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EuGH, Urteil vom 06.03.2014, C-458/12 - Amatori u.a.
Schlagworte: | Betriebsübergang: Wirtschaftliche Einheit, Betriebsübergang: Konzern, Betriebsteilübergang | |
Gericht: | Europäischer Gerichtshof | |
Aktenzeichen: | C-458/12 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 06.03.2014 | |
Leitsätze: | 1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die bei einem Übergang eines Unternehmensteils den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem dieser Unternehmensteil keine funktionell selbständige wirtschaftliche Einheit darstellt, die vor seinem Übergang bestand. 2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem nach dem Übergang des betreffenden Unternehmensteils der Veräußerer eine starke beherrschende Stellung gegenüber dem Erwerber einnimmt. |
|
Vorinstanzen: | ||
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
6. März 2014(*)
„Vorabentscheidungsersuchen - Sozialpolitik - Übergang von Unternehmen - Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer - Richtlinie 2001/23/EG - Übergang der Arbeitsverhältnisse im Fall der vertraglichen Übertragung eines Betriebsteils, der nicht als bereits zuvor bestehende selbständige wirtschaftliche Einheit identifiziert werden kann“
In der Rechtssache C-458/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Trento (Italien) mit Entscheidung vom 20. September 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Oktober 2012, in dem Verfahren
Lorenzo Amatori u. a.
gegen
Telecom Italia SpA,
Telecom Italia Information Technology Srl, vormals Shared Service Center Srl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie des Richters J. Malenovský (Berichterstatter) und der Richterin A. Prechal,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Amatori u. a., vertreten durch R. Bolognesi, avvocato,
- der Telecom Italia SpA und der Telecom Italia Information Technology Srl, vormals Shared Service Center Srl, vertreten durch A. Maresca, R. Romei und F. R. Boccia, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und J. Enegren als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 | Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82, S. 16). |
2 | Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Amatori und 74 anderen Klägern auf der einen Seite sowie der Telecom Italia SpA (im Folgenden: Telecom Italia) und der Telecom Italia Information Technology Srl, vormals Shared Service Center Srl (im Folgenden: TIIT), auf der anderen Seite wegen der Qualifizierung der Einbringung einer als „IT Operations“ bezeichneten IT-Sparte (im Folgenden: Sparte IT Operations) durch Telecom Italia in TIIT als „Übergang eines Unternehmensteils“.
Rechtlicher Rahmen Unionsrecht |
3 | Die Richtlinie 2001/23 hat die Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26) in der durch die Richtlinie 98/50/EG des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 201, S. 88) geänderten Fassung aufgehoben und ersetzt. |
4 |
Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/23 lautet wie folgt: „Es sind Bestimmungen notwendig, die die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten.“ |
5 | Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie bestimmt:
„a) Diese Richtlinie ist auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- bzw. Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung anwendbar. b) Vorbehaltlich Buchstabe a) und der nachstehenden Bestimmungen dieses Artikels gilt als Übergang im Sinne dieser Richtlinie der Übergang einer ihre Identität bewahrenden wirtschaftlichen Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit.“ |
6 | Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.“ |
7 | Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und 4 dieser Richtlinie lautet wie folgt:
