HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom 06.09.2010, 4 Sa 18/10

   
Schlagworte: Diskriminierung: Behinderung, Schwerbehinderung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Aktenzeichen: 4 Sa 18/10
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 06.09.2010
   
Leitsätze:

1. Die Pflicht zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch entfällt nicht deswegen, weil die ausgeschriebene Stelle als Mutterschaftsvertretung neu zu besetzen ist (§ 82 Satz 1 iVm § 72 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX).

2. Macht ein schwerbehinderter Bewerber im Bewerbungsschreiben unklare Angaben über den Grad und die Art seiner Behinderung, so trifft den Arbeitgeber keine Pflicht, sich im Hinblick auf § 1 AGG über den Grad und die Art der Behinderung zu erkundigen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Pforzheim, Urteil vom 9.03.2010, 1 Ca 584/09
Nachgehend Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.10.2011, 8 AZR 608/10
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ba­den-Würt­tem­berg

 

Verkündet

am 06.09.2010

Ak­ten­zei­chen (Bit­te bei al­len Schrei­ben an­ge­ben)

4 Sa 18/10

1 Ca 584/09 (ArbG Pforz­heim)

Ißler, An­ge­stell­te
Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

Im Na­men des Vol­kes

 

Ur­teil

In dem Rechts­streit

- Kläger/Be­ru­fungskläger -

ge­gen

- Be­klag­te/Be­ru­fungs­be­klag­te -

hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ba­den-Würt­tem­berg - 4. Kam­mer - durch den Vi­ze­präsi­den­ten des Lan­des­ar­beits­ge­richts Dr. Nat­ter, den eh­ren-amt­li­chen Rich­ter Schulz und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter St­ein
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 06.09.2010

für Recht er­kannt:

1. Die Be­ru­fung des Klägers ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Pforz­heim - vom 09.03.2010 - 1 Ca 584/09- wird zurück­ge­wie­sen.

2. Der Kläger trägt die Kos­ten der Be­ru­fung.

3. Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

 

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Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten darüber, ob die Be­klag­te dem Kläger ei­ne Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG zu zah­len hat.

Der am 23. März 1964 ge­bo­re­ne, le­di­ge Kläger ab­sol­vier­te von 1982 bis 1985 ei­ne Be­rufs-aus­bil­dung als Großhan­dels­kauf­mann. Dar­an an­sch­ließend er­warb er im Jahr 1987 die Fach­hoch­schul­rei­fe. Von 1987 bis 1992 stu­dier­te der Kläger Be­triebs­wirt­schafts­leh­re an der Fach­hoch­schu­le F.. Er er­warb den Ab­schluss als Dipl.-Be­triebs­wirt FH. Von 1992 bis 1996 übte der Kläger ver­schie­de­ne Tätig­kei­ten aus. Von 1996 bis 1998 ab­sol­vier­te er ei­ne wei­te­re Be­rufs­aus­bil­dung als Che­misch-Tech­ni­scher As­sis­tent. Dar­an an­sch­ließend übte er er­neut ver­schie­de­ne Tätig­kei­ten aus.

Von Sep­tem­ber 2004 bis Au­gust 2005 nahm der Kläger am prak­ti­schen Einführungs­jahr für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst bei der Ge­mein­de H. teil. Von Sep­tem­ber 2005 bis Sep-tem­ber 2008 stu­dier­te er an der Fach­hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung in K.. Im Haupt-stu­di­um wähl­te er das Fach Wirt­schaft mit dem Wahl­pflicht­fach Rech­nungs­we­sen. Am 17. Sep­tem­ber 2008 leg­te der Kläger die Staats­prüfung für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst mit der Ge­samt­no­te be­frie­di­gend (7 Punk­te) ab.

Der Kläger ist seit 23. Sep­tem­ber 1997 schwer­be­hin­dert mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 60 %. Er lei­det an ei­nem es­sen­ti­el­len Tre­mor, der nicht be­hand­lungs­bedürf­tig ist.

Im Som­mer 2009 schrieb die Be­klag­te ei­ne Stel­le für die Be­rei­che Per­so­nal­we­sen, Bau­leit-pla­nung, Lie­gen­schaf­ten und Ord­nungs­amt aus. Die Stel­le war als Mut­ter­schafts­ver­tre­tung zu be­set­zen. Für das ge­nann­te Auf­ga­ben­ge­biet such­te die Be­klag­te ei­ne/n Mit­ar­bei­ter/in mit der Qua­li­fi­ka­ti­on des ge­ho­be­nen nicht­tech­ni­schen Ver­wal­tungs­diens­tes und um­fas­sen­den Kennt­nis­sen. Die Vergütung soll­te nach dem TVöD er­fol­gen. Die Be­klag­te ist ei­ne Ge­mein­de mit 3.700 Ein­woh­nern. In der Ver­wal­tung sind ins­ge­samt 12 Beschäftig­te bei 8 Stel­len tätig.

Mit Schrei­ben vom 8. Ju­li 2009 be­warb sich der Kläger um die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le. Nach sei­ner Staats­prüfung hat­te sich der Kläger be­reits um zahl­rei­che Stel­len be­wor­ben, je­doch durch­weg oh­ne Er­folg. In sei­nem ausführ­li­chen Be­wer­bungs­schrei­ben führ­te der Kläger am En­de fol­gen­des aus:

„Durch mei­ne Be­hin­de­rung bin ich, ins­be­son­de­re im Ver­wal­tungs­be­reich, nicht ein­ge-schränkt.“

 

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Mit dem Be­wer­bungs­ver­fah­ren war bei der Be­klag­ten Frau U. Ma. be­traut. Frau Ma. hat­te eben­falls die Fach­hoch­schu­le K. be­sucht und kann­te den Kläger flüch­tig. Hier­bei hat­te Frau Ma. den Ein­druck ge­won­nen, dass sich der Kläger an­de­ren Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten auf­drängt. Über die­sen Ein­druck un­ter­rich­te­te sie den Bürger­meis­ter der Be­klag­ten. Die­ser kam dar­auf­hin zur Über­zeu­gung, dass der Kläger nicht berück­sich­tigt wer­den könne. Im wei­te­ren Ver­lauf des Be­wer­bungs­ver­fah­rens wur­den von den ca. 10 ein­ge­gan­ge­nen Be­wer­bun­gen zwei Be­wer­ber zur Vor­stel­lung beim Ge­mein­de­rat aus­gewählt. Ein­ge­stellt wur­de Frau D.M. Frau D.M. hat­te ihr Staats­ex­amen mit 8 Punk­ten be­stan­den. Sie hat­te während des Haupt­stu­di­ums den Be­reich „Ver­wal­tung“ und das Schwer­punkt­fach Kom­mu­nal­po­li­tik gewählt. Mit Schrei­ben vom 30. Ju­li 2009 teil­te die Be­klag­te dem Kläger mit, dass die Aus­wah­l­ent­schei­dung nicht zu sei­nen Guns­ten aus­ge­fal­len sei.

Mit An­walts­schrei­ben vom 14. Au­gust 2009 teil­te der Kläger mit, dass er seit dem 23. Sep-tem­ber 1997 ei­nen Grad der Be­hin­de­rung von 60 % auf­wei­se. Er rügte, dass er nicht zu ei-nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den wor­den sei. Vor­sorg­lich mach­te der Kläger Scha­den-er­satz­ansprüche nach § 15 AGG gel­tend. Mit wei­te­rem An­walts­schrei­ben vom 10. Sep­tem­ber 2009 be­an­spruch­te der Kläger ei­ne Entschädi­gung in Höhe von drei Mo­nats­gehältern.

Mit Ant­wort­schrei­ben vom 24. Sep­tem­ber 2009 teil­te die Be­klag­te u.a. mit, dass die Ein­la­dung zum Vor­stel­lungs­gespräch ent­behr­lich ge­we­sen sei, weil dem Kläger die fach­li­che Eig­nung of­fen­sicht­lich ge­fehlt ha­be. Mit An­walts­schrei­ben vom 25. Sep­tem­ber 2009 wi­der­sprach der Kläger die­ser Auf­fas­sung. Der wei­te­re Schrift­wech­sel zwi­schen den Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten vom 2. Ok­to­ber und 7. Ok­to­ber 2009 blieb er­geb­nis­los.

