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HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Ber­lin, Ur­teil vom 28.03.2006, 7 Sa 1884/05

   
Schlagworte: Kündigung: Fristlos, Whistleblowing, Anzeige gegen Arbeitgeber
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Berlin
Aktenzeichen: 7 Sa 1884/05
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 28.03.2006
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 3.08.2005, 39 Ca 4775/05
Nachgehend BAG, Beschluss vom 06.06.2007, 4 AZN 487/06
Nachgehend EGMR, Urteil vom 21.07.2011, 28274/08
   

Lan­des­ar­beits­ge­richt

Ber­lin

 

Verkündet

am 28.03.2006

Ge­schZ. (bit­te im­mer an­ge­ben)

7 Sa 1884/05

39 Ca 4775/05  

H., VA
als Ur­kunds­be­am­ter/-in
der Geschäfts­stel­le

 

Im Na­men des Vol­kes

 

Ur­teil

In Sa­chen

pp 

hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin, 7. Kam­mer,
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 28.03.2006
durch die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin am Lan­des­ar­beits­ge­richt R. als Vor­sit­zen­de
so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter S. und W.

für Recht er­kannt:

I. Auf die Be­ru­fung der Be­klag­ten wird das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 3. Au­gust 2005 - 39 Ca 4775/05 - ab­geändert, und die Kla­ge wird ab­ge­wie­sen.

II. Die Kläge­rin trägt die Kos­ten des Rechts­streits.

III. Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

 

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Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner frist­lo­sen, hilfs­wei­se frist­ge­rech­ten Kündi­gung vom 09. Fe­bru­ar 2005, die die Be­klag­te ge­genüber der da­mals 43 Jah­re al­ten, seit dem 22. Au­gust 2000 als Al­ten­pfle­ge­rin beschäftig­ten und zwei Kin­dern zum Un­ter­halt ver­pflich­te­ten Kläge­rin u.a. we­gen des Er­stat­tens ei­ner Straf­an­zei­ge ge­gen die Geschäfts­lei­tung der Be­klag­ten und der Ver­tei­lung ei­nes Flug­blatts aus­ge­spro­chen hat.

Die Kläge­rin ist seit 2002 im Wohn­pfle­ge­heim T.straße beschäftigt. In die­sem Pfle­ge­heim wer­den auf 6 Eta­gen et­wa 160 Be­woh­ner der Pfle­ge­stu­fe 1-3 be­treut. Seit An­fang 2003 gab die Kläge­rin – eben­so wie an­de­re Mit­ar­bei­ter des Pfle­ge­wohn­heims - di­ver­se z.T. for­mu­larmäßige Über­las­tungs­an­zei­gen ab, die sie da­mit be­gründe­te, we­gen des Per­so­nal­man­gels könne die Pfle­ge nicht ord­nungs­gemäß durch­geführt wer­den (Ab­lich­tun­gen Bl. 459 ff. d.A.). Ob die Be­schwer­den zu Recht er­ho­ben wer­den, ist zwi­schen den Par­tei­en strei­tig. Im No­vem­ber 2003 droh­te der Me­di­zi­ni­sche Dienst der Kran­ken­kas­sen der Be­klag­ten mit der Kündi­gung des Ver­sor­gungs­ver­tra­ges we­gen Pfle­gemängel, die bei Un­ter­su­chun­gen am 8. und 9. Ju­li 2003 fest­ge­stellt wor­den wa­ren. Am 18. No­vem­ber 2004 führ­te der Me­di­zi­ni­sche Dienst der Kran­ken­kas­se ei­ne un­an­ge­mel­de­te Qua­litätsprüfung durch, bei der auch die Per­so­nalstärke an­hand der Dienst­pläne Sep­tem­ber bis No­vem­ber 2004 ge­prüft wur­de. Ob die zu­sam­men­fas­sen­de Äußerung zum Per­so­nal­be­stand er­gab, dass die Per­so­nal­si­tua­ti­on zwar an­ge­spannt, je­doch nicht zu bemängeln sei – so die Be­klag­te – ist zwi­schen den Par­tei­en strei­tig.

Mit Schrei­ben vom 09. No­vem­ber 2004 (Bl.31.-33 d.A.) wand­te sich der frühe­re Pro­zess­be­vollmäch­tig­te der Kläge­rin an die Be­klag­te und ver­wies dar­auf, dass we­gen des Per­so­nal­man­gels ei­ne aus­rei­chen­de hy­gie­ni­sche Grund­ver­sor­gung der Heim­be­woh­ner, ei­ne aus­rei­chen­de Do­ku­men­ta­ti­on und die me­di­zi­ni­sche Ver­sor­gung nicht si­cher­ge­stellt sei­en. Er for­der­te die Be­klag­te in die­sem Schrei­ben auf, „dar­zu­le­gen, wie straf­recht­li­che Fol­gen für al­le Be­tei­lig­ten ver­mie­den wer­den könn­ten, al­so ei­ne aus­rei­chen­de Ver­sor­gung der

 

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Heim­be­woh­ner si­cher­ge­stellt wer­den könne“. Nur auf die­sem We­ge sei ei­ne „ar­beits­ge­richt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, die Ein­lei­tung ei­nes staats­an­walt­schaft­li­chen Er­mitt­lungs­ver­fah­rens, wel­ches not­wen­di­ge Fol­ge der zur Ent­las­tung sei­ner Man­dan­tin un­umgäng­li­chen Selbst­an­zei­ge wäre oder gar ei­ne si­cher nicht ge­neh­me öffent­li­che Dis­kus­si­on“ zu ver­mei­den. Zu­gleich wur­de der Be­klag­ten für ei­ne Zu­sa­ge, dem Per­so­nal­man­gel um­ge­hend Ab­hil­fe zu schaf­fen, ei­ne Frist bis zum 22. No­vem­ber 2004 ge­setzt.

Die Be­klag­te wies die Vorwürfe mit ei­nem Schrei­ben ih­res Per­so­nal­re­fe­ren­ten vom 22. No­vem­ber 2004 (Bl. 365) zurück. Dar­auf­hin wand­te sich die Kläge­rin mit ei­nem wei­te­ren Schrei­ben ih­res frühe­ren Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten vom 10. De­zem­ber 2004 (Bl.37 u. 38 d.A.) an den Auf­sichts­rat der Be­klag­ten. Ei­ne aus­rei­chen­de pfle­ge­ri­sche und hy­gie­ni­sche Ver­sor­gung der Be­woh­ner sei auf­grund des be­ste­hen­den Per­so­nal­man­gels nicht gewähr­leis­tet, da­durch entstünden Ge­fah­ren für Le­ben und Ge­sund­heit der Be­woh­ner, sie würden nur ein­mal die Wo­che ge­duscht und müss­ten z.t. stun­den­lang in ih­ren Ex­kre­men­ten lie­gen, be­vor sie ge­wa­schen und das Bett ge­rei­nigt wer­de. Der Per­so­nal­re­fe­rent ha­be „wi­der bes­se­ren Wis­sens“ die Pro­ble­me ge­leug­net.