„Sofern das Unternehmen, der Betrieb oder der Unternehmens- bzw. Betriebsteil seine Selbständigkeit behält, bleiben die Rechtsstellung und die Funktion der Vertreter oder der Vertretung der vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer unter den gleichen Bedingungen erhalten, wie sie vor dem Zeitpunkt des Übergangs aufgrund von Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder aufgrund einer Vereinbarung bestanden haben, sofern die Bedingungen für die Bildung der Arbeitnehmervertretung erfüllt sind. … Behält das Unternehmen, der Betrieb oder der Unternehmens- bzw. Betriebsteil seine Selbständigkeit nicht, so treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit die vom Übergang betroffenen Arbeitnehmer, die vor dem Übergang vertreten wurden, während des Zeitraums, der für die Neubildung oder Neubenennung der Arbeitnehmervertretung erforderlich ist, im Einklang mit dem Recht oder der Praxis der Mitgliedstaaten weiterhin angemessen vertreten werden.“ |
8 | Art. 8 der Richtlinie 2001/23 hat folgenden Wortlaut:
„Diese Richtlinie schränkt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten nicht ein, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere Kollektivverträge und andere zwischen den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarungen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, zu fördern oder zuzulassen.“ Italienisches Recht |
9 | Art. 2112 Abs. 1 und 5 des Codice civile in der Fassung von Art. 32 des Decreto legislativo Nr. 276 - Attuazione delle deleghe in materia di occupazione e mercato del lavoro, di cui alla legge 14 febbraio 2003, Nr. 30 (Gesetzesvertretendes Dekret zur Durchführung der Übertragungen im Bereich Beschäftigung und Arbeitsmarkt gemäß Gesetz Nr. 30 vom 14. Februar 2003) vom 10. September 2003 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 235 vom 9. Oktober 2003, im Folgenden: Codice civile), der zur Zeit der Ereignisse im Ausgangsverfahren in Kraft war, bestimmt:
„1. Bei einem Unternehmensübergang wird das Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber fortgesetzt … … 5. Für die in diesem Artikel vorgesehenen Zwecke und Wirkungen ist unter Übergang eines Betriebs jeder Vorgang zu verstehen, der aufgrund einer vertraglichen Abtretung oder einer Verschmelzung zu einer Änderung in der Inhaberschaft einer schon vor dem Übergang bestehenden mit oder ohne Gewinnzweck organisierten wirtschaftlichen Tätigkeit führt, die bei dem Übergang ihre Identität bewahrt, und zwar unabhängig von der Art des Rechtsgeschäfts oder von der Verfügung, aufgrund deren der Übergang, auch durch Einräumung eines Nießbrauchs am Betrieb oder durch Verpachtung, erfolgt. Die Bestimmungen dieses Artikels finden auch auf den Übergang eines Teils eines Betriebs Anwendung, worunter ein funktionell selbständiger Zweig einer organisierten wirtschaftlichen Tätigkeit zu verstehen ist, der durch den Veräußerer und den Erwerber zum Zeitpunkt seines Übergangs als solcher identifiziert worden ist.“ |
10 | Aus der Vorlageentscheidung geht außerdem hervor, dass der letzte Satz dieses Art. 2112 Abs. 5 in seiner Fassung vor dem genannten gesetzesvertretenden Dekret vorsah:
„Die Bestimmungen dieses Artikels finden auch auf den Übergang eines Teils eines Betriebs Anwendung, worunter ein funktionell selbständiger Zweig einer organisierten wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des vorliegenden Absatzes zu verstehen ist, der als solcher vor dem Übergang bestand und seine eigene Identität bei dem Übergang behält.“ |
11 | Außerdem weist die Vorlageentscheidung darauf hin, dass bei Fehlen eines „Übergangs von Unternehmen oder Unternehmensteilen“ im Sinne von Art. 2112 Abs. 5 des Codice civile die Übertragung von Arbeitsverträgen durch den Arbeitgeber unter Art. 1406 des Codice civile fällt. Dieser Artikel sieht vor, dass diese Übertragung die Zustimmung des Arbeitnehmers erfordert.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen |
12 | Im Februar 2010 führte Telecom Italia eine interne Umstrukturierung durch. |
