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ARBEITSRECHT AKTUELL // 20/113

Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei der rich­ti­gen Ar­beits­agen­tur

Wel­che Ar­beits­agen­tur für die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zu­stän­dig ist, rich­tet sich nach dem eu­ro­pa­recht­li­chen Be­triebs­be­griff: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 13.02.2020, 6 AZR 146/19
leeres Büro wegen Massenentlassung, Massenentlassungsanzeige

02.12.2020. Plant ein Ar­beit­ge­ber ei­ne Mas­sen­ent­las­sung, muss er vor­ab bei der ört­lich zu­stän­di­gen Ar­beits­agen­tur ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge ein­rei­chen.

Wel­che Ar­beits­agen­tur die rich­ti­ge ist, d.h. ört­lich zu­stän­dig, ist manch­mal nicht so leicht fest­zu­stel­len, wenn es um ei­ne grö­ße­ren Per­so­nal­ab­bau bei ei­nem deutsch­land­weit tä­ti­gen Un­ter­neh­men mit vie­len Be­trie­ben geht.

Das zeigt ei­ne Ent­schei­dung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) in ei­nem der vie­len Kün­di­gungs­schutz­pro­zes­se, der durch die In­sol­venz der Air Ber­lin aus­ge­löst wur­den: BAG, Ur­teil vom 13.02.2020, 6 AZR 146/19.

Recht­zei­ti­ge An­zei­ge ei­ner be­vor­ste­hen­den Mas­sen­ent­las­sung - aber wo?

Vor ei­ner größeren Ent­las­sungs­wel­le, die ge­setz­lich in § 17 Abs.1 Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) de­fi­niert ist, müssen Un­ter­neh­men die ge­plan­ten Ent­las­sun­gen mit ih­rem Be­triebs­rat be­spre­chen (Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren), und sie sind ver­pflich­tet, "der" Agen­tur für Ar­beit An­zei­ge zu er­stat­ten (Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge).

§ 17 KSchG setzt ei­ne EU-Richt­li­nie um, die Richt­li­nie 98/59/EG (Mas­sen­ent­las­sungs­richt­li­nie - MERL). Wel­che or­ga­ni­sa­to­ri­schen Ein­hei­ten ei­nes größeren Un­ter­neh­mens als „Be­trieb“ im Sin­ne von § 17 KSchG an­zu­se­hen sind, rich­tet sich da­her nach dem vom EuGH ent­wi­ckel­ten Be­triebs­be­griff im Sin­ne der Richt­li­nie 98/59/EG.

An­ders als der Be­triebs­be­griff, der dem deut­schen Ar­beits­recht und hier v.a. dem Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­setz (Be­trVG) zu­grun­de liegt, kommt es für ei­nen "Be­trieb" im Sin­ne des EuGH nicht un­be­dingt dar­auf an, dass es ei­ne star­ke Lei­tungs­macht gibt, die über Ein­stel­lun­gen und Ent­las­sun­gen ent­schei­den kann. Da­her hat der EuGH Fi­lia­len ei­nes Ein­zel­han­dels­un­ter­neh­mens als „Be­trie­be“ an­ge­se­hen, ob­wohl dort nur ei­ni­ge we­ni­ge Ar­beit­neh­mer beschäftigt wa­ren und al­le Per­so­nal­an­ge­le­gen­hei­ten von der Un­ter­neh­mens­zen­tra­le aus ge­steu­ert wur­den (EuGH, Ur­teil vom 30.04.2015, C-80/14 - USDAW, Rn.45-47).

Da­her muss ei­ne be­trieb­li­che Ein­heit, für die ein Be­triebs­rat nach dem deut­schen Be­triebs­ver­fas­sungs­ge­setz (Be­trVG) zuständig ist, nicht un­be­dingt die Or­ga­ni­sa­ti­ons­ein­heit sein, für die gemäß § 17 Abs.1 KSchG ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zu er­stat­ten ist. Reicht der Ar­beit­ge­ber die An­zei­ge aber (nur) bei ei­ner ört­lich un­zuständi­gen Ar­beits­agen­tur ein, sind die auf die­ser Grund­la­ge später erklärten Kündi­gun­gen un­wirk­sam.

Mas­sen­ent­las­sun­gen bei der in­sol­ven­ten Air Ber­lin

Die Flug­ge­sell­schaft Air Ber­lin, die 2017 in­sol­vent wur­de, un­ter­hielt deutsch­land­weit an zehn Flughäfen sog. Sta­tio­nen. Die Ar­beit­neh­mer der drei Be­leg­schafts­grup­pen Cock­pit, Ka­bi­ne und Bo­den wa­ren per Ar­beits­ver­trag je­weils ei­ner die­ser Sta­tio­nen zu­ge­ord­net.