Noch vor ih­rem Schrei­ben an den Auf­sichts­rat er­stat­te­te der frühe­re Pro­zess­be­vollmäch­tig­te der Kläge­rin mit Schrei­ben vom 7. De­zem­ber 2004 un­ter Be­zug­nah­me auf die bei­lie­gen­de Voll­macht na­mens der Kläge­rin Straf­an­zei­ge ge­gen „die ver­ant­wort­li­chen Per­so­nen der V. GmbH“ we­gen „be­son­ders schwe­ren Be­tru­ges nach § 263 Abs. 3 StGB“. Es heißt in der An­zei­ge u.a.:

Die V. GmbH, die fi­nan­zi­ell an­ge­schla­gen ist und um ih­ren Zu­stand weiß, hat so­wohl die Be­woh­ner der Ein­rich­tung in der T.straße als auch de­ren An­gehöri­ge über ihr Leis­tungs­vermögen und da­mit die Erfüllungsfähig­keit getäuscht. Den für die Un­ter­brin­gung in der ge­nann­ten Ein­rich­tung auf­ge­brach­ten Kos­ten steht kei­ne auch nur annähernd adäqua­te Ge­gen­leis­tung ge­genüber. Die V. GmbH be­rei­chert sich so­mit auf Kos­ten von Be­woh­nern und An­gehöri­gen und nimmt bei dem herr­schen­den Pfle­ge­man­gel die me­di­zi­ni­sche und hy­gie­ni­sche Un­ter­ver­sor­gung der Be­woh­ner in Kauf....
Hier­an zeigt sich ...wie die­se sys­te­ma­tisch und un­ter Einschüchte­rung ih­rer Mit­ar­bei­ter ver­sucht, die be­ste­hen­den Pro­ble­me zu ver­tu­schen...Die Pfle­ge­kräfte wer­den an­ge­hal­ten, Leis­tun­gen zu do­ku­men­tie­ren, wel­che so gar nicht er­bracht wor­den sei­en. In Be­zug auf die ge­nann­ten Ge­sichts­punk­te ist da­her an­hand ei­ner Ver­neh­mung al­ler Mit­ar­bei­ter zu un­ter­su­chen, in­wie­weit das Ver­hal­ten den Tat­be­stand der Nöti­gung erfüllt...
Es wird vor­ge­schla­gen, im Zu­ge der ein­zu­lei­ten­den Er­mitt­lun­gen die Verträge zwi­schen der V. GmbH und den Be­woh­nern ein­zu­se­hen, eben­falls sämt­li­che Sit­zungs­pro­to­kol­le. Zu­dem soll­te der ak­tu­el­le Be­richt des MDK an­ge­for­dert

 

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wer­den. Ab­sch­ließend sei dar­auf hin­ge­wie­sen, dass nach dies­sei­ti­ger Kennt­nis auch in an­de­ren Ein­rich­tun­gen der V. GmbH ähn­li­che Pro­ble­me be­ste­hen, so dass ein Scha­den in Mil­lio­nenhöhe in Re­de steht“.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten der Straf­an­zei­ge wird auf die Ab­lich­tung Bl 487 bis 492 d.A. Be­zug ge­nom­men.

Auf­grund ver­schie­de­ner krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten, die sich im Jahr 2004 auf 90 Ar­beits­ta­ge be­lie­fen, kündig­te die Be­klag­te das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis aus krank­heits­be­ding­ten Gründen mit Schrei­ben vom 19. Ja­nu­ar 2005 zum 31. März 2005. Die­se Kündi­gung ist Ge­gen­stand ei­nes an­de­ren Ver­fah­rens beim Ar­beits­ge­richt Ber­lin zum Ak­ten­zei­chen 35 Ca 3077/05.

In der Fol­ge­zeit nahm die Kläge­rin über Freun­de Kon­takt zu an­de­ren Pfle­ge­kräften und ih­rer Ge­werk­schaft auf. Es bil­de­te sich ei­ne So­li­da­ritäts­grup­pe. Un­ter dem Da­tum des 27. Ja­nu­ar 2005 wur­de ein Flug­blatt mit fol­gen­der Über­schrift ver­fasst:

V. will Kol­le­gen/inn­nen einschüchtern!!
Nicht mit uns!
So­for­ti­ge Rück­nah­me der po­li­tisch mo­ti­vier­ten Kündi­gung der Kol­le­gin B. bei V. Fo­rum für Se­nio­ren
Ein­la­dung zur Gründung ei­nes über­par­tei­li­chen So­li­da­ritäts­krei­ses
In­halt: ... Weh­ren wir uns end­lich... Der Wahn­sinn, dass pri­va­te Be­trei­ber ge­mein­sam mit dem Ber­lin SPD/PDS Se­nat aus rei­ner Pro­fit­gier un­ser al­ler Ar­beits­kraft zerstört... V. nutzt das so­zia­le En­ga­ge­ment sei­nes Per­so­nals scham­los aus.“

In dem Flug­blatt wird dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Kläge­rin Über­las­tungs­an­zei­gen ein­ge­reicht, die­se aber nicht zu ei­ner Ver­bes­se­rung der Si­tua­ti­on geführt hätten und sie dar­auf­hin Straf­an­zei­ge ge­gen die V. Geschäftsführung ge­stellt ha­be, die je­doch nicht be­ar­bei­tet wor­den sei. Für den ge­nau­en In­halt des Flug­blatts wird auf 40 – 41 d.A. Be­zug ge­nom­men. Die Kläge­rin fax­te das Flug­blatt am 31. Ja­nu­ar 2005 in das Wohn­heim, in dem sie zu­letzt beschäftigt war, auf das Fax­gerät des Ar­beit­ge­bers. Dort wur­de es von ei­ner Mit­ar­bei­te­rin des Nacht­diens­tes ver­teilt.

Mit Schrei­ben vom 1. Fe­bru­ar 2005 (Bl. 42 d. A.) for­der­te die Be­klag­te die Kläge­rin un­ter Zi­tie­rung der Pas­sa­ge über die Straf­an­zei­ge auf, zum In­halt des Flug­blatts Stel­lung zu neh­men. Ei­ne Stel­lung­nah­me der Kläge­rin da­zu er­folg­te nicht.

 

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Die Be­klag­te nahm dar­auf­hin den In­halt des Flug­blatts zum An­lass, den bei ihr ge­bil­de­ten Be­triebs­rat mit Schrei­ben vom 04. Fe­bru­ar 2005 (Bl. 358 bis 361 d.A.), des­sen Emp­fang mit Da­tum vom 7. Fe­bru­ar 2005 quit­tiert wur­de, zu ei­ner be­ab­sich­tig­ten außer­or­dent­li­chen, hilfs­wei­se or­dent­li­chen Kündi­gung der Kläge­rin an­zuhören. Nach­dem der Aus­schuss für per­so­nel­le Ein­zel­maßnah­men des Be­triebs­rats mit Schrei­ben vom 8. Fe­bru­ar 2005 (Bl. 10 d.A.), bei der Be­klag­ten ein­ge­gan­gen am 8. Fe­bru­ar 2005, mit­ge­teilt hat­te, er ha­be in sei­ner Sit­zung vom 8. Fe­bru­ar be­schlos­sen, der außer­or­dent­li­chen bzw. or­dent­li­chen Kündi­gung nicht zu­zu­stim­men, kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin mit Schrei­ben vom 9. Fe­bru­ar 2005 frist­los, hilfs­wei­se frist­gemäß. Mit Schrei­ben vom 25. April 2005 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis er­neut außer­or­dent­lich, hilfs­wei­se or­dent­lich.

Das Ar­beits­ge­richt hat mit Teil­ur­teil vom 3. Au­gust 2005, auf des­sen Tat­be­stand we­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des erst­in­stanz­li­chen Par­tei­vor­brin­gens Be­zug ge­nom­men wird, § 69 Abs. 2 ArbGG, fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis durch die Kündi­gung vom 09. Fe­bru­ar 2005 nicht auf­gelöst wor­den ist und den Rechts­streit über die Kündi­gung vom 25. April 2005 aus­ge­setzt. Zur Be­gründung hat es im we­sent­li­chen aus­geführt, es lie­ge we­der ein wich­ti­ger Grund i.S. von § 626 BGB vor, noch sei die Kündi­gung so­zi­al ge­recht­fer­tigt. Durch das Flug­blatt vom 31. Ja­nu­ar 2005 ha­be die Kläge­rin ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten nicht ver­letzt. Zwar müsse sie sich den In­halt des Flug­blat­tes auch dann zu­rech­nen las­sen, wenn sie das Flug­blatt we­der selbst (mit-) ver­fasst noch in­iti­iert ha­be. Denn sie ha­be sich den In­halt des Flug­blat­tes zu ei­gen ge­macht, in dem sie es an ei­ne Be­triebs­an­gehöri­ge wei­ter­ge­lei­tet ha­be, oh­ne sich von dem Wort­laut zu dis­tan­zie­ren. Die Äußerun­gen in dem Flug­blatt sei­en aber noch durch das Grund­recht auf Mei­nungs­frei­heit ge­deckt. Zwar set­ze es sich po­le­misch mit der Be­klag­ten aus­ein­an­der, über­schrei­te aber die Gren­zen straf­recht­lich re­le­van­ten Ver­hal­tens noch nicht, wenn – wenn auch mit Über­zeich­nun­gen – auf ei­nen Per­so­nal­man­gel bei der Be­klag­ten und dar­aus re­sul­tie­ren­der Kon­se­quen­zen für Per­so­nal und Be­woh­ner auf­merk­sam ge­macht wer­de. Ein ge­wis­ser Per­so­nal­man­gel schei­ne ob­jek­tiv vor­zu­lie­gen, da der Me­di­zi­ni­sche Dienst nach dem Vor­trag der Be­klag­ten die Per­so­nal­si­tua­ti­on zwar als nicht zu bemängeln be­zeich­net, je­doch als an­ge­spannt be­wer­te­te ha­be und die Be­klag­te selbst die Be­set­zung der Wohn­be­rei­che 5 und 6 mit 10,74 % Voll­kräften er­mit­telt ha­be, ob­wohl die­ser Be­reich dann tatsächlich nur mit 9,02

