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ARBEITSRECHT AKTUELL // 10/209

Lohn un­ter Hartz IV - Ni­veau ist sit­ten­wid­rig

So­zi­al­ge­richt Ber­lin de­fi­niert ab­so­lu­te Lohn­un­ter­gren­ze: So­zi­al­ge­richt Ber­lin, Be­schluss vom 01.09.2010, S 55 AS 24521/10
Ausgestülpte leere Hosentasche mit Hand So­zi­al­ge­richt stellt sich hin­ter ALG-II Emp­fän­ger und ge­gen (sit­ten­wid­rig) nied­ri­ge Löh­ne
26.10.2010. Die ar­beits­ge­richt­li­che Recht­spre­chung neigt da­zu, den Ver­hand­lungs­küns­ten von Ta­rif­part­nern sehr zu ver­trau­en. Bei der Fra­ge, wie ge­ring Löh­ne (noch) sein dür­fen, oh­ne sit­ten­wid­rig zu sein, ori­en­tie­ren sie sich eng an Ta­rif­ver­trä­gen und le­gen ei­nen re­la­ti­ven Maß­stab an. Doch zu­gleich ist un­ge­klärt, wann Ta­rif­ver­trä­ge sit­ten­wid­rig sind. Mit an­de­ren Wor­ten: Kaum ein Ge­richt nennt kla­re, ab­so­lu­te Un­ter­gren­zen.

Das So­zi­al­ge­richt Ber­lin ist hier ei­ne der we­ni­gen Aus­nah­men: So­zi­al­ge­richt Ber­lin, Be­schluss vom 01.09.2010, S 55 AS 24251/10.

Wie nied­rig dürfen Löhne sein?

Im Ar­beits­recht gilt eben­so wie im übri­gen Zi­vil­recht der Grund­satz der Ver­trags­frei­heit. Al­le Ver­trags­be­stand­tei­le, al­so auch die Vergütung, können da­her - je­den­falls theo­re­tisch - zwi­schen den Ver­trags­par­tei­en frei ver­ein­bart wer­den. Da der Ar­beit­ge­ber bei Ge­halts­ver­hand­lun­gen ty­pi­scher­wei­se "am länge­ren He­bel sitzt", gibt es je­doch auch hier Gren­zen.

Die be­kann­tes­te und gleich­zei­tig wich­tigs­te dürf­te die Sit­ten­wid­rig­keit des Ar­beits­ent­gelts sein. Gemäß § 138 Bürger­li­ches Ge­setz­buch (BGB) ist ein Rechts­geschäft, das ge­gen die gu­ten Sit­ten verstößt, nich­tig. Bei ei­nem sit­ten­wid­ri­gen Lohn ist dann al­ler­dings nicht der kom­plet­te Ar­beits­ver­trag son­dern nur die Lohn­ver­ein­ba­rung recht­lich un­wirk­sam. Sie wird dann gemäß § 612 Abs. 2 BGB durch die "übli­che Vergütung" er­setzt.

Sit­ten­wid­rig ist nach ei­ner schwam­mi­gen, aber weit ver­brei­te­ten For­mu­lie­rung, was ge­gen "das An­stands­gefühl al­ler bil­lig und ge­recht Den­ken­den" verstößt. Für den Be­reich der ar­beits­ver­trag­li­chen Ent­gelt­ver­ein­ba­rung wird das an­ge­nom­men, wenn ein "auffälli­ges Miss­verhält­nis zwi­schen Leis­tung und Ge­gen­leis­tung" vor­liegt.

Aus Sicht des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG, Ur­teil vom 24.03.2004, 5 AZR 303/03) ist da­bei der Wert der Leis­tung des Ar­beit­neh­mers nach ih­rem ob­jek­ti­ven Wert zu be­ur­tei­len. So­wohl das so­zi­al­recht­li­che Ab­stands­ge­bot, das ei­nen be­stimm­ten Ab­stand zwi­schen dem Ar­beits­ent­gelt und dem So­zi­al­hil­fe­satz vor­schreibt, als auch zi­vil­pro­zes­sua­le Pfändungs­gren­zen sol­len hin­ge­gen kei­ne Rol­le spie­len. Da­hin­ter steht die Über­le­gung, dass bei ex­trem ge­rin­ger Vergütung ein An­spruch auf ergänzen­de So­zi­al­hil­fe­leis­tun­gen be­steht.

Aus­gangs­punkt für die Fest­stel­lung des Werts der Ar­beits­leis­tung sind da­her in der Re­gel die "ge­leb­ten", al­so tatsächlich übli­cher­wei­se ge­zahl­ten Ta­riflöhne des je­wei­li­gen Wirt­schafts­zweigs im Wirt­schafts­ge­biet. Gibt es sol­che nicht, wird von dem all­ge­mei­nen Lohn­ni­veau in die­sem Be­reich aus­ge­gan­gen. Wie weit der ver­ein­bar­te Ar­beits­lohn den so be­stimm­ten "Maßstabs­lohn" un­ter­schrei­ten muss, ist höchst­ge­richt­lich noch nicht ent­schie­den. Die In­stanz­ge­rich­te ge­hen da­von aus, dass ein auffälli­ges Miss­verhält­nis bei ei­nem Lohn vor­liegt, der zwei Drit­tel des Ta­rif­lohns un­ter­schrei­tet.