Im An­schluss an das vor­lie­gen­de Be­wer­bungs­ver­fah­ren mach­te der Kläger auch ge­genüber an­de­ren öffent­lich-recht­li­chen Körper­schaf­ten Ansprüche auf Entschädi­gung nach § 15
Abs. 2 AGG gel­tend. Im Zeit­punkt der Be­ru­fungs­ver­hand­lung (6. Sep­tem­ber 2010) hat­te der Kläger in 27 Fällen Entschädi­gungs­ansprüche gel­tend ge­macht. In den Be­wer­bungs­ver­fah­ren hat­te der Kläger teils - wie hier - auf ei­ne Be­hin­de­rung, teils aber auch auf ei­ne Schwer-be­hin­de­rung hin­ge­wie­sen. Ei­ni­ge Ver­fah­ren wur­den außer­ge­richt­lich bei­ge­legt. In zahl­rei­chen an­de­ren Fällen sind je­doch noch Ver­fah­ren vor den Ar­beits­ge­rich­ten und den Ver­wal­tungs­ge­rich­ten anhängig. We­gen der Ein­zel­hei­ten wird auf die An­la­ge zum Schrift­satz der Be­klag­ten vom 26. Au­gust 2010 ver­wie­sen.

Mit sei­ner am 26. Ok­to­ber 2009 beim Ar­beits­ge­richt Frei­burg ein­ge­gan­ge­nen Kla­ge hat der Kläger die Zah­lung ei­ner an­ge­mes­se­nen Entschädi­gung, min­des­tens je­doch in Höhe von

 

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drei Brut­to­mo­nats­gehältern (= € 6.689,85) be­gehrt. Mit Be­schluss vom 11. No­vem­ber 2009 ver­wies das Ar­beits­ge­richt Frei­burg den Rechts­streit an das ört­lich zuständi­ge Ar­beits­ge­richt Pforz­heim.

Der Kläger hat vor­ge­tra­gen, er sei trotz sei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den wor­den. Dies be­gründe die Ver­mu­tung, dass er we­gen sei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt wor­den sei.

Der Kläger hat be­an­tragt,

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung, min­des­tens je­doch in Höhe von € 6.689,85 nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 26. Sep­tem­ber 2009 zu be­zah­len.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Sie hat vor­ge­tra­gen, es tref­fe zu, dass der Kläger nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein-ge­la­den wor­den sei. Hier­zu sei sie aber auch nicht ver­pflich­tet ge­we­sen. Die Stel­le sei als Mut­ter­schafts­ver­tre­tung für die Beschäftig­te B.W. aus­ge­schrie­ben wor­den. Nach
§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGG IX zähle der Ar­beits­platz da­her nicht zu den Ar­beitsplätzen im Sin­ne des § 82 SGB IX. Zu­dem ha­be der Kläger sie nicht auf sei­ne Schwer­be­hin­de­rung hin­ge­wie­sen. Er ha­be am En­de sei­nes Be­wer­bungs­schrei­bens le­dig­lich ver­steckt erwähnt, dass er durch sei­ne Be­hin­de­rung nicht ein­ge­schränkt sei. Der Kläger ken­ne den Un­ter­schied zwi­schen ei­ner Be­hin­de­rung und ei­ner Schwer­be­hin­de­rung. Dies le­ge die Ver­mu­tung na­he, dass es der Kläger dar­auf an­ge­legt ha­be, ei­ne Entschädi­gung we­gen an­geb­li­cher Dis­kri­mi­nie­rung zu be­an­spru­chen. Sch­ließlich sei der Kläger für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le auch fach­lich of­fen­sicht­lich nicht ge­eig­net ge­we­sen. Der Schwer­punkt sei­nes Stu­di­ums sei das Fach Rech­nungs­we­sen ge­we­sen. Die­se Aus­rich­tung sei ei­ne ganz an­de­re als im An­for­de­rungs­pro­fil für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le. Die Be­hin­de­rung des Klägers sei nicht aus­schlag­ge­bend dafür ge­we­sen, dass der Kläger nicht berück­sich­tigt wor­den sei. Viel­mehr ha­be sie auf­grund des von Frau Ma. ge­schil­der­ten Ver­hal­tens des Klägers die Über­zeu­gung ge­won­nen, dass die­ser für die Stel­le nicht ge­eig­net sei.

Der Kläger hat er­wi­dert, Frau Ma. ha­be auf­grund der ge­mein­sa­men Stu­di­en­zeit ge­wusst, dass er schwer­be­hin­dert sei. Dies er­ken­ne man auch oh­ne wei­te­res an sei­nem Tre­mor. Au-

 

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ßer­dem sei die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft auch des­we­gen er­kenn­bar ge­we­sen, weil er auf­grund sei­nes fort­ge­schrit­te­nen Al­ters nur als Schwer­be­hin­der­ter die Zu­las­sung zum Stu-di­um ha­be er­hal­ten können. Auf­grund der ab­ge­leg­ten Staats­prüfung sei er für die aus­ge-schrie­be­ne Stel­le nicht of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net ge­we­sen.

Die Be­klag­te hat er­wi­dert, Frau Ma. sei die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft des Klägers nicht be­kannt ge­we­sen. Sie ha­be auch nicht auf­grund des Al­ters des Klägers den Schluss zie­hen müssen, dass die­ser schwer­be­hin­dert sei. Denn die Zu­las­sung zum Stu­di­um an der Fach-hoch­schu­le K. er­hiel­ten auch an­de­re älte­re Per­so­nen.

Mit Ur­teil vom 9. März 2010 hat das Ar­beits­ge­richt die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Zur Be­gründung hat das Ar­beits­ge­richt aus­geführt, die Be­klag­te ha­be den Kläger nicht zu ei­nem Vors­tel-lungs­gespräch ein­la­den müssen, weil die­ser nicht auf sei­ne Schwer­be­hin­de­rung hin­ge­wie­sen ha­be. Die Be­klag­te ha­be auch nicht da­von aus­ge­hen müssen, dass der Kläger schwer-be­hin­dert sei. Ne­ben der Schwer­be­hin­de­rung ge­be es wei­te­re Aus­nah­me­tat­bestände für die Zu­las­sung zum Stu­di­um. Die vollständi­ge Kennt­nis der Zu­las­sungs­vor­schrif­ten könne von der Be­klag­ten nicht ver­langt wer­den.

Ge­gen das ihm am 13. April 2010 zu­ge­stell­te Ur­teil hat der Kläger am 7. Mai 2010 Be­ru­fung ein­ge­legt und die­se am 21. Mai 2010 be­gründet. Er trägt vor, er ha­be aus­rei­chen­de In­di­zi­en vor­ge­tra­gen, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen sei­ner Schwer­be­hin­de­rung ver­mu­ten ließen. Da­zu zähle die un­ter­las­se­ne Mel­dung der frei­en Stel­le bei der Bun­des­agen­tur für Ar­beit, die feh­len­de Ein­la­dung zum Vor­stel­lungs­gespräch, die un­ter­las­se­ne Un­ter­rich­tung des Per­so-nal­rats und der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung über sei­ne Be­wer­bung so­wie die feh­len­de Un-ter­rich­tung über die Ab­leh­nungs­gründe. Die Be­klag­te ha­be in der Per­son von Frau Ma. ge-wusst, dass er schwer­be­hin­dert sei. Zu­min­dest ha­be die Be­klag­te sei­ne Schwer­be­hin­der-ten­ei­gen­schaft auf­grund der Zu­las­sungs­be­stim­mun­gen zur Aus­bil­dung für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst ken­nen müssen. So­weit die Be­klag­te die Auf­fas­sung ver­tre­te, die aus­ge-schrie­be­ne Stel­le sei kein Ar­beits­platz im Sin­ne des § 73 SGB IX, sei dies un­zu­tref­fend. Die Vor­schrift des § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX die­ne aus­sch­ließlich dem Zweck, bei der Er­mitt­lung der Schwer­be­hin­der­ten­quo­te Dop­pelzählun­gen zu ver­mei­den. Er sei für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le auch nicht of­fen­sicht­lich un­ge­eig­net ge­we­sen. Sch­ließlich sei sei­ne Be­wer­bung auch nicht rechts­miss­bräuch­lich. Er ha­be nach Ab­le­gung des Staats­ex­amens ver­geb­lich ver­sucht, ei­ne Stel­le im öffent­li­chen Dienst zu be­kom­men. In der Zeit vom 12. Ja­nu­ar bis
31. März 2010 ha­be er - was un­strei­tig ist - ei­ne Stel­le bei ei­nem öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber in Ober­bay­ern in­ne­ge­habt. Nach Kündi­gung die­ses Ar­beits­verhält­nis­ses durch den Ar­beit­ge­ber

 

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sei er wie­der ar­beits­los. Ei­ne Entschädi­gung in Höhe von drei Mo­nats­gehältern sei an­ge­mes­sen.

