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BAG, Ur­teil vom 18.10.2000, 2 AZR 380/99

   
Schlagworte: Schwerbehinderung, Fragerecht des Arbeitgebers
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 2 AZR 380/99
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 18.10.2000
   
Leitsätze: Die Falschbeantwortung der Frage nach einer Schwerbehinderung des Arbeitnehmers berechtigt nicht zur Anfechtung des Arbeitsvertrages, wenn die Schwerbehinderung für den Arbeitgeber offensichtlich war und deshalb bei ihm ein Irrtum nicht entstanden ist.
Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 10.06.1999, 5 Sa 12/99
Arbeitsgericht Nürnberg, Urteil vom 26.11.1998, 11 Ca 6221/98
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

2 AZR 380/99
5 Sa 12/99
Lan­des­ar­beits­ge­richt
Nürn­berg

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am
18. Ok­to­ber 2000

UR­TEIL

Frei­tag,

Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­te, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­onskläge­rin,

pp.

Kläger, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­ons­be­klag­ter,

hat der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf Grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 18. Ok­to­ber 2000 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Rost, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Bröhl und Dr. Fi­scher­mei­er, die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Ba­er­baum und Mau­er für Recht er­kannt:
 


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Die Re­vi­si­on der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Nürn­berg vom 10. Ju­ni 1999 - 5 Sa 12/99 - wird auf Kos­ten der Be­klag­ten zurück­ge­wie­sen.


Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die Wirk­sam­keit ei­ner An­fech­tung des Ar­beits­ver­tra­ges we­gen Falsch­be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ei­ner Schwer­be­hin­de­rung.


Der am 22. Ok­to­ber 1974 ge­bo­re­ne, ca. 1,52 bis 1,55 m große Kläger ist schwer­be­hin­dert; mit Be­scheid vom 17. Fe­bru­ar 1989 stell­te das Ver­sor­gungs­amt Lübeck als Be­hin­de­rung des Klägers ei­ne „Funk­ti­ons­ein­schränkung der Glied­maßen und des Rump­fes bei an­ge­bo­re­nem Min­der­wuchs" und ei­nen Grad der Be­hin­de­rung von 100 fest. Er war bei der Be­klag­ten seit dem 3. No­vem­ber 1997 auf der Grund­la­ge des schrift­li­chen Ar­beits­ver­tra­ges vom glei­chen Tag als Aus­hilfs­kraft für den tech­ni­schen Sup­port (te­le­fo­ni­sche Be­ra­tung für Soft- und Hard­ware) ge­gen ein mo­nat­li­ches Brut­to­ent­gelt von ca. 2.000,00 DM bei ei­ner wöchent­li­chen Ar­beits­zeit von zu­letzt ca. 20 St­un­den beschäftigt. Vor Ab­schluß des Ar­beits­ver­tra­ges hat­te der Kläger un­ter dem Da­tum des 28. Ok­to­ber 1997 ei­nen ihm von der Be­klag­ten vor­ge­leg­ten Per­so­nal­bo­gen aus­gefüllt; die Fra­ge

Schwer­be­hin­de­rung ? ja nein

be­ant­wor­te­te der Kläger mit „nein".

Am 3. Au­gust 1998 kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis frist­los. Nach­dem der Kläger der Be­klag­ten un­ter dem 7. Au­gust 1998 mit­ge­teilt hat­te, daß er mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 100 schwer­be­hin­dert sei, focht die­se mit Schrei­ben vom 17. Au­gust 1998, dem Kläger zu­ge­gan­gen am 19. Au­gust 1998, den Ar­beits­ver­trag we­gen arg­lis­ti­ger Täuschung an. In der münd­li­chen Ver­hand­lung vor dem Ar­beits­ge­richt am 12. No­vem­ber 1998 hat die Be­klag­te die Erklärung ab­ge­ge­ben, aus der frist­lo­sen Kündi­gung vom 3. Au­gust 1998 kei­ne Rech­te her­zu­lei­ten. Der Kläger hat dar­auf­hin den hier­ge­gen ge­rich­te­ten Kündi­gungs­schutz­an­trag zurück­ge­nom­men.
 