13 | Vor dieser Umstrukturierung umfasste die Struktur von Telecom Italia einen „Technology and Operations“ genannten Aufgabenbereich, der aus einer Reihe von Abteilungen gebildet wurde und u. a. die Sparte „Information Technology“ mit einschloss. Diese stellte eine einheitliche Struktur dar, zu der die operationellen Tätigkeiten der Neuentwicklung, der Planung, der Durchführung, des Anwendungsbetriebs und des infrastrukturellen Betriebs von IT-Lösungen gehörten. Bei dieser internen Umstrukturierung teilte Telecom Italia diese Sparte in ungefähr zehn Sparten auf, darunter die als „IT Operations“, „IT Governance“ und „Projektplanung“ bezeichneten Sparten. Die Sparte „Projektplanung“ fasste die Aufgaben der Neuentwicklung und Planung zusammen. |
14 | Drei Unterabteilungen, darunter der den Ausführungsaufgaben zugeteilte Dienst „Software and test factory“, wurden der Sparte IT Operations angegliedert. |
15 | Nach der Schaffung der Sparte IT Operations haben die für die Sparte „Projektplanung“ und den Dienst „Software and test factory“ eingeteilten Arbeitnehmer nie aufgehört zusammenzuarbeiten. |
16 | Außerdem erhielt der Dienst „Software and test factory“ nach der Schaffung und dem Übergang der Sparte IT Operations spezifische Anweisungen von Telecom Italia. |
17 | Am 28. April 2010 übertrug Telecom Italia diese Sparte an ihr Tochterunternehmen TIIT in Form einer Sacheinlage in das Kapital von TIIT. Die Kläger des Ausgangsverfahrens, die dieser Sparte zugeteilt waren, setzten, ohne dem zugestimmt zu haben, ihr Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber gemäß Art. 2112 Abs. 1 des Codice civile fort. |
18 | Da sie der Ansicht waren, dass diese Einlage nicht als Übergang eines Betriebsteils im Sinne von Art. 2112 Abs. 5 des Codice civile qualifiziert werden könne, riefen die Kläger des Ausgangsverfahrens das Tribunale di Trento als Arbeitsgericht an, um feststellen zu lassen, dass ihnen diese Einlage nicht entgegengehalten werden könne und ihr Arbeitsverhältnis mit Telecom Italia folglich weiter bestanden habe. |
19 | Die Kläger des Ausgangsverfahrens machten zur Stützung ihrer Klage geltend, dass vor der Einlage der Sparte IT Operations in das Kapital von TIIT diese Sparte keine funktionell selbständige Unterabteilung in der Struktur von Telecom Italia dargestellt habe. Außerdem habe diese Sparte vor der Übertragung nicht bestanden. Zudem sei die vom Veräußerer über den Erwerber ausgeübte maßgebliche Macht ebenfalls dazu geeignet, dass diese Einlage nicht als Übergang von Unternehmen qualifiziert werden könne. |
20 | Außerdem sei TIIT nach der Einlage der Sparte IT Operations weiterhin eindeutig vorwiegend für Telecom Italia tätig geworden. |
21 |
Unter diesen Umständen hat der Tribunale di Trento das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Steht die Regelung der Europäischen Union über den „Übergang eines Unternehmensteils“ (insbesondere Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23) einer innerstaatlichen Rechtsnorm wie derjenigen des Art. 2112 Abs. 5 des Codice civile entgegen, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers, ohne dass es der Zustimmung der durch die Veräußerung betroffenen Arbeitnehmer bedarf, auch dann zulässt, wenn der Unternehmensteil, der Gegenstand des Übergangs ist, keine bereits vor dem Übergang bestehende funktionell selbständige wirtschaftliche Einheit derart darstellt, dass sie als solche vom Veräußerer und vom Erwerber im Zeitpunkt ihres Übergangs identifiziert werden kann? 2. Steht die Regelung der Europäischen Union über den „Übergang eines Unternehmensteils“ (insbesondere Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23) einer innerstaatlichen Rechtsnorm wie derjenigen des Art. 2112 Abs. 5 des Codice civile entgegen, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers, ohne dass es der Zustimmung der durch die Veräußerung betroffenen Arbeitnehmer bedarf, auch dann zulässt, wenn das veräußernde Unternehmen nach dem Übergang eine starke beherrschende Stellung gegenüber dem Erwerber einnimmt, die sich durch eine enge Verbindung in Form eines Auftragsverhältnisses und eine Vermengung des Unternehmensrisikos äußert? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage |
22 |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die bei einem Übergang eines Unternehmensteils den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem dieser Unternehmensteil keine funktionell selbständige wirtschaftliche Einheit darstellt, die vor seinem Übergang bestand. Zur Zulässigkeit |