Der Kläger be­an­tragt:

1. Das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Pforz­heim (1 Ca 584/09) wird auf­ge­ho­ben.

2. Die Be­klag­te wird ver­ur­teilt, an den Kläger ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi-gung, min­des­tens je­doch in Höhe von € 6.689,85 nebst 5 % Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 26. Sep­tem­ber 2009 zu be­zah­len.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Sie trägt vor, Frau Ma. sei de­fi­ni­tiv nicht be­kannt ge­we­sen, dass der Kläger schwer­be­hin­dert sei. Der Kläger ha­be le­dig­lich am Ran­de auf ei­ne „Be­hin­de­rung“ hin­ge­wie­sen. Auch aus dem Um­stand, dass der Kläger älter als die übri­gen Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten ge­we­sen sei, ha­be Frau Ma. nicht auf ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft schließen müssen. Sie blei­be bei ih­rer Auf­fas­sung, dass der aus­ge­schrie­be­ne Ar­beits­platz nicht als Ar­beits­platz im Sin­ne des § 82 SGB IX an­zu­se­hen sei. Vor­sorg­lich be­strei­te sie die Höhe der Entschädi­gung.

We­gen der Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stands wird gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den In­halt der ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie auf die Pro­to­kol­le über die münd­li­chen Ver­hand­lun­gen ver­wie­sen. In der Be­ru­fungs­ver­hand­lung hat die Be­klag­te vor­ge­tra­gen, bei ihr be­ste­he we­der ein Per­so­nal­rat noch ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung. Der Kläger hat dies mit Nicht­wis­sen be­strit­ten. Die Kam­mer hat dar­auf­hin Be­weis er­ho­ben über die be­strit­te­ne Be­haup­tung der Be­klag­ten, bei ihr be­ste­he we­der ein Per­so­nal­rat noch ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung, durch die Ver­neh­mung der Zeu­gin Ma. We­gen des In­halts der Zeu­gen­aus­sa­ge wird auf das Pro­to­koll über die Sit­zung vom 6. Sep­tem­ber 2010 ver­wie­sen. Außer­dem hat der Kläger die in der Be­ru­fung er­wei­ter­te Kla­ge, die Be­klag­te zur Zah­lung von außer­ge­richt­li­chen An­walts­kos­ten in Höhe von € 313,86 zu ver­ur­tei­len, in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung zurück­ge­nom­men.

 

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Ent­schei­dungs­gründe

I.

Die Be­ru­fung ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG statt­haft. Sie ist auch gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der ge­setz­li­chen Form und Frist ein­ge­legt und be­gründet wor­den. Ge­gen­stand der Be­ru­fung ist nur der An­trag auf Zah­lung ei­ner an­ge­mes­se­nen Entschädi­gung gemäß § 15 Abs. 2 AGG. So­weit der Kläger die Kla­ge in der Be­ru­fung um den An­trag er­wei­tert hat, außer­ge­richt­li­che An­walts­kos­ten in Höhe von € 313,86 zu be­zah­len, hat er die Kla­ge in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung wie­der zurück­ge­nom­men.

II.

Die Be­ru­fung des Klägers ist un­be­gründet. Das Ar­beits­ge­richt hat zu­tref­fend ent­schie­den, dass dem Kläger kein An­spruch auf Zah­lung ei­ner Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG zu-steht.

1. Die Kla­ge ist zulässig. Sie ist ins­be­son­de­re hin­rei­chend be­stimmt im Sin­ne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, auch wenn der Kläger die Höhe der von ihm be­gehr­ten Entschädi­gung in das Er­mes­sen des Ge­richts ge­stellt und le­dig­lich ei­ne Min­des­tentschädi­gung ver­langt hat. Nach § 15 Abs. 2 AGG kann ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­langt wer­den. So­mit wird dem Ge­richt hin­sicht­lich der Höhe der Entschädi­gung ein Be­ur­tei­lungs-spiel­raum ein­geräumt. Ist die Höhe des Be­tra­ges nach bil­li­gem Er­mes­sen des Ge­richts zu be­stim­men, ist ein un­be­zif­fer­ter Zah­lungs­an­trag zulässig. Al­ler­dings müssen die Tat­sa-chen, die das Ge­richt bei der Be­stim­mung des Be­tra­ges zu­grun­de­le­gen soll, be­nannt und die Größen­ord­nung des Be­tra­ges an­ge­ge­ben wer­den (zu­letzt BAG 18. März 2010 -
8 AZR 1044/08 - Ju­ris; BAG 24. Sep­tem­ber 2009 - 8 AZR 705/08 - NZA 2010, 387). Die­se Vor­aus­set­zun­gen sind im Streit­fall erfüllt.

2. Die Kla­ge ist je­doch un­be­gründet, weil der Kläger kei­nen Entschädi­gungs­an­spruch nach § 15 Abs. 2 AGG hat. Die Be­klag­te hat den Kläger nicht in dem Be­wer­bungs­ver­fah­ren „we­gen“ sei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt.

a) Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 AGG können Beschäftig­te, zu de­nen nach § 6 Abs. 1 Satz 2 auch Be­wer­ber für ein Beschäfti­gungs­verhält­nis zählen, we­gen ei­nes Scha­dens, der nicht Vermögens­scha­den ist, ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen. Der Entschädi­gungs­an­spruch setzt ei­nen Ver­s­toß ge­gen das Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot

 

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gemäß § 7 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit § 1 AGG vor­aus. Hier­nach dürfen Beschäftig­te u.a. nicht we­gen ei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt wer­den. Außer­dem be­stimmt § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, dass Ar­beit­ge­ber schwer­be­hin­der­te Beschäftig­te nicht we­gen ih­rer Be­hin­de­rung be­nach­tei­li­gen dürfen. Bei ei­ner Ver­let­zung des Be­nach­tei­li­gungs­ver­bots schul­det der Ar­beit­ge­ber nach § 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 AGG ei­ne an­ge­mes­se­ne Entschädi­gung in Geld, die drei Mo­nats­vergütun­gen nicht über­stei­gen darf, wenn der Beschäftig­te auch bei be­nach­tei­li­gungs­frei­er Aus­wahl nicht ein­ge­stellt wor­den wäre.

b) Zwi­schen den Par­tei­en steht außer Streit, dass der zeit­li­che und persönli­che An­wen-dungs­be­reich des All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes eröff­net ist. Eben­so ist un-strei­tig, dass der Kläger die Fris­ten für die schrift­li­che und ge­richt­li­che Gel­tend­ma­chung des An­spruchs nach § 15 Abs. 4 AGG und § 61 b Abs. 1 ArbGG ge­wahrt hat. Es lag auch ei­ne un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung des Klägers im Sin­ne des § 3 Abs. 1 AGG vor, weil er in ei­ner „ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on“ we­ni­ger güns­tig be­han­delt wur­de als die­je­ni­ge Be­wer­be­rin, die die Be­klag­te letzt­lich ein­ge­stellt hat. An ei­ner „ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on“ würde es nach der neue­ren Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts feh­len, wenn der Kläger von vorn­her­ein ob­jek­tiv für die aus­ge­schrie­be­ne Po­si­ti­on un­ge­eig­net ge­we­sen wäre (BAG 18. März 2010 - 8 AZR 77/09 - NZA 2010, 872; BAG 18. März 2010 - 8 AZR 1044/08 - NJW 2010, 2970). Maßgeb­lich für die ob­jek­ti­ve Eig-nung ist da­bei nicht das for­mel­le An­for­de­rungs­pro­fil des je­wei­li­gen Ar­beit­neh­mers, son­dern die An­for­de­run­gen, die an die je­wei­li­ge Tätig­keit nach der im Ar­beits­le­ben herr­schen­den Ver­kehrs­an­schau­ung ge­stellt wer­den. Dass der Kläger bei die­sem Maß-stab für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le ob­jek­tiv ge­eig­net war, lässt sich an­ge­sichts sei­ner Aus­bil­dung nicht in Ab­re­de stel­len.