Pro­ble­ma­ti­scher­wei­se geht das BAG zu­gleich da­von aus, dass ein ta­rif­ver­trag­lich ver­ein­bar­tes Ar­beits­ent­gelt nur dann als sit­ten­wid­rig be­an­stan­det wer­den kann, wenn der Ta­rif­lohn un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des ta­rif­li­chen Gel­tungs­be­reichs so­wie der im Gel­tungs­be­reich des Ta­rif­ver­trags zu ver­rich­ten­den Tätig­kei­ten ei­nen (Zi­tat:) "Hun­ger­lohn" dar­stellt.

Doch glück­li­cher­wei­se tei­len nicht al­le Ge­rich­te die Auf­fas­sung des BAG: So­zi­al­ge­richt (SG) Ber­lin, Ur­teil vom 01.09.2010, S 55 AS 24521/10.

Der Fall: 38,5 St­un­den pro Wo­che / 1.000,00 Eu­ro im Mo­nat

Die An­trag­stel­le­rin be­zieht Ar­beits­lo­sen­geld II und wehr­te sich im Ver­fah­ren des einst­wei­li­gen Rechts­schut­zes ge­gen die Re­du­zie­rung der ihr be­wil­lig­ten Leis­tun­gen. Das zuständi­ge Job­cen­ter hat­te die Kürzung un­ter an­de­rem da­mit be­gründet, dass sie ein Ver­mitt­lungs­an­ge­bot als Hel­fe­rin im Gar­ten­bau ab­ge­lehnt hat­te. Sie hätte dort bei 38,5 Wo­chen­stun­den ei­nen Mo­nats­lohn von 1.000 € er­hal­ten.

So­zi­al­ge­richt Ber­lin: Löhne müssen ge­eig­net sein, die ei­ge­ne Exis­tenz men­schenwürdig ab­zu­si­chern - die­ser hier ist es nicht

Das So­zi­al­ge­richt (SG) Ber­lin gab der An­trag­stel­le­rin vorläufig, d.h. bis zu ei­ner endgülti­gen Klärung in der Haupt­sa­che, Recht. Da ei­ne an­de­re Kam­mer des SG Ber­lin aber schon vor ei­ni­gen Jah­ren im glei­chen Sin­ne ent­schie­den hat­te, dürf­te sich dort nichts An­de­res er­ge­ben.

Das Ge­richt ver­trat die Auf­fas­sung, die an­ge­bo­te­ne Ar­beits­ge­le­gen­heit sei un­zu­mut­bar, denn die dort in Aus­sicht ge­stell­te Vergütung sei sit­ten­wid­rig.

In sei­ner Ent­schei­dungs­be­gründung geht es von ei­nem auffälli­gen Miss­verhält­nis zwi­schen Leis­tung und Ge­gen­leis­tung aus, wenn der an­ge­bo­te­ne Lohn bei Voll­zeit­ar­beit un­ter dem Grund­si­che­rungs­ni­veau für ei­ne volljähri­ge al­lein­ste­hen­de Per­son oh­ne Un­ter­halts­ver­pflich­tun­gen, bei grund­si­che­rungs­recht­lich an­ge­mes­se­ner Un­ter­kunft und bei un­ein­ge­schränk­ter Er­werbsfähig­keit liegt. Nach die­sem Maßstab sei für Ber­lin bei Voll­zeit­beschäfti­gung ei­ne Vergütung sit­ten­wid­rig, die un­ter 804,12 € net­to / 1035 € brut­to liegt.

Die deut­sche Ver­fas­sungs- und Rechts­ord­nung to­le­rie­re kei­ne Ar­beits­vergütung, die dem Ar­beit­ge­ber bei voll­schich­ti­ger Beschäfti­gung und durch­schnitt­li­cher Ar­beits­leis­tung die Ab­si­che­rung be­reits der ei­ge­nen men­schenwürdi­gen Exis­tenz nicht er­laubt, so das Ge­richt un­ter Hin­weis auf die ALG II - Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (Ur­teil vom 09.02.2010, 1 BvL 1/09 u.a.).

Die An­trag­stel­le­rin sei auch nicht ge­zwun­gen, die Stel­le an­zu­neh­men, und sich dann ar­beits­ge­richt­lich ei­nen an­ge­mes­se­nen Lohn zu er­strei­ten. Die Rechtmäßig­keit des Stel­len­an­ge­bots sei viel­mehr vor­ab von der So­zi­al­ver­wal­tung von Amts we­gen zu prüfen.

Fa­zit: Die Ent­schei­dung ist völlig rich­tig.

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Letzte Überarbeitung: 16. November 2020

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