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ARBEITSRECHT AKTUELL // 19/142

Un­ter­zeich­nung von Kün­di­gun­gen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen

Ar­beit­ge­ber dür­fen Kün­di­gun­gen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen be­reits un­ter­schrei­ben, be­vor die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Agen­tur für Ar­beit ein­ge­gan­gen ist: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 13.06.2019, 6 AZR 459/18
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17.06.2019. Ar­beit­ge­ber, die ei­ne Mas­sen­ent­las­sung durch­füh­ren müs­sen, ha­ben vie­le ju­ris­ti­sche Spiel­re­geln zu be­ach­ten.

Meis­tens führt ein Ver­stoß ge­gen die­se Re­geln da­zu, dass die im Rah­men der Ent­las­sungs­wel­le aus­ge­spro­che­nen Kün­di­gun­gen un­wirk­sam sind.

Ein Bei­spiel ist die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge, die der Ar­beit­ge­ber vor Aus­spruch der Kün­di­gun­gen der Ar­beits­agen­tur zu­kom­men las­sen muss. Hier­zu hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) letz­te Wo­che ent­schie­den, dass die­se zeit­li­che Vor­ga­be den Ar­beit­ge­ber nicht da­zu zwingt, die Kün­di­gun­gen erst nach Ein­gang der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur zu un­ter­schrei­ben.

Es ge­nügt, wenn die An­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur ein­ge­gan­gen ist, be­vor die Ar­beit­neh­mer die Kün­di­gun­gen er­hal­ten: BAG, Ur­teil vom 13.06.2019,6 AZR 459/18.

Wann ist der rech­te Zeit­punkt, bei Mas­sen­ent­las­sun­gen die Kündi­gun­gen zu un­ter­schrei­ben?

Wenn der Ar­beit­ge­ber be­ab­sich­tigt, ei­ne er­heb­li­che An­zahl von Ar­beit­neh­mern in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen zu ent­las­sen (sog. Mas­sen­ent­las­sung), ist er gemäß § 17 Abs.1 Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) da­zu ver­pflich­tet, der Ar­beits­agen­tur ei­ne ent­spre­chen­de An­zei­ge zu er­stat­ten („Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge“).

Was als er­heb­li­che An­zahl von Ent­las­sun­gen gilt, ist in § 17 Abs.1 KSchG fest­ge­legt und hängt von der Be­triebs­größe und von der An­zahl der ge­plan­ten Ent­las­sun­gen ab. Aus § 17 Abs.1 KSchG er­gibt sich auch die Rei­hen­fol­ge von An­zei­ge und Ent­las­sun­gen: Die Pflicht zur An­zei­ge muss der Ar­beit­ge­ber erfüllen, „be­vor" er die Ent­las­sun­gen vor­nimmt.

Ursprüng­lich stand hin­ter der An­zei­ge­pflicht gemäß § 17 Abs.1 KSchG aus­sch­ließlich das In­ter­es­se der Ar­beits­ver­wal­tung, von ei­ner be­vor­ste­hen­den großen Ent­las­sungs­wel­le frühzei­tig zu er­fah­ren, um bes­ser re­agie­ren zu können. Un­ter „Ent­las­sung“ ver­stan­den die Ar­beits­ge­rich­te da­her lan­ge Zeit nicht et­wa den Aus­spruch der Kündi­gun­gen durch den Ar­beit­ge­ber, son­dern ei­nen späte­ren Zeit­punkt, nämlich die Be­en­di­gung der Tätig­keit im Be­trieb bzw. den Ein­tritt der Ar­beits­lo­sig­keit.

Da hin­ter § 17 KSchG al­ler­dings die Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie steht (Richt­li­nie 98/59/EG vom 20.07.1998), die mit die­ser Vor­schrift um­ge­setzt wer­den soll, muss § 17 KSchG eu­ro­pa­rechts­kon­form bzw. ent­spre­chend den Ent­schei­dun­gen des eu­ropäischen Ge­richts­hofs (EuGH) aus­ge­legt wer­den. Und zum Be­griff der Ent­las­sung hat der EuGH be­reits vor vie­len Jah­ren ent­schie­den, dass da­mit nicht et­wa die Be­en­di­gung der Tätig­keit im Be­trieb zu ver­ste­hen ist, son­dern der Aus­spruch der Kündi­gun­gen durch den Ar­beit­ge­ber (EuGH, Ur­teil vom 27.01.2005, C-188/03 - Junk).

Wie der vom BAG ent­schie­de­ne Fall zeigt, sind mit die­ser EuGH-Ent­schei­dung aber noch nicht al­le mögli­chen Un­klar­hei­ten be­sei­tigt. Denn auch der „Aus­spruch ei­ner Kündi­gung“ kann sich hin­zie­hen, je­den­falls dann, wenn die Kündi­gungs­erklärun­gen nicht im Be­trieb über­ge­ben wer­den.

Dann be­ginnt der „Aus­spruch ei­ner Kündi­gung“ mit dem Un­ter­zeich­nen des Kündi­gungs­schrei­bens, ge­folgt von der Aushändi­gung des Schrei­bens an ei­nen Bo­ten bis hin zum Zu­gang des Kündi­gungs­schrei­bens beim Empfänger, d.h. beim gekündig­ten Ar­beit­neh­mer.

Es ist da­her nicht ganz klar, ob die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur ein­ge­gan­gen sein muss, 

  • be­vor der Ar­beit­ge­ber die Kündi­gun­gen un­ter­zeich­net (früher Zeit­punkt), oder
  • be­vor die Kündi­gun­gen den Ar­beit­neh­mern zu­ge­hen (späte­rer Zeit­punkt).