c) Der Kläger hat an sich zwei hin­rei­chen­de In­di­zi­en im Sin­ne des § 22 AGG vor­ge­tra­gen, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen sei­ner Be­hin­de­rung ver­mu­ten las­sen.

aa) § 1 in Ver­bin­dung mit § 7 Abs. 1 AGG ver­bie­tet die Be­nach­tei­li­gung „we­gen“ ei­ner Be­hin­de­rung. Bei schwer­be­hin­der­ten Men­schen gilt ergänzend § 81 Abs. 2 SGB IX, wo­nach Ar­beit­ge­ber schwer­be­hin­der­te Beschäftig­te nicht we­gen ih­rer Be­hin­de­rung be­nach­tei­li­gen dürfen. Der Be­griff der Be­hin­de­rung ist wei­ter als der Be­griff der Schwer­be­hin­de­rung (Däubler/Bertz­bach AGG 2. Aufl. § 1 Rn. 74; Bau­er/Krie­ger/Göpfert AGG 2. Aufl. § 1 Rn. 39 ff; Wen­de­ling-Schröder/St­ein AGG § 1 Rn. 46). Be­hin­de­rung im Sin­ne des All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes ist nicht an ei­nen be­stimm­ten Grad der Be­hin­de­rung ge­knüpft. Der Be­griff er­fasst al­le Funk­ti­onsstörun­gen, die auf ei­ne psy­chi­sche, geis­ti­ge oder phy­si­sche Be­ein­träch

 

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ti­gung zurück­zuführen sind und die ein Hin­der­nis für die Teil­ha­be der be­tref­fen­den Per­son am Be­rufs­le­ben bil­den (EuGH 11. Ju­li 2006 - C-13/05 - NZA 2006, 839; BAG 22. Ok­to­ber 2009 - 8 AZR 642/08 - AP AGG § 15 Nr. 2 Rn. 20; BAG 3. April 2007 - 9 AZR 823/06 - AP SGB IX § 81 Nr. 14).

Das für schwer­be­hin­der­te Men­schen gel­ten­de Be­nach­tei­li­gungs­ver­bot nach § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ver­bie­tet eben­falls die Be­nach­tei­li­gung „we­gen“ der Be­hin-de­rung. Das Merk­mal er­for­dert zwar we­der ei­ne Be­nach­tei­li­gungs­ab­sicht noch ein Ver­schul­den des Ar­beit­ge­bers. Das un­zulässi­ge Un­ter­schei­dungs­merk­mal „Be­hin­de­rung“ muss aber für die be­nach­tei­li­gen­de Ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers (mit-) ursächlich ge­we­sen sein. Dies setzt vor­aus, dass der Ar­beit­ge­ber die Schwer­be­hin­de­rung des Stel­len­be­wer­bers zur Zeit der be­nach­tei­li­gen­den Maßnah­me kennt oder ken­nen muss­te. An­dern­falls ist ihm ein Ver­s­toß ge­gen § 81 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ob­jek­tiv nicht zu­re­chen­bar (BAG 18. No­vem­ber 2008 - 9 AZR 643/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 16; BAG 16. Sep­tem­ber 2008 - 9 AZR 791/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 15).

Be­weist im Streit­fall die ei­ne Par­tei In­di­zi­en, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen ei­nes in § 1 AGG ge­nann­ten Grun­des ver­mu­ten las­sen, so trägt die an­de­re Par­tei die Be­weis­last dafür, dass kein Ver­s­toß ge­gen die Be­stim­mun­gen zum Schutz vor Be­nach­tei­li­gung vor­ge­le­gen hat. Be­ruft sich die kla­gen­de Par­tei auf das Be­nach­tei­li­gungs­merk­mal der Be­hin­de­rung, so kom­men nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts ver­schie­de­ne In­di­zi­en in Be­tracht, die auf ei­ne Be­nach­tei­li-gung schließen las­sen (BAG, 15. Fe­bru­ar 2005 - 9 AZR 635/03 - AP SGB IX § 81 Nr. 7; BAG 12. Sep­tem­ber 2006 - 9 AZR 807/05 - und 18. No­vem­ber 2008 - 9 AZR 643/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 16; BAG 21. Ju­li 2009 - 9 AZR 431/08 - AP SGB IX § 82 Nr. 1).

bb) Nach § 81 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB IX sind die Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet zu prüfen, ob freie Ar­beitsplätze mit schwer­be­hin­der­ten Men­schen, ins­be­son­de­re mit bei der Agen­tur für Ar­beit ar­beits­los oder ar­beits­su­chend ge­mel­det sind, be­setzt wer­den können. Die Ar­beit­ge­ber ha­ben frühzei­tig Ver­bin­dung mit der Agen­tur für Ar­beit auf­zu­neh­men. Für öffent­li­che Ar­beit­ge­ber gilt nach § 82 Satz 1 SGB IX, dass sie den Agen­tu­ren für Ar­beit frühzei­tig frei wer­den­de und neu zu be­set­zen­de so­wie neue Ar­beitsplätze (§ 73) zu mel­den ha­ben. Hier­durch soll möglichst vie­len ge­eig­ne­ten schwer­be­hin­der­ten Men­schen die Möglich­keit ge­ge­ben wer­den, Ar­beit zu fin­den.

 

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Die Be­klag­te hat die Be­haup­tung des Klägers, die ge­setz­li­chen Mel­de­pflich­ten sei­en vor Ein­lei­tung des Stel­len­be­set­zungs­ver­fah­rens nicht erfüllt wor­den, nicht be­strit­ten. Die­ses Versäum­nis ist ge­eig­net, die Ver­mu­tung ei­ner Be­nach­tei­li­gung we­gen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung zu be­gründen (BAG 12. Sep­tem­ber 2006 aaO Rn. 22). Al­ler­dings ist zu be­ach­ten, dass die ge­setz­li­chen Mel­de­pflich­ten im Vor­feld des Stel­len­be­set­zungs­ver­fah­rens zu erfüllen sind. Be­wirbt sich ein schwer­be­hin­der­ter Mensch trotz die­ses Versäum­nis­ses auf ei­ne An­zei­ge hin auf die freie Stel­le und of­fen­bart hier­bei sei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft nicht, so ist die un­ter­las­se­ne Mel­dung ge­genüber der Agen­tur für Ar­beit nicht kau­sal für die in Un­kennt­nis der Schwer­be­hin­de­rung ge­trof­fe­ne Ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers. Denn die Ent­schei­dung wäre nicht an­ders aus­ge­fal­len, wenn der Ar­beit­ge­ber sei­ne Mel­de­pflich­ten erfüllt hätte.

cc) Die Ver­mu­tung ei­ner Be­nach­tei­li­gung we­gen der Be­hin­de­rung kann sich fer­ner da-raus er­ge­ben, dass der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber sei­ne be­son­de­re Pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX nicht erfüllt hat. Hier­nach hat der öffent­li­che Ar­beit­ge­ber den schwer­be­hin­der­ten Be­wer­ber zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­zu­la­den. Die Ein-la­dung darf nur dann un­ter­blei­ben, wenn die fach­li­che Eig­nung des schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bers of­fen­sicht­lich fehlt. Zweck der Vor­schrift ist es, dass schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bern die Möglich­keit ge­ge­ben wer­den soll, den öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber im Vor­stel­lungs­gespräch von ih­rer Eig­nung zu über­zeu­gen. Wird dem schwer­be­hin­der­ten Be­wer­ber die­se Möglich­keit ge­nom­men, so kann dies die Ver­mu­tung ei­ner Be­nach­tei­li­gung we­gen der Be­hin­de­rung be­gründen (BAG 12. Sep­tem­ber 2006 aaO, Rn. 23; BAG 21. Ju­li 2009 aaO Rn. 22). Un­strei­tig hat die Be­klag­te den Kläger nicht zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ein­ge­la­den. Die von der Be­klag­ten hier­zu ver­tre­te­ne Auf­fas­sung, sie sei schon aus Rechts­gründen nicht zu ei­ner Ein­la­dung ver­pflich­tet ge­we­sen, teilt die Kam­mer nicht.