 

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Voll­zeit­kräften be­setzt ge­we­sen sei. Ei­ne kon­kre­te Be­ein­träch­ti­gung des Be­triebs­frie­dens durch das Flug­blatt sei nicht vor­ge­tra­gen wor­den. Auch die Schrei­ben an die Geschäftsführung und an den Auf­sichts­rat sei­en kündi­gungs­recht­lich un­be­acht­lich. Die Kläge­rin ha­be in Wahr­neh­mung be­rech­tig­ter In­ter­es­sen ge­han­delt und in­so­weit die un­ter­neh­mens­in­ter­nen In­ter­ven­ti­onsmöglich­kei­ten ge­nutzt. Auf die Straf­an­zei­ge ha­be die Be­klag­te ih­re Kündi­gung nicht gestützt.

Ge­gen die­ses am 9. Sep­tem­ber 2005 zu­ge­stell­te Ur­teil rich­tet sich die Be­ru­fung der Be­klag­ten, die sie mit ei­nem beim Lan­des­ar­beits­ge­richt am 7. Ok­to­ber 2005 ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz ein­ge­legt und mit ei­nem beim Lan­des­ar­beits­ge­richt am 8. No­vem­ber 2005 ein­ge­leg­ten Schrift­satz be­gründet hat. Mit Schrift­satz vom 28. März 2006 hat die Be­klag­te ei­nen Auflösungs­an­trag ge­stellt.

Die Be­klag­te und Be­ru­fungs­be­klag­te wie­der­holt und ver­tieft ihr erst­in­stanz­li­ches Vor­brin­gen. Sie be­haup­tet, die Kläge­rin ha­be das Flug­blatt in­iti­iert, zu­min­dest aber an des­sen Ver­brei­tung mit­ge­wirkt, in­dem sie die Mit­ar­bei­te­rin ge­be­ten ha­be, es zu ko­pie­ren und zu ver­tei­len. Die dort er­ho­be­nen Vorwürfe sei­en un­wahr, zu­gleich aber auch ge­eig­net, die Be­klag­te in der öffent­li­chen Mei­nung her­ab­zu­set­zen. Zu­gleich sei es auch geschäftsschädi­gend, da es den Ein­druck er­we­cke, in den Pfle­ge­ein­rich­tun­gen fin­de ein gefähr­li­cher Um­gang mit den Be­woh­nern statt, was po­ten­ti­el­le In­ter­es­sen­ten ab­hal­ten könn­te. Der In­halt des Flug­blatts sei in der Fol­ge­zeit im Be­trieb hef­tig dis­ku­tiert wor­den. Ein struk­tu­rel­ler Per­so­nal­man­gel be­ste­he bei der Be­klag­ten nicht. Dies ha­be der Me­di­zi­ni­sche Dienst bei sei­ner letz­ten Un­ter­su­chung bestätigt. Im Mai 2004 ha­be es ei­ne Zäsur ge­ge­ben, da seit­her nur noch ex­ami­nier­te Mit­ar­bei­ter in der Be­hand­lungs­pfle­ge ein­ge­setzt würden. Nach den sog. Ber­li­ner Eck­wer­ten müsse sie un­ter Berück­sich­ti­gung der ver­schie­de­nen Pfle­ge­stu­fen ei­nen Per­so­nal­be­darf von 13,1 Voll­kräften brut­to vor­hal­ten, al­so nach Ab­zug von 18 % für Ur­laubs- Ab­we­sen­heits- und Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten 10,74 Voll­kräfte ein­pla­nen. Tatsächlich sei­en aber im Dienst­plan No­vem­ber 2004 11 Voll­zeit­kräfte ein­ge­stellt ge­we­sen. So­weit un­plan­ba­re Ausfälle ein­tre­ten würden, würden die­se durch Zeit­ar­beits­fir­men ab­ge­deckt. Nur bei ganz kurz­fris­ti­gen Ausfällen könne es hier zu Engpässen kom­men, die aber in der Per­so­nal­pla­nung nicht im vor­aus berück­sich­tigt wer­den könn­ten.

 

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Wei­ter­hin ha­be die Kläge­rin aber auch mit der Straf­an­zei­ge im De­zem­ber 2004 ge­gen die Geschäfts­lei­tung grob ge­gen ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten ver­s­toßen. Die Straf­an­zei­ge ent­hal­te un­zu­tref­fen­de, be­wusst wahr­heits­wid­ri­ge, je­den­falls aber leicht­fer­ti­ge An­ga­ben der Kläge­rin, die durch nichts ge­recht­fer­tigt sei­en. Die Kläge­rin wer­fe der Be­klag­ten dort u.a. oh­ne ei­ne annähernd hin­rei­chen­de Tat­sa­chen­grund­la­ge „ins Blaue hin­ein“ ei­nen Ab­rech­nungs­be­trug und ei­ne Ge­sund­heits­gefähr­dung der Be­woh­ner vor.

In ih­rem Schrei­ben an den Auf­sichts­rat der Be­klag­ten ha­be die Kläge­rin eben­falls wahr­heits­wid­ri­ge Be­haup­tun­gen auf­ge­stellt. Mit die­sem und ih­rem frühe­ren Schrei­ben vom 9. No­vem­ber 2004 ha­be die Kläge­rin ge­gen ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten ver­s­toßen, in­dem sie oh­ne in­halt­li­che Recht­fer­ti­gung Pflicht­ver­let­zun­gen im Be­reich der Be­klag­ten gerügt ha­be, die tatsächlich nicht auf­ge­tre­ten sei­en.

Hilfwei­se sei das Ar­beits­verhält­nis auf­zulösen. Nach dem ge­sam­ten Ver­hal­ten der Kläge­rin sei ei­ne den Be­triebs­zwe­cken dien­li­che Zu­sam­men­ar­beit nicht mehr zu er­war­ten.

Die Be­klag­te und Be­ru­fungskläge­rin be­an­tragt,

das Teil­ur­teil des Ar­beits­ge­richts Ber­lin vom 03. Au­gust 2005 (Geschäfts­zei­chen: 39 Ca 4775/05) ab­zuändern und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Hilfs­wei­se für den Fall des Un­ter­lie­gens mit dem Be­ru­fungs­an­trag

1. das Ar­beits­verhält­nis mit Ab­lauf des 31. März 2005 auf­zulösen.
2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an die Kläge­rin ei­ne Ab­fin­dung, de­ren Höhe in das Er­mes­sen des Ge­richts ge­stellt wird, zu zah­len.