Der Streit­fall: In­sol­venz­ver­wal­ter un­ter­schreibt Kündi­gungs­erklärun­gen am Tag der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge

Im Streit­fall hat­te sich ein In­sol­venz­ver­wal­ter mit dem Be­triebs­rat nach vor­he­ri­ger Kon­sul­ta­ti­on (§ 17 Abs.2 KSchG) per In­ter­es­sen­aus­gleich über die in­sol­venz­be­ding­te Sch­ließung des Be­triebs ge­ei­nigt.

Ent­spre­chend der mit dem Be­triebs­rat er­ziel­ten Ei­ni­gung zeig­te der In­sol­venz­ver­wal­ter der Ar­beits­agen­tur am 26.06.2017 die be­ab­sich­tig­te Ent­las­sung al­ler 45 Mit­ar­bei­ter des be­trof­fe­nen Be­triebs an, d.h. er er­stat­te­te ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge. Am sel­ben Tag un­ter­zeich­ne­te er auch die Kündi­gungs­schrei­ben.

Ei­ner der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer klag­te ge­gen die Kündi­gung, die ihm am 27.06.2017 zu­ge­gan­gen war. Sein Ar­gu­ment: Laut EuGH muss der Ar­beit­ge­ber (an­geb­lich) die ge­plan­ten Kündi­gun­gen der Ar­beits­agen­tur an­zei­gen, be­vor er sich endgültig zur Kündi­gung ent­schließt und die­sen Wil­len durch das Un­ter­schrei­ben der Kündi­gungs­erklärung do­ku­men­tiert.

Dar­aus er­gibt sich, so der Ar­beit­neh­mer, fol­gen­de zeit­li­che Rei­hen­fol­ge: Erst muss die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur ein­ge­hen, und erst da­nach darf der Ar­beit­ge­ber die Kündi­gun­gen un­ter­schrei­ben.

Das Ar­beits­ge­richt Mann­heim ließ sich da­von nicht be­ein­dru­cken und wies die Kündi­gungs­schutz­kla­ge ab (Ur­teil vom 27.11.2017, 11 Ca 219/17). Da­ge­gen war das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg der Mei­nung, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter hier im Streit­fall die Kündi­gun­gen zu früh un­ter­zeich­net hat­te, nämlich (mögli­cher­wei­se) vor dem Ein­gang der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur. Da­her gab das LAG dem Ar­beit­neh­mer recht (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 21.08.2018, 12 Sa 17/18).

BAG: Ar­beit­ge­ber dürfen Kündi­gun­gen bei Mas­sen­ent­las­sun­gen be­reits un­ter­schrei­ben, be­vor die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Agen­tur für Ar­beit ein­ge­gan­gen ist

Die­se Aus­le­gung von § 17 Abs.1 KSchG woll­te das BAG nicht mit­ma­chen und hob das LAG-Ur­teil auf. Zur Be­gründung heißt es in der Pres­se­mel­dung des BAG:

Die Pflicht zur An­zei­ge ei­ner ge­plan­ten Mas­sen­ent­las­sung dient beschäfti­gungs­po­li­ti­schen Zwe­cken. Die Ar­beits­agen­tur soll sich recht­zei­tig auf größere Ent­las­sungs­wel­len ein­stel­len können. Das setzt vor­aus, dass be­reits fest­steht, wie vie­le und wel­che Ar­beit­neh­mer kon­kret ent­las­sen wer­den sol­len. Auf den Wil­lens­ent­schluss des Ar­beit­ge­bers zur Kündi­gung „kann, soll und will“ die Ar­beits­agen­tur kei­nen Ein­fluss neh­men, so die Er­fur­ter Rich­ter.

Trotz­dem darf die Kündi­gungs­erklärung dem Ar­beit­neh­mer erst dann zu­ge­hen, wenn die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der zuständi­gen Agen­tur für Ar­beit be­reits ein­ge­gan­gen ist. Dies ist laut BAG durch die Recht­spre­chung des EuGH zur Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie geklärt. Da­her muss­te das BAG bzw. sein Sechs­ter Se­nat den Streit­fall nicht dem EuGH vor­le­gen.

Fa­zit: Es spricht viel dafür, dass die In­ter­pre­ta­ti­on der Junk-Ent­schei­dung des EuGH (Ur­teil vom 27.01.2005, C-188/03) durch das BAG kor­rekt ist, doch ist dies letzt­lich eben doch ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on. Es ist da­her nicht aus­zu­sch­ließen, dass ei­ni­ge Ar­beits- und/oder Lan­des­ar­beits­ge­rich­te trotz des BAG-Ur­teils wei­ter­hin mit der An­sicht des LAG Ba­den-Würt­tem­berg sym­pa­thi­sie­ren und in ei­nem ge­eig­ne­ten Fall den EuGH an­ru­fen.

Auf der si­che­ren Sei­te ste­hen Ar­beit­ge­ber da­her letzt­lich nur, wenn sie bei Mas­sen­ent­las­sun­gen ih­re Un­ter­schrift erst dann un­ter die Kündi­gungs­erklärun­gen set­zen, wenn die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der Ar­beits­agen­tur be­reits (nach­weis­bar) ein­ge­gan­gen ist. Bis da­hin soll­te der Füller nicht auf­ge­schraubt wer­den.

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Letzte Überarbeitung: 28. September 2021

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