(1) Die Pflicht zur Ein­la­dung zu ei­nem Vor­stel­lungs­gespräch ent­fiel nicht des­we­gen, weil die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le als Mut­ter­schafts­ver­tre­tung neu zu be­set­zen war. § 82 Satz 1 SGB IX ver­weist zwar zur De­fi­ni­ti­on des Ar­beits­plat­zes auf § 73 SGB IX. Nach Abs. 2 Nr. 7 die­ser Vor­schrift gel­ten als Ar­beitsplätze u.a. nicht die Stel­len, auf de­nen Per­so­nen beschäftigt wer­den, de­ren Ar­beits­verhält­nis we­gen El­tern­zeit ruht, so­lan­ge für sie ei­ne Ver­tre­tung ein­ge­stellt ist. Zweck der Vor­schrift ist es, ei­ne Dop­pelzählung von Ar­beitsplätzen bei der Be­rech­nung der Pflicht­zahl nach § 71 Abs. 1 SGB IX zu ver­mei­den. An­sons­ten bestünde die Ge­fahr, dass

 

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so­wohl die Stel­le des Ver­tre­te­nen als auch die des Ver­tre­ters gezählt würde (Dau/Düwell/Hai­nes SGB IX 2. Aufl., § 73 Rn. 41; Lach­witz/Schell­horn/Welti SGB IX 3. Aufl., § 73 Rn. 28; Neu­mann/Pah­len/Ma­jer­ski-Pah­len SGB IX 11. Aufl., § 73 Rn. 3). Die Vor­schrift soll hin­ge­gen nicht den öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber von sei­ner Pflicht zur Ein­la­dung frei­stel­len. Dies er­gibt sich schon aus dem Wort­laut, wo­nach die Stel­le des Ver­tre­te­nen nur dann nicht als Ar­beits­platz gilt, wenn für sie ei­ne Ver­tre­tung ein­ge­stellt ist. Soll ei­ne Stel­le nach­be­setzt wer­den, so ist für den Ver­tre­te­nen aber ge­ra­de kei­ne Ver­tre­tung ein­ge­stellt. Auch vom Schutz­zweck der Ein­la­dungs­pflicht ist es nicht ge­recht­fer­tigt, die in § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX ge­nann­ten Stel­len von der Ein­la­dungs­pflicht aus­zu­neh­men. Denn die Ziel­set­zung der Vor­schrift, die Beschäfti­gung von schwer­be­hin­der­ten Men­schen zu fördern, trifft auch für die Fall­ge­stal­tung zu, dass sich ein schwer­be­hin­der­ter Mensch auf ei­ne in § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX auf­geführ­te Stel­le be­wirbt.

(2) Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Be­klag­ten ent­fiel die Ein­la­dungs­pflicht auch nicht des­we­gen, weil dem Kläger die fach­li­che Eig­nung für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le of­fen­sicht­lich fehl­te. In ih­rer Stel­len­an­zei­ge such­te die Be­klag­te ei­ne/n Mit­ar­bei­ter/in mit der Qua­li­fi­ka­ti­on des ge­ho­be­nen nicht tech­ni­schen Ver­wal­tungs­diens­tes und um­fas­sen­den Kennt­nis­sen für die Be­rei­che Per­so­nal­we­sen, Bau­leit­pla­nung, Lie­gen­schaf­ten und Ord­nungs­amt. Der Kläger erfüll­te die­ses An­for­de­rungs­pro­fil. Er hat­te die Staats­prüfung für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst mit der Ge­samt­no­te „be­frie­di­gend“ (7 Punk­te) ab­ge­legt. Die wei­ter er­for­der­li­chen um­fas­sen­den Kennt­nis­se hat­te er sich im Rah­men des Grund­stu­di­ums an der Hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung in K. an­ge­eig­net. Die­ses Grund­stu­di­um um­fasst nach § 19 der Ver­ord­nung des In­nen­mi­nis­te­ri­ums über die Aus­bil­dung und Prüfung für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst vom 30. Au­gust 2007 (GBl. 2007, 400) al­le Fächer, die für das Be­rufs­feld des ge­ho­be­nen nicht­tech­ni­schen Ver­wal­tungs­dienst von Be­deu­tung sind. Le­dig­lich im so­ge­nann­ten Ver­tie­fungs­stu­di­um hat­te der Kläger mit dem Fach „Wirt­schaft/Rech­nungs­we­sen“ ei­nen Schwer­punkt gewählt, der für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le nicht ein­schlägig war.

Im Rah­men ih­rer Ar­gu­men­ta­ti­on hat die Be­klag­te nicht hin­rei­chend die Fra­ge der of­fen­sicht­li­chen Un­ge­eig­net­heit von der Fra­ge der Best­qua­li­fi­ka­ti­on un­ter­schie­den. Nach den Erörte­run­gen in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung steht außer Fra­ge, dass der Kläger nicht der best­qua­li­fi­zier­te Be­wer­ber war. Dies war die Be­wer­be­rin D.M., die nicht nur ihr Staats­ex­amen mit ei­ner et­was höhe­ren Punkt­zahl ab­ge­legt hat­te, son­dern auch den Schwer­punkt­be­reich „Ver­wal­tung“ im Rah­men ih­res Ver­tie-

 

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fungs­stu­di­ums gewählt hat­te. Die­ser Um­stand hat aber le­dig­lich zur Fol­ge, dass der Entschädi­gungs­an­spruch des Klägers nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG auf drei Mo­nats­gehälter be­grenzt ist. § 82 Satz 3 SGB IX will die Ein­la­dungs­pflicht nicht auf den „nach der Pa­pier­form“ best­qua­li­fi­zier­ten Be­wer­ber be­schränken. Viel­mehr be­steht der Zweck der Norm ge­ra­de dar­in, dass schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bern die Ge­le­gen­heit ge­ge­ben wer­den soll, den öffent­li­chen Ar­beit­ge­ber von ih­rer Eig­nung zu über­zeu­gen. Die Ein­la­dungs­pflicht entfällt da­her nur dann, wenn die fach­li­che Eig­nung of­fen­sicht­lich fehlt. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Be­wer­ber die in der Stel­len­aus­schrei­bung ge­for­der­ten Qua­li­fi­ka­ti­ons­merk­ma­le schon „auf den ers­ten Blick“ nicht erfüllt. Die Funk­ti­ons­be­schrei­bung des Dienst­pos­tens be­stimmt ob­jek­tiv die Kri­te­ri­en, die der In­ha­ber erfüllen muss (BAG 21. Ju­li 2009 - 9 AZR 431/08 - NZA 2009, 1087 Rn 23). Da­von, dass der Kläger an­ge­sichts der ab­ge­leg­ten Staats­prüfung für die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le er­sicht­lich nicht in Be­tracht kam, kann nicht ge­spro­chen wer­den.