23 | Telecom Italia und TIIT sind der Auffassung, die erste Frage sei unzulässig, da sie von dem unbegründeten Postulat ausgehe, wonach die Sparte, die Gegenstand der Übertragung sei, eine vor der Abtretung bestehende Einheit darstellen müsse. Der Begriff „vorheriges Bestehen“ sei dem neuen Wortlaut von Art. 2112 des Codice civile und der Richtlinie 2001/23 sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs fremd. |
24 | Hierzu ist festzustellen, dass dieser Einwand, soweit er sich auf Art. 2112 des Codice civile bezieht, keine Frage der Zulässigkeit der ersten Frage aufwirft, sondern der Zuständigkeit des Gerichtshofs. |
25 | Nach Art. 267 Abs. 1 AEUV entscheidet der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung zwar über die Auslegung der Verträge und über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, die Auslegung des nationalen Rechts gehört jedoch nicht zu seinem Aufgabenbereich. |
26 | Entgegen dem Vorbringen von Telecom Italia und TIIT bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof allerdings nicht um die Auslegung seines nationalen Rechts, die es selbst vorgenommen hat. |
27 | Zudem überschreitet die Frage, ob der Begriff „vorheriges Bestehen“ der Richtlinie 2001/23 fremd ist, nicht die Zuständigkeit des Gerichtshofs, da sie nicht die Zulässigkeit der ersten Frage, sondern die Beantwortung dieser Frage betrifft (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Juni 2013, VG Wort u. a., C-457/11 bis C-460/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 46). |
28 | Demnach ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass die erste vom Tribunale di Trento gestellte Frage zulässig ist.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage |
29 | Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2001/23 in allen Fällen anwendbar ist, in denen die für den Betrieb des Unternehmens verantwortliche natürliche oder juristische Person, die die Arbeitgeberverpflichtungen gegenüber den Beschäftigten des Unternehmens eingeht, im Rahmen vertraglicher Beziehungen wechselt (vgl. Urteil vom 20. Januar 2011, CLECE, C-463/09, Slg. 2011, I-95, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
30 | Nach ständiger Rechtsprechung richtet sich die Entscheidung, ob ein „Übergang“ des Unternehmens im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23 vorliegt, maßgeblich danach, ob die in Rede stehende Einheit nach der Übernahme durch den neuen Arbeitgeber ihre Identität bewahrt (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 6. September 2011, Scattolon, C-108/10, Slg. 2011, I-7491, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
31 | Bei diesem Übergang muss es um eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit gehen, deren Tätigkeit nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt ist. Um eine solche Einheit handelt es sich bei jeder hinreichend strukturierten und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck (vgl. Urteile vom 10. Dezember 1998, Hernández Vidal u. a., C-127/96, C-229/96 und C-74/97, Slg. 1998, I-8179, Rn. 26 und 27, vom 13. September 2007, Jouini u. a., C-458/05, Slg. 2007, I-7301, Rn. 31, sowie Scattolon, Rn. 42). |
32 | Daraus folgt, dass für die Anwendung der genannten Richtlinie die wirtschaftliche Einheit vor dem Übergang insbesondere über eine ausreichende funktionelle Autonomie verfügen muss, wobei sich der Begriff Autonomie auf die Befugnisse bezieht, die der Leitung der betreffenden Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sind, um die Arbeit dieser Gruppe relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Organisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet sind (Urteil Scattolon, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