Die Kläge­rin und Be­ru­fungs­be­klag­te, die sich zum Auflösungs­an­trag nicht ein­ge­las­sen hat, be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Die Kläge­rin ver­tei­digt das erst­in­stanz­li­che Ur­teil. So­wohl Flug­blatt als auch Straf­an­zei­ge sei­en durch die Wahr­neh­mung be­rech­tig­ter In­ter­es­sen ge­deckt. Sie ha­be zu kei­nem Zeit­punkt un­wah­re Tat­sa­chen ver­brei­tet. Im Mai 2004 ha­be es kei­ne Zäsur ge­ge­ben, son­dern der Per­so­nal­man­gel auch noch da­nach be­stan­den. Der Per­so­nal­be­stand ha­be nicht den Ber­li­ner Eck­wer­ten

 

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ent­spro­chen. Bei der Be­rech­nung sei al­lein der Brut­to­be­darf zu­grun­de zu le­gen. Der Kran­ken­stand könne nicht ab­ge­zo­gen wer­den. Der Per­so­nal­stand ha­be im No­vem­ber nicht ein­mal den Be­rech­nun­gen der Be­klag­ten ent­spro­chen, da dort nur 9,5 Voll­zeit­kräfte zur Verfügung ge­stan­den hätten. Durch den an­dau­ern­den Per­so­nal­man­gel sei es zu den von ihr schon erst­in­stanz­lich vor­ge­tra­ge­nen Pfle­gemängeln ge­kom­men, die als struk­tu­rel­les Pro­blem zu be­wer­ten sei­en, die die Be­klag­te aber nicht be­reit sei, wahr­zu­neh­men und zu be­sei­ti­gen. Sie ha­be die Be­klag­te auf Missstände im­mer wie­der hin­ge­wie­sen. Auf­grund der er­heb­li­chen Be­las­tungs­si­tua­ti­on sei sie wie­der­holt kurz­fris­tig und zu­letzt lang­fris­tig schwer er­krankt. Im No­vem­ber 2004 ha­be sie sich in ei­ner aus­weg­lo­sen Si­tua­ti­on be­fun­den, da sämt­li­che Ver­su­che, der Über­las­tung ent­ge­gen zu tre­ten, er­folg­los ge­we­sen sei­en. Sie ha­be sich in ei­nem er­heb­li­chen Ge­wis­sens­kon­flikt be­fun­den, da sie nicht an den von ihr auf­ge­zeig­ten Be­hand­lungs­de­fi­zi­ten ha­be mit­wir­ken wol­len. Sie ha­be befürch­tet, es könne zu Unfällen kom­men, die das Le­ben der Be­woh­ner be­dro­hen könn­ten, und sie ha­be Angst ge­habt, selbst straf­recht­lich für die De­fi­zi­te her­an­ge­zo­gen zu wer­den. Nach­dem die Be­klag­te im No­vem­ber 2004 wie­der ihr ge­sam­tes Vor­brin­gen pau­schal zurück­ge­wie­sen ha­be, ha­be sie auf An­ra­ten ih­res An­wal­tes, al­so nicht leicht­fer­tig, Straf­an­zei­ge zu ih­rer Ent­las­tung und zum Schut­ze der ihr an­ver­trau­ten Be­woh­ner ge­stellt.

Der Be­triebs­rat ha­be vor Aus­spruch der Kündi­gung noch nicht ab­sch­ließend Stel­lung ge­nom­men.

In der Ver­hand­lung vom 28. März 2006 hat die Kläge­rin be­haup­tet, sie sei wie­der­holt eben­so wie an­de­re Mit­ar­bei­ter an­ge­hal­ten wor­den, Pfle­ge­do­ku­men­ta­tio­nen zu ergänzen, oh­ne dass die Pfle­ge­leis­tun­gen er­bracht wor­den sei­en und sich zum Be­weis dafür auf das Zeug­nis der Mit­ar­bei­te­rin­nen S. K., G. W., A. W. be­ru­fen.

We­gen der wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des zweit­in­stanz­li­chen Par­tei­vor­brin­gens wird auf den In­halt der Schriftsätze der Be­klag­ten und Be­ru­fungskläge­rin vom 30. No­vem­ber 2005 (Bl. 336 – 374 d.A.), vom 23. März 2006 (Bl. 498 – 524 d.A.) so­wie vom 28. März 2006 (Bl. 529 – 539 d.A.) und auf die­je­ni­gen der Kläge­rin und Be­ru­fungs­be­klag­ten vom 27. Ja­nu­ar 2006 (Bl. 393 – 408 d.A.) so­wie vom 7. März 2006 (Bl. 444 – 492 d.A.) und auf das Vor­brin­gen in den münd­li­chen Ver­hand­lungs­ter­mi­nen Be­zug ge­nom­men.

 

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Ent­schei­dungs­gründe


1.
Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statt­haf­te Be­ru­fung der Be­klag­ten ist von ihr form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und be­gründet wor­den (§§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO, § 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbGG).

Die Be­ru­fung ist da­her zulässig.

2.
Die Be­ru­fung hat­te in der Sa­che Er­folg. Das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis en­de­te auf­grund der Kündi­gung der Be­klag­ten vom 9. Fe­bru­ar 2005, da die­se Kündi­gung rechts­wirk­sam war.

2.1
Die Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 ver­moch­te das Ar­beits­verhält­nis mit so­for­ti­ger Wir­kung auf­zulösen, da mit der Straf­an­zei­ge der Kläge­rin vom 7. De­zem­ber 2004 ein wich­ti­ger Grund i.S. von § 626 BGB vor­lag, der es der Be­klag­ten un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­fal­les und un­ter Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen der Ver­trags­par­tei­en un­zu­mut­bar mach­te, das Ar­beits­verhält­nis auch nur bis zum Ab­lauf der or­dent­li­chen Kündi­gungs­frist fort­zu­set­zen.

2.1.1
Es ist im Grund­satz da­von aus­zu­ge­hen, dass ei­ne zur (außer­or­dent­li­chen) Kündi­gung be­rech­ti­gen­de ar­beits­ver­trag­li­che Pflicht­ver­let­zung an sich vor­lie­gen kann, wenn der Ar­beit­neh­mer Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber oder sei­ne Re­präsen­tan­ten er­stat­tet und da­mit in er­heb­li­chem Maße ge­gen sei­ne ar­beits­ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten (§ 241 Abs. 2 BGB) verstößt.

Die ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht wird da­bei durch die Grund­rech­te näher aus­ge­stal­tet. Er­stat­tet ein Ar­beit­neh­mer Straf­an­zei­ge, nimmt er im Grund­satz ei­ne von der Ver­fas­sung ge­for­der­te und von der Rechts­ord­nung er­laub­te und ge­bil­lig­te Möglich­keit der Rechts­ver­fol­gung wahr. Ei­ne sol­che grund­recht­lich geschütz­te Rechts­po­si­ti­on be­steht je­doch nicht mehr, wenn der Ar­beit­neh­mer

 

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sei­ne Straf­an­zei­ge auf wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben stützt. Auf Sei­ten des Ar­beit­ge­bers ist wei­ter­hin das als Aus­fluss der ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­ten Un­ter­neh­mer­frei­heit (Art. 12 GG) recht­lich geschütz­te In­ter­es­se zu berück­sich­ti­gen, nur mit sol­chen Ar­beit­neh­mern zu­sam­men­zu­ar­bei­ten, die die Zie­le des Un­ter­neh­mens fördern und das Un­ter­neh­men vor Schäden be­wah­ren.

In die­sem Rah­men sind die ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten zu kon­kre­ti­sie­ren: Zunächst darf der Ar­beit­neh­mer die Straf­an­zei­ge nicht auf wis­sent­lich oder leicht­fer­tig un­wah­re Tat­sa­chen stützen. Ab­ge­se­hen von die­sen Fällen darf sich die An­zei­ge des Ar­beit­neh­mers nicht als ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf ein Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers oder sei­nes Re­präsen­tan­ten dar­stel­len. Da­bei können als In­di­zi­en für ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mers so­wohl die Be­rech­ti­gung der An­zei­ge als auch die Mo­ti­va­ti­on des An­zei­gen­den oder ein feh­len­der in­ner­be­trieb­li­cher Hin­weis auf die an­ge­zeig­ten Missstände spre­chen (vgl. BAG v. 3. 7. 2003 – 2 AZR 235/02 - NZA 2004, 427 ff.; BAG v. 4.7.1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a 74). Die Gründe, die den Ar­beit­neh­mer da­zu be­wo­gen ha­ben, die An­zei­ge zu er­stat­ten, ver­die­nen ei­ne be­son­de­re Be­deu­tung. Er­folgt die Er­stat­tung der An­zei­ge aus­sch­ließlich um den Ar­beit­ge­ber zu schädi­gen bzw. „fer­tig zu ma­chen“ kann – un­ter Berück­sich­ti­gung des der An­zei­ge zu­grun­de lie­gen­den Vor­wurfs – ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on vor­lie­gen. Durch ein der­ar­ti­ges pflicht­wid­ri­ges Ver­hal­ten nimmt der Ar­beit­neh­mer kei­ne ver­fas­sungs­recht­li­chen Rech­te wahr, son­dern verhält sich - je­den­falls ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber – rechts­miss­bräuch­lich. (BAG v. 3.7.2003 a.a.O un­ter II 3 b) dd)).