dd) Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG 15. Fe­bru­ar 2005 aaO Rn. 38) kann auch die Nicht­be­tei­li­gung der Per­so­nal­ver­tre­tun­gen nach § 81 Abs. 1 Sätze 4 bis 10 SGB IX auf ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen der (Schwer-) Be­hin­de­rung schließen las­sen. Im vor­lie­gen­den Fall kann die vom Kläger be­haup­te­te Nicht­be­tei­li­gung des Per­so­nal­rats und der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung aber schon des­we­gen kei­ne In­dizwir­kung ent­fal­ten, weil bei der Be­klag­ten kein Per­so­nal­rat und kei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung be­steht. Dies hat die Aus­sa­ge der Zeu­gin U. Ma. er­ge­ben. Die Kam­mer hat kei­nen An­lass, an­ge­sichts der Größe der Ge­mein­de­ver­wal­tung, die ins­ge­samt zwölf Beschäftig­te bei acht Stel­len um­fasst, an de­ren Aus­sa­ge zu zwei­feln. Sch­ließlich kann ei­ne In­dizwir­kung nicht dar­aus ab­ge­lei­tet wer­den, dass die Be­klag­te dem Kläger nicht die Gründe für die ge­trof­fe­ne Ent­schei­dung nach § 81 Abs. 1 Satz 9 SGB IX mit­ge­teilt hat. Die Vor­schrift über die Un­ter­rich­tungs­pflicht ge­genüber dem schwer­be­hin­der­ten Be­wer­ber steht in ei­nem sys­te­ma­ti­schen Zu­sam­men­hang mit den Re­ge­lun­gen über die Be­tei­li­gung der Per­so­nal­ver­tre­tun­gen und der Nich­terfüllung der Beschäfti­gungs­quo­te. Wenn wie im vor­lie­gen­den Fall we­der Per­so­nal­rat noch Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung be­ste­hen noch der Ar­beit­ge­ber an­ge­sichts der ge­rin­gen Zahl der Ar­beitsplätze die Beschäfti­gungs­quo­te nach § 71 Abs. 1 SGB erfüllen muss, fehlt es an den Tat­be­stands­vor­aus­set­zun­gen für die Un­ter­rich­tungs­pflicht ge­genüber dem schwer­be­hin­der­ten Be­wer­ber. In sei­ner Ent­schei­dung vom 18. No­vem­ber 2008 (aaO Rn. 59) hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt an die­ser Aus­le­gung zwar ge­wis­se Zwei­fel ge-

 

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äußert. Der Wort­laut und der sys­te­ma­ti­sche Zu­sam­men­hang las­sen aber nach Auf­fas­sung der Kam­mer kei­ne an­de­re Aus­le­gung zu.

d) Die sich aus den bei­den (sie­he oben c) bb und cc) an­geführ­ten In­di­zi­en er­ge­ben­de Ver­mu­tung für die (Mit-)Ursächlich­keit des Be­nach­tei­li­gungs­merk­mals „Be­hin­de­rung“ entfällt im Streit­fall aber des­we­gen, weil der Kläger die Be­klag­te le­dig­lich über das Be-ste­hen ei­ner ihn nicht ein­schränken­den Be­hin­de­rung, nicht aber über das Vor­lie­gen ei-ner Schwer­be­hin­de­rung un­ter­rich­tet hat. Die Be­klag­te muss­te das Be­ste­hen ei­ner Schwer­be­hin­de­rung auch nicht ken­nen; es traf sie auch kei­ne Pflicht zur Er­kun­di­gung nach dem Be­ste­hen ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft.

aa) In sei­nem Be­wer­bungs­schrei­ben vom 8. Ju­li 2009 hat­te der Kläger am En­de fol­gen­des mit­ge­teilt: „Durch mei­ne Be­hin­de­rung bin ich, ins­be­son­de­re im Ver­wal­tungs­be­reich, nicht ein­ge­schränkt.“ Auch wenn der Be­griff der „Be­hin­de­rung“ wei­ter ge­fasst ist als der Be­griff der Schwer­be­hin­de­rung (sie­he oben c) aa)) lässt sich hier­aus nicht ab­lei­ten, dass die an­ge­ge­be­ne Be­hin­de­rung ursächlich für die ab­leh­nen­de Ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers war. Dies gilt auch dann, wenn man zu­guns­ten des Klägers die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (Ur­teil vom 12. Sep­tem­ber 2006 aaO Rn. 43) berück­sich­tigt, wo­nach es für den Entschädi­gungs­an­spruch unschädlich ist, wenn die Be­nach­tei­li­gung auf ei­nem Mo­tivbündel be­ruht. Denn der Kläger hat­te in sei­nem Be­wer­bungs­schrei­ben ge­ra­de nicht dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die bei ihm be­ste­hen­de Be­hin­de­rung zu ei­ner Funk­ti­ons-be­ein­träch­ti­gung führe oder je­den­falls führen könne. Im Ge­gen­teil hat­te er aus­ge-führt, dass er durch sei­ne Be­hin­de­rung nicht ein­ge­schränkt sei.

Hier­durch un­ter­schei­det sich der vor­lie­gen­de Fall maßgeb­lich von der dem Ur­teil des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 3. April 2007 (9 AZR 823/06 - AP SGB IX § 81 Nr. 14) zu­grun­de­lie­gen­den Fall­ge­stal­tung. Im dor­ti­gen Fall hat­te die Kläge­rin im Rah­men ei­ner ärzt­li­chen Un­ter­su­chung ei­nen Be­scheid vor­ge­legt, wo­nach sie ei­nen Grad der Be­hin­de­rung von 40 % auf­wies. Zu­gleich er­lang­te der Ar­beit­ge­ber Kennt­nis darüber, dass die Be­hin­de­rung auf ei­ner Neu­ro­der­mi­tis be­ru­he, die zu ei­ner ge­sund­heit­li­chen Nich­t­eig­nung führe. Bei die­sem Sach­ver­halt war ei­ne Ursächlich­keit der mit­ge­teil­ten Be­hin­de­rung für die Ein­stel­lungs­ent­schei­dung des Ar­beit­ge­bers oh­ne Wei­te­res ge­ge­ben. An­ders verhält es sich aber dann, wenn der Be­wer­ber ge­ra­de die Un­er­heb­lich­keit sei­ner Be­hin­de­rung für die aus­geübte Tätig­keit her­vor­hebt. An­ge­sichts der wei­ten Be­deu­tung des Be­griffs „Be­hin­de­rung“ kann schon ei­ne leich­te Funk­ti­onsstörung, die für ei­ne Ver­wal­tungstätig­keit kei­ner­lei

 

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Ein­schränkun­gen be­deu­tet, un­ter die­sen Be­griff fal­len. Bei die­ser Sach­la­ge kann dem Ar­beit­ge­ber nicht un­ter­stellt wer­den, dass die mit­ge­teil­te Be­hin­de­rung je­den­falls Teil ei­nes Mo­tivbündels sei, auf dem die ab­leh­nen­de Ent­schei­dung be­ruht.

bb) Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Klägers hat­te die Be­klag­te auch kei­ne po­si­ti­ve Kennt­nis von sei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft. Der Kläger hat­te hier­zu schriftsätz­lich vor­ge­tra­gen, der mit dem Be­wer­bungs­ver­fah­ren be­trau­ten Frau Ma. sei auf­grund des ge­mein­sa­men Stu­di­ums an der Hoch­schu­le für öffent­li­che Ver­wal­tung in K. be­kannt ge­we­sen, dass er schwer­be­hin­dert sei. Das Wis­sen von Frau Ma. müsse sich die Be­klag­te zu­rech­nen las­sen (BAG 16. Sep­tem­ber 2008 - 9 AZR 791/07 - AP SGB IX § 81 Nr. 15). Die Be­klag­te hat­te die po­si­ti­ve Kennt­nis von Frau Ma. be­strit­ten. Die Erörte­run­gen in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung ha­ben hier­zu er­ge­ben, dass der Kläger aus­ge­hend von sei­ner Einschätzung, we­gen sei­nes Tre­mors ha­be je­der Stu­die­ren­de sei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft ken­nen müssen, auf ei­ne Kennt­nis von Frau Ma. ge­schlos­sen hat. Kon­kre­te Umstände dafür, dass Frau Ma. ent­we­der durch ihn selbst oder aus an­de­ren Quel­len ei­ne po­si­ti­ve Kennt­nis er­langt hat, hat der Kläger hin­ge­gen nicht an­geführt.

