ti­gen. Auch wenn die AiP-Tätig­keit den in § 16 Abs. 2 Satz 1 TV-Ä erwähn­ten „Vor­zei­ten ärzt­li­cher Tätig­keit“ na­he kom­men mag, ist hier­durch die Er­mes­sens­ausübung der Be­klag­ten nicht ein­ge­engt. Hätten die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en be­ab­sich­tigt, dem Ar­beit­ge­ber die Berück­sich­ti­gung von AiP-Zei­ten als Re­gel­fall vor­zu­schrei­ben, hätte die­se Re­ge­lungs­ab­sicht im Ta­rif­ver­trag Nie­der­schlag fin­den müssen. Dies ist nicht ge­sche­hen.

Die Be­klag­te wahrt, wenn sie bei der Ein­stu­fung der As­sis­tenzärz­te die AiP-Zeit ge­ne­rell un­berück­sich­tigt lässt, den Gleich­be­hand­lungs­grund­satz. Ge­gen­tei­li­ges macht auch die Kläge­rin nicht gel­tend.

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Es liegt auf der Hand, dass für die Be­klag­te wirt­schaft­li­che Gründe maßge­bend wa­ren. Dem steht – im Rah­men des § 16 TV-Ä (§ 17 Abs. 1 Satz 2 TVÜ-Ä) – das fi­nan­zi­el­le In­ter­es­se der Kläge­rin an ei­ner höhe­ren Stu­fe („5“ statt „4“) ge­genüber. Es sind aber we­der ge­ne­rell noch im vor­lie­gen­den Ein­zel­fall Ge­sichts­punk­te dafür er­sicht­lich oder vor­ge­tra­gen, dass die Be­lan­ge der Be­klag­ten hin­ter den In­ter­es­sen der Kläge­rin (und an­de­rer glei­cher­maßen be­trof­fe­ner As­sis­tenzärz­te) zurück­tre­ten müss­ten. Auch sonst sieht die Kam­mer im Vor­trag der Kläge­rin kei­ne An­halts­punk­te dafür, dass die Be­klag­te mit ih­rer Er­mes­sens­ausübung die Gren­zen der Bil­lig­keit über­schrit­ten ha­ben könn­te.

C. Die Kos­ten der Be­ru­fung hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kläge­rin zu tra­gen. 

Die Kam­mer hat der vor­lie­gend zu ent­schei­den­den Rechts­fra­ge grundsätz­li­che Be­deu­tung bei­ge­mes­sen (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG) und da­her für die Kläge­rin die Re­vi­si­on an das Bun­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­sen.

 

RECH­TSMIT­TEL­BE­LEH­RUNG

Ge­gen die­ses Ur­teil kann von der Kläge­rin 

RE­VISION 

ein­ge­legt wer­den.

Für die Be­klag­te ist ge­gen die­ses Ur­teil kein Rechts­mit­tel ge­ge­ben. 

Die Re­vi­si­on muss 

in­ner­halb ei­ner Not­frist von ei­nem Mo­nat 

nach der Zu­stel­lung die­ses Ur­teils schrift­lich beim 

Bun­des­ar­beits­ge­richt, 

Hu­go-Preuß-Platz 1, 

99084 Er­furt, 

Fax: (0361) 2636 - 2000 

ein­ge­legt wer­den. 

Die Re­vi­si­on ist gleich­zei­tig oder 

in­ner­halb von zwei Mo­na­ten nach Zu­stel­lung die­ses Ur­teils 

schrift­lich zu be­gründen. 

Die Re­vi­si­ons­schrift und die Re­vi­si­ons­be­gründung müssen von ei­nem bei ei­nem deut­schen Ge­richt zu­ge­las­se­nen Rechts­an­walt un­ter­zeich­net sein.

 

Dr. Plüm

Schro­eder

Steeg

 

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