Ei­ner in­ner­be­trieb­li­chen Klärung be­darf es um­so mehr, als die ver­trag­li­che Ver­pflich­tung des Ar­beit­neh­mers im Raum steht, den Ar­beit­ge­ber vor dro­hen­den Schäden durch an­de­re Ar­beit­neh­mer zu be­wah­ren. Ihr gebührt nicht ge­ne­rell der Vor­rang. Es ist im Ein­zel­fall zu be­stim­men, wann dem Ar­beit­neh­mer ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che An­zei­ge oh­ne wei­te­res zu­mut­bar ist und ein Un­ter­las­sen ein pflicht­wid­ri­ges Ver­hal­ten dar­stellt. Ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che Mel­dung und Klärung ist dem Ar­beit­neh­mer un­zu­mut­bar, wenn er Kennt­nis von Straf­ta­ten erhält, durch de­ren Nicht­an­zei­ge er sich selbst ei­ner Straf­ver­fol­gung aus­set­zen würde. Ent­spre­chen­des gilt auch bei schwer­wie­gen­den Straf­ta­ten und vom Ar­beit­ge­ber selbst be­gan­ge­nen Straf­ta­ten. Hier muss re­gelmäßig die Pflicht des Ar­beit­neh­mers zur

 

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Rück­sicht­nah­me auf die In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers zurück­tre­ten. Hat hin­ge­gen nicht der Ar­beit­ge­ber oder sein ge­setz­li­cher Ver­tre­ter, son­dern ein Mit­ar­bei­ter sei­ne Pflich­ten ver­letzt oder straf­bar han­delt, ist es eher zu­mut­bar vom Ar­beit­neh­mer - auch wenn ein Vor­ge­setz­ter be­trof­fen ist - vor ei­ner An­zei­gen­er­stat­tung ei­nen Hin­weis an den Ar­beit­ge­ber zu ver­lan­gen. Dies gilt ins­be­son­de­re dann, wenn es sich um Pflicht­wid­rig­kei­ten han­delt, die - auch - den Ar­beit­ge­ber selbst schädi­gen, hier al­so die ver­trag­li­che Ver­pflich­tung des Ar­beit­neh­mers im Rau­me steht, den Ar­beit­ge­ber durch dro­hen­de Schäden durch an­de­re Ar­beit­neh­mer zu be­wah­ren (BAG v. 3.7.2003 a.a.O un­ter II 3 b) dd)). Den an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mer trifft al­ler­dings kei­ne Pflicht zur in­ner­be­trieb­li­chen Klärung, wenn Ab­hil­fe be­rech­tig­ter­wei­se nicht zu er­war­ten ist. Hat­te der Ar­beit­neh­mer den Ar­beit­ge­ber auf die ge­set­zes­wid­ri­ge Pra­xis im Un­ter­neh­men hin­ge­wie­sen, sorgt die­ser je­doch nicht für Ab­hil­fe, be­steht kei­ne wei­te­re ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht mehr (BAG v. 3.7.2003 a.a.O un­ter II 3 b) dd)).

2.1.2
Bei An­wen­dung die­ses Maßsta­bes er­weist sich die von der Kläge­rin er­stat­te­te Straf­an­zei­ge als gro­ber Ver­s­toß ge­gen ih­re ar­beits­ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten, ist mit­hin als wich­ti­ger Grund für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung an sich ge­eig­net. Die Kläge­rin hat ih­re An­zei­ge leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen ge­gründet, die im Pro­zess nicht dar­ge­legt wer­de konn­ten und schon in­so­weit kei­ne be­rech­tig­ten In­ter­es­sen wahr­ge­nom­men. Zu­dem stellt sich die ge­sam­te An­zei­ge als un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf die Wei­ge­rung der Be­klag­ten dar, den von der Kläge­rin be­haup­te­ten Per­so­nal­man­gel an­zu­er­ken­nen. Wie be­reits in ih­rem Schrei­ben vom 9. No­vem­ber 2004 an­gekündigt, be­zweck­te die Kläge­rin mit die­ser An­zei­ge und ei­ner sich dar­aus er­ge­ben­den öffent­li­chen Dis­kus­si­on, ei­ne Kam­pa­gne ge­gen die Be­klag­te zu eröff­nen und in un­zulässi­ger Wei­se Druck auf die Be­klag­te aus­zuüben.

2.1.2.1
Die Kläge­rin stützt ih­re An­zei­ge we­gen Ab­rech­nungs­be­trugs leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen, die im Pro­zess kei­ne Grund­la­ge in ei­nem ent­spre­chen­den Sach­vor­trag ge­fun­den ha­ben.

 

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2.1.2.1.1
Trotz ent­spre­chen­der Auf­la­ge hat die Kläge­rin für den von ihr dies­bezüglich er­ho­be­nen Vor­wurf nicht an­satz­wei­se ei­nen er­wi­de­rungsfähi­gen und ei­nem Be­weis zugäng­li­chen Sach­ver­halt dar­ge­stellt, der den in der Straf­an­zei­ge geäußer­ten Vor­wurf des Ab­rech­nungs­be­tru­ges als nach­voll­zieh­bar hätte er­schei­nen las­sen. Auch die Straf­an­zei­ge be­schränkt sich auf die von der Kläge­rin in der Be­ru­fungs­ver­hand­lung wie­der­hol­te – und von der Be­klag­ten be­strit­te­ne – all­ge­mei­ne Äußerung, Pfle­ge­kräfte würden an­ge­hal­ten, Leis­tun­gen zu do­ku­men­tie­ren, wel­che so gar er­bracht wor­den sei­en. Dies war be­reits zu we­nig, um die Staats­an­walt­schaft über­haupt zu Er­mitt­lun­gen zu ver­an­las­sen. Ei­ne nach­voll­zieh­ba­re Be­gründung für den von ihr geäußer­ten Ver­dacht, ge­gen den sich die Be­klag­te hätte ver­tei­di­gen und Be­weis an­bie­ten können, enthält die­se pau­scha­le Dar­stel­lung nicht. We­der ist er­kenn­bar, wer, wel­che kon­kre­te An­wei­sung er­teilt hat, noch um wel­che Pfle­ge­leis­tun­gen es da­bei ging und in wel­chem Zeit­rah­men sich dies ab­spiel­te.

Mit der An­for­de­rung ei­nes sol­chen Sach­vor­trags wird der Kläge­rin nicht et­was Unmögli­ches auf­gebürdet. Von der Kläge­rin wird nur im Rah­men der Zi­vil­pro­zess­ord­nung ei­ne sub­stan­ti­ier­te Ein­las­sung zu Tat­sa­chen ver­langt, die in ih­rer ei­ge­nen Wahr­neh­mung lie­gen und die sie selbst zum An­lass ge­nom­men hat, straf­recht­li­che Vorwürfe ge­gen die Be­klag­te zu er­he­ben. Ein sol­cher Sach­vor­trag wäre schon in der Straf­an­zei­ge na­he­lie­gend ge­we­sen, wenn es der Kläge­rin tatsächlich um die Aufklärung bzw. Ver­hin­de­rung der von ihr be­haup­te­ten Straf­tat ge­gan­gen wäre. Denn dann hätte sich die Kläge­rin doch zu­min­dest ein­zel­ne Vorfälle, Pa­ti­en­ten oder Pfle­ge­leis­tun­gen ge­merkt oder so­gar no­tiert, um die­se ge­genüber der Staats­an­walt­schaft vor­zu­brin­gen und dort über­haupt Er­mitt­lun­gen zu ermögli­chen.