Un­ter die­sen Umständen konn­te der vom Kläger an­ge­tre­te­ne Be­weis durch die Ver­neh­mung der Zeu­gin U. Ma. nicht er­ho­ben wer­den. Nach § 373 ZPO muss die be­weis­pflich­ti­ge Par­tei die­je­ni­gen Tat­sa­chen be­zeich­nen, zu de­nen der Zeu­ge ver­nom­men wer­den soll. Tat­sa­chen sind kon­kre­te, nach Zeit und Raum be­stimm­te, der Ver­gan­gen­heit oder der Ge­gen­wart an­gehöri­ge Ge­scheh­nis­se oder Zustände. Ent­spre­chen die un­ter Be­weis ge­stell­ten Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen nicht die­sen An­for­de­run­gen, hat die Be­weis­er­he­bung auf­grund die­ses un­zulässi­gen Aus­for­schungs­be­weis­an­tritts zu un­ter­blei­ben (vgl. nur BAG 12.07.2007 - 2 AZR 722/05 - AP KSchG 1969 § 1 Be­triebs­be­ding­te Kündi­gung Nr. 168). Im Streit­fall fehlt es an ei­ner ent­spre­chend kon­kre­ten Tat­sa­chen­an­ga­be zur po­si­ti­ven Kennt­nis von Frau Ma.. Die Tat­sa­chen­an­ga­ben des Klägers be­le­gen le­dig­lich, dass Frau Ma. auf­grund der kon­kre­ten Umstände die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft ha­be ken­nen müssen. Dies ist aber recht­lich et­was an­de­res als po­si­ti­ve Kennt­nis.

cc) Frau Ma. muss­te auf­grund der vor­ge­tra­ge­nen Umstände auf ei­ne - für ei­ne Ver-wal­tungstätig­keit un­er­heb­li­che - Be­hin­de­rung, nicht aber auf ei­ne Schwer­be­hin­de-rung schließen. Die Be­klag­te hat ein­geräumt, dass Frau Ma. das Ver­hal­ten des Klägers an der Hoch­schu­le in K. aus ih­rer sub­jek­ti­ven Sicht als auffällig und un­gewöhn­lich emp­fun­den hat. Dies al­lein deu­tet aber noch nicht auf ei­ne Be­hin­de­rung,

 

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ge­schwei­ge denn auf ei­ne Schwer­be­hin­de­rung hin. Selbst wenn Frau Ma., die den Kläger nur flüch­tig kann­te, des­sen Tre­mor be­merkt ha­ben soll­te, gilt nichts an­de­res. Denn ge­ra­de für ei­ne Ver­wal­tungstätig­keit ist ein Tre­mor, wie der Kläger selbst ausführt, in al­ler Re­gel be­lang­los.

So­weit der Kläger meint, Frau Ma. ha­be auf­grund sei­nes Al­ters und der Zu­las-sungs­vor­schrif­ten für das Stu­di­um auf ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft schließen müssen, kann die Kam­mer dem nicht fol­gen. Es trifft zwar zu, dass nach § 6 der Ver­ord­nung des In­nen­mi­nis­te­ri­ums über die Aus­bil­dung und Prüfung für den ge­ho­be­nen Ver­wal­tungs­dienst vom 30. Au­gust 2007 grundsätz­lich nur sol­che Be­wer­ber zur Aus­bil­dung zu­ge­las­sen wer­den, die im Zeit­punkt der Ein­stel­lung in den Vor­be­rei­tungs­dienst das 32. Le­bens­jahr noch nicht voll­endet ha­ben. Le­dig­lich für schwer­be­hin­der­te Men­schen gilt ei­ne höhe­re Al­ters­gren­ze von 40 Jah­ren. Die­se hat­te der Kläger im Zeit­punkt sei­ner Zu­las­sung be­reits über­schrit­ten. Nach § 6 Abs. 3 der Ver­ord­nung sind je­doch wei­te­re Aus­nah­men von den Vor­schrif­ten über die Höchst­al­ters­gren­zen möglich. Die­se Aus­nah­men führen da­zu, dass zwar ei­ne ge­wis­se Wahr­schein­lich­keit für ei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft be­steht, wenn ein Stu­die­ren­der das 40. Le­bens­jahr über­schrit­ten hat. Im vor­lie­gen­den Fall kommt hin­zu, dass zwei wei­te­re mögli­che Aus­nah­men (Sol­da­ten­ver­sor­gung und Kin­der­er­zie­hung) auf­grund des Le­bens­laufs des Klägers aus­zu­sch­ließen wa­ren.

An­ge­sichts der in § 6 Abs. 3 der Ver­ord­nung an­geführ­ten Ermäch­ti­gung des Lan-des­per­so­nal­aus­schus­ses, oh­ne wei­te­re Ein­schränkun­gen von den Zu­las­sungs­vor-schrif­ten Aus­nah­men zu­zu­las­sen, kann auf ein „Ken­nenmüssen“ von Frau Ma. den­noch nicht ge­schlos­sen wer­den. Frau Ma. wa­ren die persönli­chen Le­bens­umstände des Klägers nicht be­kannt, weil sie kei­nen nähe­ren Kon­takt mit dem Kläger pfleg­te. Das Be­ste­hen ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft war dem­nach nur ei­ne von meh­re­ren Möglich­kei­ten für die Zu­las­sung des Klägers zum Stu­di­um.

dd) Die Be­klag­te traf schließlich kei­ne Pflicht, sich an­ge­sichts der un­kla­ren An­ga­be des Klägers im Be­wer­bungs­schrei­ben nach dem Be­ste­hen ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zu er­kun­di­gen.

(1) Die Fra­ge nach dem Be­ste­hen ei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft wäre im Streit­fall un­zulässig ge­we­sen, weil kei­ne An­halts­punk­te dafür er­sicht­lich wa­ren, dass die an­ge­ge­be­ne Be­hin­de­rung die ver­trags­gemäße Ar­beits­leis­tung dau­er­haft unmöglich ge­macht hätte und so­mit ei­ne un­ter­schied­li­che Be­hand­lung gemäß § 8 Abs.

 

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1 AGG ge­recht­fer­tigt ge­we­sen wäre. Zwar hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt in sei­ner frühe­ren Recht­spre­chung die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft auch bei tätig­keits­neu­tra­len Be­hin­de­run­gen als zulässig an­ge­se­hen (BAG
5. Ok­to­ber 1995 - 2 AZR 923/94, 3. De­zem­ber 1998 - 2 AZR 754/97 - und 18. Ok-to­ber 2000 - 2 AZR 380/99 - AP BGB § 123 Nr. 40, 49 und 59). Mitt­ler­wei­le wird ein Fra­ge­recht des Ar­beit­ge­bers aber na­he­zu ein­hel­lig ab­ge­lehnt (LAG Hamm
19. Ok­to­ber 2006 - 15 Sa 740/06 - Ju­ris; ErfK/Preis 10. Aufl. § 611 BGB Rn. 274; Dau/Düwell/Hai­nes SGB IX 2. Aufl., § 85 Rn. 16 ff.; Mes­sing­schläger NZA 2003, 301, 303; Brors DB 2003, 1734; a.A. Schaub NZA 2003, 299).

Dem schließt sich die Kam­mer an. § 8 Abs. 1 AGG be­stimmt aus­drück­lich, dass ei­ne un­ter­schied­li­che Be­hand­lung u.a. we­gen ei­ner Be­hin­de­rung nur dann zulässig ist, wenn das Nicht­vor­lie­gen der Be­hin­de­rung we­gen der Art der aus­zuüben­den Tätig­keit oder der Be­din­gun­gen ih­rer Ausübung ei­ne we­sent­li­che und ent­schei­den­de be­ruf­li­che An­for­de­rung dar­stellt, so­fern der Zweck rechtmäßig und die An­for­de­rung an­ge­mes­sen ist. Die­se Be­stim­mung schließt ein Fra­ge­recht aus den vom Bun­des­ar­beits­ge­richt früher an­er­kann­ten tätig­keits­neu­tra­len Gründen aus. Le­dig­lich dann, wenn es die Ziel­set­zung des Ar­beit­ge­bers ist, po­si­ti­ve Maßnah­men zur Förde­rung von schwer­be­hin­der­ten Men­schen zu er­grei­fen, ist das Fra­ge­recht we­gen § 5 AGG ge­recht­fer­tigt. In die­sem Fall muss der Ar­beit­ge­ber je­doch sein Fra­ge­ziel of­fen­le­gen (Dau/Düwell/Hai­nes aaO Rn. 24).