Der Flug­be­trieb und da­mit der Be­reich Cock­pit wur­den sta­ti­onsüberg­rei­fend von Ber­lin aus ge­steu­ert. Ent­spre­chend die­ser zen­tra­len Steue­rung hat­te Air Ber­lin auf der Grund­la­ge von § 117 Abs.2 Satz 1 Be­trVG mit der Ge­werk­schaft ver.di den "Ta­rif­ver­trag Per­so­nal­ver­tre­tung (TVPV) Cock­pit" ver­ein­bart, der ei­ne be­son­de­re be­trieb­li­che Per­so­nal­ver­tre­tung für Pi­lo­ten vor­sieht (PV Cock­pit). Ent­spre­chen­de Ta­rif­verträge bzw. Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tun­gen be­stan­den auch für das Ka­bi­nen­per­so­nal und für die am Bo­den täti­gen Ar­beit­neh­mer.

Nach­dem am 01.11.2017 das In­sol­venz­ver­fah­ren eröff­net wor­den war (zunächst in Ei­gen­ver­wal­tung), teil­te die Geschäfts­lei­tung der PV Cock­pit mit, dass man den Flug­be­trieb ein­stel­len und al­le Pi­lo­ten be­triebs­be­dingt kündi­gen wol­le. In ei­nem In­ter­es­sen­aus­gleich von Mit­te No­vem­ber 2017 bestätig­te die PV Cock­pit, dass ein Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren gemäß § 17 Abs.2 KSchG durch­geführt wor­den war. Kurz dar­auf er­stat­te­te die Geschäfts­lei­tung bei der Agen­tur für Ar­beit Ber­lin Nord ei­ne Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge und über­reich­te als An­la­ge den In­ter­es­sen­aus­gleich, den man mit der PV Cock­pit ver­ein­bart hat­te.

Ein in­sol­venz­be­dingt gekündig­ter Pi­lot, der zur Sta­ti­on Düssel­dorf gehörte, er­hob Kündi­gungs­schutz­kla­ge. Da­mit hat­te er we­der vor dem Ar­beits­ge­richt (ArbG) Düssel­dorf noch in der Be­ru­fung vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Düssel­dorf Er­folg (ArbG Düssel­dorf, Ur­teil vom 20.04.2018, 4 Ca 6911/17; LAG Düssel­dorf, Ur­teil vom 08.01.2019, 3 Sa 338/18). Bei­de Ge­rich­te hiel­ten die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge für kor­rekt.

BAG: Wel­che Ar­beits­agen­tur für die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge zuständig ist, rich­tet sich nach dem eu­ro­pa­recht­li­chen Be­triebs­be­griff

Das BAG gab dem Pi­lo­ten Recht, d.h. es stell­te die Un­wirk­sam­keit der Kündi­gung vom 28.11.2017 fest. Zur Be­gründung heißt es:

Die von Air Ber­lin un­ter­hal­te­nen Sta­tio­nen wa­ren Be­trie­be im Sin­ne des eu­ro­pa­recht­li­chen Be­triebs­be­griffs und da­mit im Sin­ne von § 17 Abs.1 KSchG. Die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge für die Pi­lo­ten der Sta­ti­on Düssel­dorf, der der kla­gen­de Pi­lot zu­ge­ord­net war, hätte da­her bei der Düssel­dor­fer Ar­beits­agen­tur er­stat­ten wer­den müssen. Durch die An­zei­ge soll die Ar­beits­agen­tur in­for­miert wer­den, in de­ren Be­zirk sich die Mas­sen­ent­las­sung aus­wirkt, hier al­so die Düssel­dor­fer Ar­beits­agen­tur und nicht die Ar­beits­agen­tur Ber­lin Nord.

Außer­dem hätte die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge nicht auf das Cock­pit­per­so­nal be­schränkt wer­den dürfen, son­dern hätte auch das der Sta­ti­on Düssel­dorf zu­ge­ord­ne­te Bo­den- und Ka­bi­nen­per­so­nal er­fas­sen müssen. An die­ser Stel­le hat­te Air Ber­lin den Feh­ler ge­macht, sich an den drei Ar­beit­neh­mer­grup­pen Cock­pit, Ka­bi­ne und Bo­den zu ori­en­tie­ren, denn die­se drei Grup­pen wur­den ja bei Air Ber­lin durch drei ge­trenn­te Per­so­nal­ver­tre­tun­gen ver­tre­ten. Für den Be­triebs­be­griff gemäß § 17 Abs.1 KSchG spielt das aber kei­ne Rol­le.

Fa­zit: Da die Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge bei ei­ner ört­lich un­zuständi­gen Ar­beits­agen­tur ein­ge­reicht wor­den war und außer­dem nicht die er­for­der­li­chen An­ga­ben ent­hielt, war die hier strei­ti­ge Kündi­gung des Pi­lo­ten un­wirk­sam.

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Letzte Überarbeitung: 16. November 2021

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