So­weit die Kläge­rin vorträgt, be­reits aus dem von ihr be­haup­te­ten Per­so­nal­man­gel, der zwi­schen den Par­tei­en höchst strei­tig ist, er­ge­be sich ein aus­rei­chen­der An­lass für den von ihr an­ge­zeig­ten Ab­rech­nungs­be­trug, konn­te die Be­ru­fungs­kam­mer die­sen Zu­sam­men­hang oh­ne nähe­re Dar­le­gung zu den do­ku­men­tier­ten Pfle­ge­leis­tun­gen nicht her­stel­len. In­so­fern konn­te da­hin­ste­hen, ob tatsächlich - wie von der Kläge­rin be­haup­tet - bei der Be­klag­ten ein Per­so­nal­man­gel be­stan­den hat.

Oh­ne ei­nen sol­chen nähe­ren Sach­vor­trag ist die An­zei­ge we­gen Ab­rech­nungs­be­trugs als „ins Blaue hin­ein“ zu qua­li­fi­zie­ren. Dafür spricht auch

 

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der Um­stand, dass die Staats­an­walt­schaft auf Grund der Straf­an­zei­ge der Kläge­rin kei­ner­lei Er­mitt­lun­gen ein­ge­lei­tet hat. Da sich we­der der Straf­an­zei­ge noch dem zi­vil­pro­zes­sua­len Vor­trag ent­neh­men ließ, wel­che Tat­sa­chen die Kläge­rin zu ih­rem Ver­dacht ver­an­lass­ten, konn­te die Be­ru­fungs­kam­mer noch nicht ein­mal fest­stel­len, dass die Kläge­rin in gu­tem Glau­ben die Straf­an­zei­ge er­stat­tet hat, dass die­se al­so im all­ge­mei­nen In­ter­es­se an der Er­hal­tung des Rechts­frie­dens und an der Aufklärung von Straf­ta­ten ge­le­gen hat.

2.1.2.1.2
Die Kläge­rin hat die An­zei­ge in­so­weit auch leicht­fer­tig auf Tat­sa­chen gestützt, die im Pro­zess nicht dar­ge­legt wer­den konn­te. Denn sie hat schon nicht ein­mal in der An­zei­ge ei­nen Sach­ver­halt dar­ge­legt, der die Staats­an­walt­schaft zu Er­mitt­lun­gen hätte ver­an­las­sen können. Auch dort wird – wie ge­zeigt - nur ein pau­scha­ler Vor­wurf er­ho­ben. Dass die Kläge­rin mit der Straf­an­zei­ge ei­nen An­walt be­auf­tragt hat, steht der An­nah­me der Leicht­fer­tig­keit nicht ent­ge­gen. Der An­walt hat hier die An­ga­ben der Kläge­rin wi­der­ge­ge­ben. Je­den­falls be­haup­tet die Kläge­rin selbst nicht, dass die An­zei­ge in­so­weit al­lein auf ei­ner Er­fin­dung ih­res da­ma­li­gen Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten be­ruh­te. Da­bei mag es sein, dass sich die Kläge­rin der mögli­chen kündi­gungs­recht­li­chen Kon­se­quen­zen ei­ner sol­chen An­zei­ge nicht be­wusst war, an der im Pro­zess feh­len­den Sub­stanz der Vorwürfe, die die Leicht­fer­tig­keit be­gründen, ändert dies nichts. Ei­ne sol­che Straf­an­zei­ge un­terfällt schon nicht dem grund­recht­lich geschütz­ten Be­reich.

2.1.2.2
Die Straf­an­zei­ge er­weist sich aber auch als un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on der Kläge­rin auf die Wei­ge­rung der Be­klag­ten, den von ihr be­haup­te­ten Per­so­nal­man­gel als be­ste­hend an­zu­er­ken­nen.

2.1.2.2.1
Dies er­gibt sich zunächst aus dem Um­stand, dass die Kläge­rin bezüglich des be­haup­te­ten Ab­rech­nungs­be­tru­ges ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Klärung nicht ver­sucht hat. Un­ter­stellt man den Vor­trag der Kläge­rin als rich­tig, sie sei an­ge­wie­sen wor­den, mehr Pfle­ge­leis­tun­gen auf­zu­schrei­ben, als sie tatsächlich er­bracht hat, dann hat­te die Be­klag­te ein er­heb­li­ches In­ter­es­se an ei­ner in­ner­be­trieb­li­chen Klärung, um ei­ne sol­che Pra­xis un­verzüglich zu be­en­den und ihr dro­hen­de Schäden, wie z. B. die Kündi­gung des Pfle­ge­ver­tra­ges sei­tens der

 

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Kran­ken­kas­sen we­gen Ab­rech­nungs­be­tru­ges, ab­zu­wen­den. We­der er­ge­ben sich aus den von der Kläge­rin zahl­reich ge­stell­ten Über­las­tungs­an­zei­gen Hin­wei­se auf den von ihr an­ge­zeig­ten Tat­be­stand, noch ent­hal­ten die Schrei­ben der Kläge­rin vom 9. No­vem­ber 2004 und vom 10. De­zem­ber 2004 ei­nen Hin­weis an die Geschäfts­lei­tung oder Per­so­nal­lei­tung auf ei­ne sol­che Pra­xis bei der Be­klag­ten. Ge­ra­de in die­sen Schrei­ben hätte es na­he ge­le­gen, den Vor­wurf an­zu­brin­gen, wenn er denn zu recht be­stan­den hätte.

Ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che Mel­dung und Klärung war der Kläge­rin nicht un­zu­mut­bar. We­der ging es um Straf­ta­ten, durch de­ren Nicht­an­zei­ge sie sich selbst ei­ner Straf­ver­fol­gung aus­set­zen würde, noch um Straf­ta­ten des Ar­beit­ge­bers oder sei­ner ge­setz­li­chen Ver­tre­ter. Die Kläge­rin muss­te auch nicht da­von aus­ge­hen, ei­ne in­ner­be­trieb­li­che Klärung blie­be er­folg­los, weil sie be­reits Über­las­tungs­an­zei­gen ge­stellt hat­te, die von der Be­klag­ten als sub­jek­ti­ve Einschätzung der Kläge­rin be­wer­tet wur­den. Dar­aus kann nicht ge­schlos­sen wer­den, die Be­klag­te wäre ei­nem sub­stan­ti­el­len Hin­weis auf ei­nen Ab­rech­nungs­be­trug nicht nach­ge­gan­gen, hätte ihn nicht un­ter­bun­den und ggf. die er­for­der­li­chen ar­beits­recht­li­chen Schrit­te ge­genüber den an­wei­sen­den Mit­ar­bei­tern nicht un­ter­nom­men.