33 | Diese Schlussfolgerung wird durch Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und 4 der Richtlinie 2001/23, der sich auf die Vertretung der Arbeitnehmer bezieht, bestätigt, wonach diese Richtlinie auf jeden Übergang anwendbar sein soll, der den Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie entspricht, unabhängig davon, ob die übergegangene wirtschaftliche Einheit ihre Selbständigkeit innerhalb der Struktur des Erwerbers bewahrt oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Klarenberg, C-466/07, Slg. 2009, I-803, Rn. 50). |
34 | Die Verwendung des Wortes „behält“ in diesem Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und 4 impliziert nämlich, dass die Autonomie der übertragenen Einheit in jedem Fall vor dem Übergang bestanden haben muss. |
35 | Wenn sich also im Ausgangsverfahren herausstellen sollte, dass die in Rede stehende übertragene Einheit vor dem Übergang über keine ausreichende funktionelle Autonomie verfügte, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, fiele dieser Übergang nicht unter die Richtlinie 2001/23. Unter solchen Umständen bestünde keine Verpflichtung aus dieser Richtlinie, die Rechte der übertragenen Arbeitnehmer zu wahren. |
36 | Gleichwohl darf diese Richtlinie nicht so verstanden werden, dass sie einem Mitgliedstaat verböte, eine solche Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer in einer in der vorherigen Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Situation vorzusehen. |
37 | Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/23 bringt nämlich zum Ausdruck, dass Bestimmungen notwendig sind, die die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten. |
38 | Dieser Erwägungsgrund betont so besonders das Risiko, das die Situation eines Inhaberwechsels für die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer darstellt und die Notwendigkeit, die Arbeitnehmer vor diesem Risiko durch den Erlass von angemessenen Bestimmungen zu schützen. |
39 | Daher kann das bloße Fehlen funktioneller Autonomie der übertragenen Einheit nicht per se einen Mitgliedstaat daran hindern, in seinem innerstaatlichen Recht die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer nach einem Inhaberwechsel zu garantieren. |
40 | Diese Schlussfolgerung wird durch Art. 8 der Richtlinie 2001/23 bestätigt, der bestimmt, dass diese nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten einschränkt, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen. |
41 | Die genannte Richtlinie nimmt nämlich nur eine teilweise Harmonisierung auf dem betreffenden Gebiet vor und will kein für die gesamte Union aufgrund gemeinsamer Kriterien einheitliches Schutzniveau schaffen, sondern sicherstellen, dass der betroffene Arbeitnehmer in seinen Rechtsbeziehungen zum Erwerber in gleicher Weise geschützt ist, wie er es nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats in seinen Beziehungen zum Veräußerer war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. November 1992, Watson Rask und Christensen, C-209/91, Slg. 1992, I-5755, Rn. 27, und vom 6. November 2003, Martin u. a., C-4/01, Slg. 2003, I-12859, Rn. 41). |
42 | Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die bei einem Übergang eines Unternehmensteils den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem dieser Unternehmensteil keine funktionell selbständige wirtschaftliche Einheit darstellt, die vor seinem Übergang bestand.
Zur zweiten Frage |
43 | Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem nach dem Übergang des betreffenden Unternehmensteils der Veräußerer eine starke beherrschende Stellung gegenüber dem Erwerber einnimmt.
Zur Zulässigkeit |
44 | Telecom Italia und TIIT sind der Auffassung, die zweite Frage sei unzulässig, da sie eine Würdigung der Tatsachen mit einschließe. |
45 | Hierzu ist festzustellen, dass die Frage, mit der das vorlegende Gericht wissen will, ob die Richtlinie 2001/23 auch dann anwendbar ist, wenn nach dem Übergang eines Unternehmensteils der Veräußerer über den Erwerber eine starke beherrschende Stellung ausübt, die Auslegung dieser Richtlinie und damit des Unionsrechts betrifft. |
46 | Da der Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts entscheidet, ist die zweite vom Tribunale di Trento gestellte Frage zulässig.