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Der Kläger hält die An­fech­tung für un­wirk­sam. Er hat ua. be­haup­tet, sein we­sent­li­ches Mo­tiv für die un­rich­ti­ge Ausfüllung des Be­wer­bungs­bo­gens sei ge­we­sen, daß er sich auf die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zu kei­nem Zeit­punkt ha­be be­ru­fen wol­len. Sei­ne im Be­scheid des Ver­sor­gungs­am­tes Lübeck fest­ge­stell­te Be­hin­de­rung, die sich auf die ge­schul­de­te Tätig­keit nicht ne­ga­tiv aus­wir­ke, sei of­fen­sicht­lich. Die Be­klag­te bzw. die für sie han­deln­den Per­so­nen hätten er­kannt, daß die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft bei ihm be­ste­he. Er ha­be die Be­klag­te da­her we­der getäuscht noch ei­nen ent­spre­chen­den Irr­tum bei ihr er­regt. Je­den­falls sei die fal­sche Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ei­ner Schwer­be­hin­de­rung nicht kau­sal für den Ab­schluß des Ar­beits­ver­tra­ges ge­we­sen.

Der Kläger hat, so­weit für die Re­vi­si­ons­in­stanz von Be­deu­tung, be­an­tragt

fest­zu­stel­len, daß das Ar­beits­verhält­nis über den 19. Au­gust 1998 hin­aus fort­be­steht.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Sie hat ua. die Auf­fas­sung ver­tre­ten, das Ar­beits­verhält­nis mit dem Kläger sei durch ih­re An­fech­tungs­erklärung vom 17. Au­gust 1998 be­en­det wor­den. Sie be­strei­te, daß der Kläger be­ab­sich­tigt ha­be, sich nicht auf die Ei­gen­schaft als Schwer­be­hin­der­ter zu be­ru­fen. Aus dem Per­so­nal­fra­ge­bo­gen sei ein­deu­tig her­vor­ge­gan­gen, daß die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft für sie von großem In­ter­es­se ge­we­sen sei. Aus sei­ner Körper­größe ha­be sie die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers nicht er­ken­nen können. Ei­nen Schwer­be­hin­der­ten hätte sie nur im Rah­men ei­nes Voll­zeit­ar­beits­verhält­nis­ses ein­ge­stellt.

Das Ar­beits­ge­richt hat die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Auf die Be­ru­fung des Klägers hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt fest­ge­stellt, daß das Ar­beits­verhält­nis zwi­schen den Par­tei­en über den 19. Au­gust 1998 hin­aus fort­be­steht.

Mit ih­rer vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on er­strebt die Be­klag­te die Wie­der­her­stel­lung des erst­in­stanz­li­chen Ur­teils.
 


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Ent­schei­dungs­gründe


Die Re­vi­si­on der Be­klag­ten ist un­be­gründet. Das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en be­steht trotz der von der Be­klag­ten erklärten An­fech­tung fort.

I. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, die An­fech­tung sei trotz der un­rich­ti­gen Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach ei­ner Schwer­be­hin­de­rung un­wirk­sam. Es sei da­von aus­zu­ge­hen, daß die Be­klag­te die körper­li­chen Ei­gen­schaf­ten des Klägers, die ihn als schwer­be­hin­dert im Sin­ne des Schwer­be­hin­der­ten­ge­set­zes gel­ten ließen, bei der Ein­stel­lung ge­kannt ha­be. Die im Be­scheid vom 17. Fe­bru­ar 1989 zu Grun­de ge­leg­te Be­hin­de­rung der Funk­ti­ons­ein­schränkung der Glied­maßen und des Rump­fes bei an­ge­bo­re­nem Min­der­wuchs sei im Hin­blick auf das Er­schei­nungs­bild des Klägers of­fen­kun­dig. Die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers er­ge­be sich nicht al­lein aus des­sen Min­derwüch­sig­keit, son­dern aus der auch der Be­ru­fungs­kam­mer of­fen zu­ta­ge ge­tre­te­nen Ein­schränkung der Be­we­gungsfähig­keit der Glied­maßen und des Rump­fes. Die Er­re­gung ei­nes Irr­tums über die kraft Ge­set­zes be­ste­hen­de Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft sei un­ter die­sen Umständen nicht möglich ge­we­sen.