2.1.2.2.2
Die Straf­an­zei­ge der Kläge­rin er­weist sich aber auch in wei­te­ren Punk­ten als un­verhält­nismäßig. So­weit die Kläge­rin in ih­rer Straf­an­zei­ge un­ter un­ter­schied­li­chen As­pek­ten und ver­meint­li­chen Straf­tat­beständen den von ihr be­haup­te­ten, zwi­schen den Par­tei­en strei­ti­gen Per­so­nal­man­gel und dar­aus fol­gend (strei­ti­ge) Pfle­gemängel an­greift, be­durf­te es ei­ner Straf­an­zei­ge - auch für die Kläge­rin er­kenn­bar - nicht. Denn die Be­klag­te un­ter­lag mit ih­rem Pfle­ge­heim der Kon­trol­le des Me­di­zi­ni­schen Diens­tes der Kran­ken­kas­se, der kurz vor der Straf­an­zei­ge noch­mals ei­ne Kon­troll­un­ter­su­chung der Qua­lität der Pfle­ge­leis­tun­gen der Be­klag­ten vor­ge­nom­men hat. In­so­fern hätte die Kläge­rin, wenn es ihr um die Qua­lität der Pfle­ge ge­gan­gen wäre, zunächst das Er­geb­nis die­ser Un­ter­su­chung ab­war­ten können. Dass der Kon­troll­me­cha­nis­mus grundsätz­lich funk­tio­nier­te, die Kläge­rin al­so nicht fürch­ten muss­te, der Me­di­zi­ni­schen Dienst der Kran­ken­kas­se wer­de die Au­gen vor be­ste­hen­den Mängeln ver­sch­ließen, konn­te die Kläge­rin aus dem ihr be­kann­ten Schrei­ben des Me­di­zi­ni­schen Diens­tes vom 6. No­vem­ber 2003 ent­neh­men, in dem we­gen da­mals auf­ge­tre­te­ner Mängel die Kündi­gung des Pfle­ge­ver­tra­ges an­ge­droht

 

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wor­den war. Den Aus­gang der Über­prüfung des Me­di­zi­ni­schen Diens­tes woll­te die Kläge­rin aber nicht ab­war­ten.

2.1.2.2.3
Aus all die­sen Umständen wird deut­lich, dass es der Kläge­rin mit ih­rer An­zei­ge nicht um die Aufklärung von Straf­ta­ten bzw. um die Ver­hin­de­rung wei­te­rer Straf­ta­ten ge­gan­gen ist. Viel­mehr woll­te sie mit den von ihr er­ho­be­nen Vorwürfen wie Ab­rech­nungs­be­trug und der ge­wag­ten Kon­struk­ti­on ei­nes Be­tru­ges zu Las­ten der An­gehöri­gen und Be­woh­ner Auf­se­hen er­re­gen, die Be­klag­te in die öffent­li­che Dis­kus­si­on brin­gen, um auf die Be­klag­te Druck aus­zuüben, den von ihr ge­setz­ten For­de­run­gen nach­zu­kom­men. Dafür spricht wei­ter die ge­sam­te po­le­mi­sche Dik­ti­on der Straf­an­zei­ge, die Auf­for­de­rung an die Staats­an­walt­schaft, al­le Mit­ar­bei­ter zu ver­neh­men, um den nicht näher be­gründe­ten Vor­wurf der Kläge­rin erst ein­mal zu er­mit­teln und der ab­sch­ließen­de Satz, in dem – oh­ne An­ga­be von Tat­sa­chen – wei­te­re Ein­rich­tun­gen der Be­klag­ten „in Bausch und Bo­gen“ in die an­geb­li­chen Straf­ta­ten mit ein­be­zo­gen und ein Mil­lio­nen­scha­den kon­stru­iert wur­de. Dies hat­te die Kläge­rin selbst in ih­rem Schrei­ben vom 9. No­vem­ber 2004 an­gekündigt.

Bei den von der Kläge­rin zum Ge­gen­stand ih­rer An­zei­ge ge­mach­ten Vorwürfen konn­ten die­se auch nicht – wie von der Kläge­rin gel­tend ge­macht – ih­rem ei­ge­nen Schutz vor Straf­ver­fol­gung die­nen. Zum ei­nen stand dem schon ent­ge­gen, dass sich die Vorwürfe im Pro­zess nicht bestätigt hat­ten, zum an­de­ren, dass der In­halt der Straf­an­zei­ge bei wei­tem über ei­ne sol­che Mo­ti­va­ti­on hin­aus­ging.

Dass es der Kläge­rin bei ih­rer An­zei­ge im Er­geb­nis um ei­ne Kam­pa­gne ge­gen ih­re Ar­beit­ge­be­rin ging, zeigt auch ihr pro­zes­sua­les Ver­hal­ten. Nach­dem ih­re Pro­zess­be­vollmäch­tig­te in der ers­ten Be­ru­fungs­ver­hand­lung geäußert hat­te, sie wol­le sich zum In­halt der Straf­an­zei­ge nicht wei­ter ein­las­sen, war es die Kläge­rin persönlich, die die Öffent­lich­keit der Ver­hand­lung da­zu nutz­te, auf den In­halt und (be­haup­te­ten) An­lass ih­rer Straf­an­zei­ge (Be­trug und Nöti­gung) hin­zu­wei­sen, wo­bei sie auch dort le­dig­lich pau­scha­le Be­haup­tun­gen oh­ne nähe­ren Sach­vor­trag in den Raum stell­te.

 

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2.1.2.2.4
Mit ei­ner sol­chen Straf­an­zei­ge, die leicht­fer­tig un­zu­tref­fen­de Be­haup­tun­gen enthält, un­verhält­nismäßig ist und in Wahr­heit an­de­ren Zwe­cken dient, hat die Kläge­rin nicht mehr ver­fas­sungs­recht­lich gewähr­leis­te­te Rech­te wahr­ge­nom­men, son­dern ih­re ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten in er­heb­li­cher Wei­se ver­letzt. Ein sol­ches Ver­hal­ten ist als wich­ti­ger Grund für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung an sich ge­eig­net.

2.1.3
Un­ter Berück­sich­ti­gung al­ler Umstände des Ein­zel­falls und un­ter Abwägung der bei­der­sei­ti­gen In­ter­es­sen der Ver­trags­par­tei­en war es der Be­klag­ten auch nicht zu­zu­mu­ten, das Ar­beits­verhält­nis bis zum Ab­lauf der or­dent­li­chen Kündi­gungs­frist fort­zu­set­zen.

Da­bei hat die Be­ru­fungs­kam­mer zu Guns­ten der Kläge­rin durch­aus berück­sich­tigt, dass es sich bei ih­rer Ar­beit in der Al­ten­pfle­ge um ei­ne körper­lich und psy­chisch an­stren­gen­de und auf­rei­ben­de Tätig­keit han­delt, un­ter der die Kläge­rin im Er­geb­nis wohl ge­lit­ten hat, wie sich wohl auch aus ih­ren Ar­beits­unfähig­keits­zei­ten er­gibt. Auch ver­folg­te die Kläge­rin mit ih­rer An­zei­ge nicht ei­nen ei­ge­nen Vor­teil, son­dern sie woll­te sich aus sub­jek­ti­ver Sicht in be­son­de­rem Maße für die zu pfle­gen­den Men­schen ein­set­zen. Auf der an­de­ren Sei­te war die Schwe­re des Ver­s­toßes ge­gen die ar­beits­ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten zu berück­sich­ti­gen. Die An­zei­ge stütz­te sich auf Tat­sa­chen, die nicht näher dar­ge­legt wer­den konn­ten. Die Kläge­rin bekämpf­te mit ih­rer Straf­an­zei­ge nicht et­wa nur ein­zel­ne Missstände der Al­ten­pfle­ge. Viel­mehr führ­te sie ei­ne Kam­pa­gne ge­gen die Be­klag­te, die de­ren ge­sam­te wirt­schaft­li­che Betäti­gung kri­ti­sier­te und die­se nach der Art der Vorwürfe und der Aus­drucks­wei­se her­ab­setz­te. Da­bei war die Straf­an­zei­ge durch­aus ge­eig­net, er­heb­li­chen Scha­den bei der Be­klag­ten zu ver­ur­sa­chen. Der dort er­ho­be­ne Vor­wurf des Ab­rech­nungs­be­tru­ges, aber auch der Vor­wurf, die Be­klag­te be­rei­che­re sich auf Kos­ten von Be­woh­nern und An­gehöri­gen, be­trifft den Kern­be­reich der Tätig­keit der Be­klag­ten. Die Be­klag­te, die von den Verträgen mit den Kran­ken­kas­sen, aber auch von den In­ter­es­sen­ten abhängig ist, kann mit der durch die Ein­lei­tung ei­nes Straf­ver­fah­rens ver­bun­de­nen ne­ga­ti­ven öffent­li­chen Pu­bli­zität in ih­rer Exis­tenz­grund­la­ge gefähr­det wer­den. Denn auch wenn - wie hier - die Vorwürfe durch kei­nen Sach­vor­trag be­legt wer­den, ver­bleibt in der Öffent­lich­keit, ge­ra­de weil es sich um den sen­si­blen Be­reich der

 

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Al­ten­pfle­ge han­delt, für den oh­ne­hin die Er­war­tungs­hal­tung da­hin­ge­hend ge­prägt ist, sie sei in der Re­gel schlecht, leicht der Ein­druck, „es muss et­was dran sein“. Dem steht nicht ent­ge­gen, dass im Er­geb­nis ein Straf­ver­fah­ren nicht eröff­net wur­de. Mit ih­rer An­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft Ber­lin hat die Kläge­rin das Ver­fah­ren oh­ne­hin schon aus der Hand ge­ge­ben. Sie be­haup­tet selbst nicht, sie ha­be die Straf­an­zei­ge in der Vor­stel­lung ge­stellt, es wer­de schon kein Ver­fah­ren eröff­net. Im übri­gen wur­de die Straf­an­zei­ge spätes­tens mit der Ver­brei­tung des Flug­blatts in der Öffent­lich­keit be­kannt ge­macht.