Zur Beantwortung der Frage |
47 | Zunächst geht aus keiner Bestimmung der Richtlinie 2001/23 hervor, dass der Unionsgesetzgeber beabsichtigt hätte, dass die Unabhängigkeit des Erwerbers gegenüber dem Veräußerer Bedingung für die Anwendung dieser Richtlinie ist. |
48 | Sodann ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Richtlinie 77/187 in der Fassung der Richtlinie 98/50 und aufgehoben und im Wesentlichen ersetzt durch die Richtlinie 2001/23 eine rechtliche Änderung der Person des Arbeitgebers regeln soll, wenn die sonstigen in ihr aufgestellten Voraussetzungen im Übrigen erfüllt sind, und dass sie daher auf einen Übergang zwischen zwei Tochtergesellschaften desselben Konzerns, die gesonderte juristische Personen darstellen und jeweils spezifische Arbeitsverhältnisse mit ihren Arbeitnehmern eingegangen sind, anwendbar sein kann. Der Umstand, dass die betreffenden Gesellschaften nicht nur denselben Eigentümer, sondern auch dasselbe Management und dieselben Räumlichkeiten besitzen und dass sie an demselben Vorhaben arbeiten, ist in diesem Zusammenhang unerheblich (Urteil vom 2. Dezember 1999, Allen u. a., C-234/98, Slg. 1999, I-8643, Rn. 17). |
49 | Nichts rechtfertigt es, dass für die Anwendung dieser Richtlinie das einheitliche Verhalten der Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaften auf dem Markt Vorrang erhält vor der förmlichen Trennung dieser Gesellschaften, die voneinander getrennte Rechtspersönlichkeiten darstellen. Eine solche Lösung, die dazu führen würde, Übergänge zwischen Gesellschaften desselben Konzerns vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszuschließen, würde deren Ziel nämlich gerade entgegenlaufen; diese soll die Aufrechterhaltung der Rechte der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Unternehmensinhabers soweit wie möglich gewährleisten, indem sie den Arbeitnehmern die Möglichkeit einräumt, ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Inhaber zu denselben Bedingungen fortzusetzen, wie sie mit dem Veräußerer vereinbart waren (vgl. Urteil Allen u. a., Rn. 20). |
50 | Folglich kann ein Fall wie der des vorliegenden Ausgangsverfahrens, in dem das veräußernde Unternehmen gegenüber dem Erwerber eine starke beherrschende Stellung einnimmt, die sich durch ein enge Verbindung in Form eines Über-/Unterordnungsverhältnisses und eine Vermengung des Unternehmensrisikos äußert, nicht per se der Anwendung der Richtlinie 2001/23 im Wege stehen. |
51 | Schließlich könnte durch eine andere Auslegung leicht das von dieser Richtlinie verfolgte Ziel umgangen werden, das nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf abzielt, die Kontinuität der im Rahmen einer wirtschaftlichen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig von einem Inhaberwechsel zu gewährleisten (vgl. Urteil Klarenberg, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
52 | Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem nach dem Übergang des betreffenden Unternehmensteils der Veräußerer eine starke beherrschende Stellung gegenüber dem Erwerber einnimmt.
Kosten |
53 | Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die bei einem Übergang eines Unternehmensteils den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem dieser Unternehmensteil keine funktionell selbständige wirtschaftliche Einheit darstellt, die vor seinem Übergang bestand. 2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2001/23 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, die den Eintritt des Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse des Veräußerers in einem Fall gestattet, in dem nach dem Übergang des betreffenden Unternehmensteils der Veräußerer eine starke beherrschende Stellung gegenüber dem Erwerber einnimmt. Unterschriften |
* Verfahrenssprache: Italienisch.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), http://curia.europa.eu
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