(2) Ei­ne Er­kun­di­gungs­pflicht des Ar­beit­ge­bers ist auch des­we­gen ab­zu­leh­nen, weil im Streit­fall das Fra­ge­recht nicht im In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers, son­dern zur Wah­rung der In­ter­es­sen des Be­wer­bers aus­geübt wor­den wäre. Eben­so wie der Son-derkündi­gungs­schutz zu­guns­ten der schwer­be­hin­der­ten Men­schen nach den §§ 85-90 SGB IX wer­den die Rech­te aus dem All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­setz nicht „von Amts we­gen“ gewährt. Es bleibt der Ent­schei­dung des schwer­be­hin­der­ten Men­schen über­las­sen, die recht­li­chen Wir­kun­gen der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft in An­spruch zu neh­men (BAG 7. März 2002 - 2 AZR 612/00 - NZA 2002, 1145). Des­we­gen muss ein schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer, wenn er sich den Son­derkündi­gungs­schutz nach den §§ 85 SGB IX ff. er­hal­ten will, nach Zu­gang der Kündi­gung in­ner­halb ei­ner an­ge­mes­se­nen Frist, die das Bun­des­ar­beits­ge­richt der­zeit mit 3 Wo­chen be­misst, ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber sei­ne be­reits fest­ge­stell­te oder be­an­trag­te Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft gel­tend ma­chen (zu-letzt BAG 23. Fe­bru­ar 2010 - 2 AZR 659/08 - Ju­ris; BAG 13. Fe­bru­ar 2008 - 2 AZR 264/06 - AP SGB IX § 85 Nr. 5).

 

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Die­se Erwägung ist auf den vor­lie­gen­den Fall über­trag­bar. In sei­nem ei­ge­nen In­ter­es­se traf den Kläger die Ob­lie­gen­heit, durch ei­nen kla­ren Hin­weis auf sei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft die be­son­de­ren Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers ge­genüber schwer­be­hin­der­ten Men­schen aus­zulösen. Wohl in der An­nah­me, der deut­li­che Hin­weis auf die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft ha­be sei­nen zahl­rei­chen Be­wer­bun­gen bis­lang den Er­folg ver­sagt, hat­te der Kläger im vor­lie­gen­den Fall den Hin­weis auf sei­ne Be­hin­de­rung ver­klau­su­liert im Be­wer­bungs­schrei­ben an­ge­bracht. Er hat da­mit in Kauf ge­nom­men, dass po­ten­ti­el­le Ar­beit­ge­ber sei­ne Be­wer­bung wie die ei­nes nicht schwer­be­hin­der­ten Men­schen be­han­deln. Un­ter die­sen Umständen kann der Kläger nicht for­dern, der Ar­beit­ge­ber ha­be sich nach sei­ner Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft er­kun­di­gen müssen (eben­so ArbG Ulm 17. De-zem­ber 2009 - 5 Ca 316/09 - Ju­ris).

e) Fehlt es so­mit an In­di­zi­en, die ei­ne Be­nach­tei­li­gung we­gen „Be­hin­de­rung“ ver­mu­ten las­sen, so kommt es nicht mehr auf die Dar­stel­lung der Be­klag­ten an, es hätten an­de­re Gründe als die Be­hin­de­rung des Klägers den Aus­schlag für die Ab­leh­nung sei­ner Be-wer­bung ge­ge­ben. Auch die Fra­ge ei­nes et­wai­gen Rechts­miss­brauch be­darf an sich kei­ner Erörte­rung mehr. Le­dig­lich im Hin­blick auf das ausführ­li­che Vor­brin­gen der Par­tei­en zur Fra­ge ei­ner rechts­miss­bräuch­li­chen Be­wer­bung (AGG-Hop­ping) merkt die Kam­mer an, dass im vor­lie­gen­den Fall kei­ne aus­rei­chen­den An­halts­punk­te dafür be­ste­hen, der Kläger ha­be sich aus sach­frem­den Mo­ti­ven be­wor­ben. In der Recht­spre­chung ist zwar an­er­kannt, dass in ei­nem Stel­len­be­set­zungs­ver­fah­ren nur der­je­ni­ge be­nach­tei­ligt wer­den kann, der sich sub­jek­tiv ernst­haft be­wor­ben hat. Die Viel­zahl er­folg­lo­ser Be­wer­bun­gen al­lein lässt aber noch nicht dar­auf schließen, dass ein Be­wer­ber nicht ernst­haft in­ter­es­siert sei (BAG 21. Ju­li 2009 - 9 AZR 431/08 - NZA 2009, 1087). Im Streit­fall deu­ten die zahl­rei­chen Be­wer­bun­gen des Klägers nach Ab­le­gung der Staats­prüfung am 17. Sep­tem­ber 2008 nicht auf ei­ne man­geln­de Ernst­haf­tig­keit, son­dern im Ge­gen­teil auf sein nach­hal­ti­ges In­ter­es­se hin, end­lich ei­ne adäqua­te Ar­beits­stel­le zu fin­den.

Auch der Um­stand, dass der Kläger in bis­lang 27 Fällen Entschädi­gungs­ansprüche ge­genüber öffent­li­chen Ar­beit­ge­bern gel­tend ge­macht hat, lässt für sich al­lein noch auf kei­nen Rechts­miss­brauch schließen. Der Kläger hat­te sich seit der Ab­le­gung der Staats­prüfung auf zahl­rei­che Stel­len ver­geb­lich be­wor­ben. Die vor­ge­leg­ten Ur­tei­le des Ar­beits­ge­richts Heil­bronn vom 29. April 2010 (3 Ca 18/10) und des Ar­beits­ge­richts Mann­heim vom 12. Ju­li 2010 (11 Ca 11/10) be­le­gen, dass hier­bei nicht al­le öffent­li­chen

 

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Ar­beit­ge­ber trotz Kennt­nis der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft des Klägers ih­re Pflich-ten ge­genüber schwer­be­hin­der­ten Be­wer­bern be­ach­tet ha­ben. Un­ter die­sen Umstän-den ist es das Recht des Klägers, die ihm zu­ste­hen­den Ansprüche aus dem All­ge­mei-nen Gleich­be­hand­lungs­ge­setz durch­zu­set­zen.


III.

Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kos­ten sei­nes oh­ne Er­folg ein­ge­leg­ten Rechts-mit­tels zu tra­gen. Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on be­ruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG (Er­kun­di-gungs­pflicht des Ar­beit­ge­bers).

 

 

 

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Rechts­mit­tel­be­leh­rung


1. Ge­gen die­ses Ur­teil kann der Kläger schrift­lich Re­vi­si­on ein­le­gen. Die Re­vi­si­on muss in-ner­halb ei­ner Frist von ei­nem Mo­nat, die Re­vi­si­ons­be­gründung in­ner­halb ei­ner Frist von zwei Mo­na­ten bei dem

Bun­des­ar­beits­ge­richt

Hu­go-Preuß-Platz 1

99084 Er­furt

ein­ge­hen.

Bei­de Fris­ten be­gin­nen mit der Zu­stel­lung des in vollständi­ger Form ab­ge­fass­ten Ur­teils, spätes­tens aber mit Ab­lauf von fünf Mo­na­ten nach der Verkündung.

Die Re­vi­si­on und die Re­vi­si­ons­be­gründung müssen von ei­nem Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten un­ter­zeich­net sein. Als Pro­zess­be­vollmäch­tig­te sind nur zu­ge­las­sen:

a. Rechts­anwälte,
b. Ge­werk­schaf­ten und Ver­ei­ni­gun­gen von Ar­beit­ge­bern so­wie Zu­sam­men­schlüsse sol­cher Verbände für ih­re Mit­glie­der oder für an­de­re Verbände oder Zu­sam­men­schlüsse mit ver­gleich­ba­rer Aus­rich­tung und de­ren Mit­glie­der,
c. ju­ris­ti­sche Per­so­nen, die die Vor­aus­set­zun­gen des § 11 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 ArbGG erfüllen.

In den Fällen der lit. b und c müssen die han­deln­den Per­so­nen die Befähi­gung zum Rich-ter­amt ha­ben.

2. Für die Be­klag­te ist ge­gen die­ses Ur­teil ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben. Auf § 72a ArbGG wird hin­ge­wie­sen.

Dr. Nat­ter Schulz

St­ein

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