Hin­zu kam, dass die Kläge­rin schon je­des le­gi­ti­me Ver­hal­ten der Be­klag­ten, das Berührungs­punk­te mit dem von ihr be­haup­te­ten Per­so­nal­man­gel auf­weist, als straf­recht­lich re­le­vant an­sieht. So emp­fin­det sie be­reits die An­wei­sung des Ar­beit­ge­bers, sich den Be­woh­nern und An­gehöri­gen ge­genüber nicht ne­ga­tiv über den Be­trieb zu äußern, als straf­recht­lich re­le­van­te Nöti­gung der Mit­ar­bei­ter. Holt sie dann am En­de auch noch – oh­ne Tat­sa­chen­vor­trag - zum Rund­um­schlag ge­gen wei­te­re, nicht näher be­zeich­ne­ten Ein­rich­tun­gen der Be­klag­ten aus, wird deut­lich, dass sie den Blick für die ihr ob­lie­gen­den ar­beits­ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten vollständig ver­lo­ren hat. An­ge­sichts die­ses Ver­hal­tens der Kläge­rin kann ei­ne po­si­ti­ve Pro­gno­se für die Fortführung des Ar­beits­verhält­nis­ses nicht ge­stellt wer­den.

Bei die­ser Sach­la­ge muss­te das In­ter­es­se der Kläge­rin an der Fort­set­zung ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses ge­genüber den In­ter­es­sen der Be­klag­ten an ei­ner Be­en­di­gung zurück­tre­ten. Die Be­triebs­zu­gehörig­keit war mit 5 Jah­ren noch nicht so er­heb­lich, als dass der Be­klag­ten bei dem hier vor­ge­kom­me­nen Pflich­ten­ver­s­toß auch un­ter Berück­sich­ti­gung des Al­ters der Kläge­rin und ih­rer Un­ter­halts­ver­pflich­tun­gen die Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses zu­min­dest bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist zu­mut­bar ge­we­sen wäre.

2.2
Die Kündi­gung er­weist sich auch von ih­rer for­mel­len Sei­te her als wirk­sam. Der Be­triebs­rat wur­de vor Aus­spruch der Kündi­gung nach § 102 Be­trVG ord­nungs­gemäß un­ter Be­kannt­ga­be der Kündi­gungs­gründe an­gehört und die Be­klag­te hat die Kündi­gung erst nach Ab­schluss des Anhörungs­ver­fah­rens aus­ge­spro­chen.

 

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2.2.1
Die Be­klag­te hat dem Be­triebs­rat mit Schrei­ben vom 4. Fe­bru­ar 2005 im Rah­men ih­rer sub­jek­ti­ven De­ter­mi­na­ti­on die ihr be­kann­ten Kündi­gungs­gründe mit­ge­teilt. Da­zu zähl­te auch die von der Kläge­rin ge­stell­te Straf­an­zei­ge, auf die in dem Anhörungs­schrei­ben Be­zug ge­nom­men wird. Dass die­se schon zum da­ma­li­gen Zeit­punkt Teil des Kündi­gungs­vor­wurfs war, folgt – für den Be­triebs­rat er­kenn­bar – aus dem Anhörungs­schrei­ben an die Kläge­rin vom 1. Fe­bru­ar 2005 (Bl. 373 d.A.), das den Un­ter­la­gen für den Be­triebs­rat bei­gefügt war. Ge­gen­stand die­ser Anhörung war ins­be­son­de­re die in dem Flug­blatt ent­hal­te­ne Äußerung, die Kläge­rin ha­be Straf­an­zei­ge ge­stellt. Dass die Be­klag­te sich in der ers­ten In­stanz nicht hin­rei­chend deut­lich auf die­sen Kündi­gungs­grund gestützt hat, ist für die Be­triebs­rats­anhörung unschädlich.

Den ex­ak­ten In­halt der Straf­an­zei­ge konn­te die Be­klag­te dem Be­triebs­rat nicht mit­tei­len, da er ihr selbst zu dem da­ma­li­gen Zeit­punkt nicht be­kannt war. Die Kläge­rin hat­te auf das Anhörungs­schrei­ben der Be­klag­ten nicht re­agiert, viel­mehr erst­mals im Kündi­gungs­schutz­pro­zess mit­ge­teilt, es ha­be sich um ei­ne Straf­an­zei­ge we­gen Be­trugs und Nöti­gung ge­han­delt.

So­weit bei der Be­ur­tei­lung der Wirk­sam­keit der Kündi­gung der In­halt der von der Kläge­rin ein­ge­reich­ten Straf­an­zei­ge her­an­ge­zo­gen wur­de, han­delt es sich mit­hin um ei­ne Kon­kre­ti­sie­rung des Kündi­gungs­grun­des „Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber“, für die es ei­ner er­neu­ten Anhörung des Be­triebs­rats nicht be­durf­te.

2.2.2
Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Kläge­rin war das Anhörungs­ver­fah­ren vor Aus­spruch der Kündi­gung ab­ge­schlos­sen. Da­bei kann da­hin­ste­hen, wann der Be­triebs­rat das Anhörungs­schrei­ben vom 4. Fe­bru­ar 2005 er­hal­ten hat. Er hat je­den­falls mit Schrei­ben vom 8. Fe­bru­ar 2005 (Bl. 10 d.A.) ab­sch­ließend zu der be­ab­sich­tig­ten Kündi­gung Stel­lung ge­nom­men. Die­ses Schrei­ben hat die Be­klag­te am 8. Fe­bru­ar 2005, al­so vor Aus­spruch der Kündi­gung er­hal­ten. Da­mit war das Anhörungs­ver­fah­ren beim Be­triebs­rat be­en­det.

2.3.
Aus die­sen Gründen er­weist sich die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung vom 9. Fe­bru­ar 2005 als rechts­wirk­sam. Ob die wei­te­ren von der Be­klag­ten her­an­ge­zo­ge­nen Kündi­gungs­gründe, ins­be­son­de­re das Flug­blatt, ei­ne frist­lo­se

 

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Kündi­gung ge­tra­gen hätten, oder ob die Äußerun­gen in die­sem Flug­blatt – wie es das Ar­beits­ge­richt ausführ­lich be­gründet hat – noch vom Grund­recht der Kläge­rin auf Mei­nungs­frei­heit nach Art. 5 GG ge­deckt ge­we­sen wären, muss­te nicht ent­schie­den wer­den.

3.
Auf die Be­ru­fung der Be­klag­ten war das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts ab­zuändern und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Die Kos­ten­ent­schei­dung be­ruht auf § 91 ZPO.

4.
Die Zu­las­sung der Re­vi­si­on kam nicht in Be­tracht, da die Vor­aus­set­zun­gen nach § 72 Abs. 2 ArbGG nicht ge­ge­ben wa­ren.

 

Rechts­mit­tel­be­leh­rung

Ge­gen die­se Ent­schei­dung ist ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben.

 

R.

S.

W.

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