II. Das an­ge­foch­te­ne Ur­teil hält mit die­ser tra­gen­den Be­gründung den An­grif­fen der Re­vi­si­on stand. Man­gels Irr­tums der Be­klag­ten über die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers stand der Be­klag­ten kein An­fech­tungs­recht gemäß § 123 BGB zu.

1. Nach ständi­ger Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (seit BAG 5. De­zem­ber 1957 - 1 AZR 594/56 - BA­GE 5, 159) kann der Ar­beits­ver­trag grundsätz­lich auch durch An­fech­tung gemäß § 123 BGB be­en­det wer­den. Das An­fech­tungs­recht wird nicht durch das Recht zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung ver­drängt. Der Tat­be­stand der arg­lis­ti­gen Täuschung gemäß § 123 BGB setzt in ob­jek­ti­ver Hin­sicht vor­aus, daß der Täuschen­de durch Vor­spie­ge­lung oder Ent­stel­lung von Tat­sa­chen beim Erklärungs­geg­ner ei­nen Irr­tum er­regt und ihn zur Ab­ga­be ei­ner Wil­lens­erklärung ver­an­laßt. Al­ler­dings stellt nicht je­de fal­sche An­ga­be des Ar­beit­neh­mers bei den Ein­stel­lungs­ver­hand­lun­gen be­reits ei­ne arg­lis­ti­ge Täuschung im Sin­ne des § 123 BGB dar. Wird der Ar­beit­neh­mer nach dem Vor­lie­gen ei­ner be­stimm­ten Tat­sa­che be­fragt, so ist er zu de­ren wahr­heits­gemäßer Be­ant­wor­tung ver­pflich­tet, falls die ge­stell­te Fra­ge zulässig ist. Ein Fra­ge­recht des Ar­beit­ge­bers bei den Ein­stel­lungs­ver­hand­lun­gen wird al­ler­dings nur in­so­weit an­er­kannt, als der Ar­beit­ge­ber ein be­rech­tig­tes, bil­li­gens­wer­tes und

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schutzwürdi­ges In­ter­es­se an der Be­ant­wor­tung sei­ner Fra­ge im Hin­blick auf das Ar­beits­verhält­nis hat (BAG 11. No­vem­ber 1993 - 2 AZR 467/93 - BA­GE 75, 77; 5. Ok­to­ber 1995 - 2 AZR 923/94 - BA­GE 81, 120; je­weils mwN).

Für den Be­reich der Schwer­be­hin­der­ten be­steht so­wohl in der Li­te­ra­tur als auch in der Recht­spre­chung Ei­nig­keit darüber, daß der Schwer­be­hin­der­te von sich aus nicht über die be­ste­hen­de Be­hin­de­rung aufklären muß, so­weit ihm die Tätig­keit da­durch nicht unmöglich ge­macht wird (BAG 25. März 1976 - 2 AZR 136/75 - AP BGB § 123 Nr. 19 = EzA BGB § 123 Nr. 16). Dem Ar­beit­ge­ber wird je­doch das Recht zu­ge­stan­den, nach der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft oder Gleich­stel­lung zu fra­gen; der Ar­beit­neh­mer hat die Pflicht, dar­auf wahr­heits­gemäß zu ant­wor­ten (BAG 1. Au­gust 1985 - 2 AZR 101/83 - BA­GE 49, 214; 5. Ok­to­ber 1995 - 2 AZR 923/94 - BA­GE 81, 120; 3. De­zem­ber 1998 - 2 AZR 754/97 - BA­GE 90, 251; KR-Et­zel 5. Aufl. §§ 15 - 20 SchwbG Rn. 32; teilw. aA ErfK/Die­te­rich Art. 3 GG Rn. 91).

2. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat fest­ge­stellt, der Kläger ha­be die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung un­rich­tig be­ant­wor­tet; es hat da­mit, man­gels Ge­genrüge bin­dend (§ 561 ZPO), ei­ne Täuschungs­hand­lung an­ge­nom­men. Die wei­te­re An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richt, die Er­re­gung ei­nes Irr­tums über die kraft Ge­set­zes be­ste­hen­de Schwer­be­hin­de­rung sei trotz der wahr­heits­wid­ri­gen Ant­wort nicht möglich ge­we­sen, hält der re­vi­si­ons­recht­li­chen Prüfung stand.

a) Der Tat­be­stand der arg­lis­ti­gen Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB setzt vor­aus, daß durch die Täuschungs­hand­lung beim Erklärungs­geg­ner ein Irr­tum über den wah­ren Sach­ver­halt her­vor­ge­ru­fen wird. Zwi­schen Täuschungs­hand­lung und Irr­tum muß ein Kau­sal­zu­sam­men­hang be­ste­hen. Irr­tum ist die Ab­wei­chung der Vor­stel­lung von der Wirk­lich­keit. Auch wenn der An­fech­ten­de die Täuschung nicht er­kannt hat, die­se aber hätte er­ken­nen können, liegt ein zur An­fech­tung be­rech­ti­gen­der Irr­tum vor. An ei­nem Irr­tum fehlt es al­ler­dings, wenn der­je­ni­ge, der getäuscht wer­den soll, die Wahr­heit kennt (Er­man-Palm BGB 10. Aufl. § 123 Rn. 24 mwN).

Das Be­ru­fungs­ge­richt ist da­von aus­ge­gan­gen, daß die Be­klag­te die körper­li­chen Ei­gen­schaf­ten des Klägers, die ihn als schwer­be­hin­dert im Sin­ne des Schwer­be­hin­der­ten­ge­set­zes gel­ten ließen, bei der Ein­stel­lung ge­kannt ha­be. Die vom Ver­sor­gungs­amt Lübeck dem Be­scheid vom 17. Fe­bru­ar 1989 zu Grun­de ge­leg­te Funk­ti­ons­ein­schränkung der Glied­maßen und des Rump­fes bei an­ge­bo­re­nem Min­der­wuchs sei im Hin­blick auf das Er­schei­nungs­bild des Klägers „of­fen­kun­dig", die Er­re­gung ei­nes
 


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Irr­tums über die kraft Ge­set­zes be­ste­hen­de Schwer­be­hin­de­rung des Klägers un­ter die­sen Umständen trotz der wahr­heits­wid­ri­gen Be­ant­wor­tung der Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung nicht möglich ge­we­sen. Da­mit hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt jeg­li­chen, auch ei­nen fahrlässi­gen, Irr­tum der Be­klag­ten aus­ge­schlos­sen.

b) An die­se in den Ent­schei­dungs­gründen des an­ge­grif­fe­nen Ur­teils ent­hal­te­nen Fest­stel­lun­gen ist der Se­nat ge­bun­den (§ 561 Abs. 2 ZPO). Die hier­ge­gen ge­rich­te­ten Rügen der Re­vi­si­on grei­fen nicht durch.

aa) Zu Un­recht meint die Re­vi­si­on, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be den Be­griff der Of­fen­kun­dig­keit gemäß § 291 ZPO ver­kannt.

Zu­zu­ge­ben ist der Re­vi­si­on al­ler­dings, daß die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers nicht of­fen­kun­dig im Sin­ne die­ser Vor­schrift ist. Sie stellt kei­ne all­ge­mein­kun­di­ge Tat­sa­che dar, da sie nicht von so vie­len wahr­ge­nom­men wird bzw. je­der­zeit wahr­ge­nom­men wer­den kann, daß die in­di­vi­du­el­le Wahr­neh­mung des ein­zel­nen und ih­re Un­si­cher­heit außer Be­tracht bleibt, und auch nicht all­ge­mein an­er­kannt und ver­brei­tet ist (vgl. St­ein/Jo­nas/Lei­pold ZPO 21. Aufl. § 291 Rn. 2). Die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers ist fer­ner kei­ne ge­richts­kun­di­ge Tat­sa­che. Ge­richts­kun­dig­keit be­steht nur dann, wenn es sich um amt­li­che Hand­lun­gen oder Wahr­neh­mun­gen der er­ken­nen­den Rich­ter han­delt, de­ren sie sich noch mit ei­ner die vol­le Über­zeu­gung be­gründen­den Si­cher­heit zu er­in­nern vermögen (St­ein/Jo­nas/Lei­pold aaO Rn. 4), nicht aber, wenn sich die Rich­ter erst noch in­for­mie­ren müssen (Zöller/Gre­ger ZPO 21. Aufl. § 291 Rn. 1) oder ei­ne Über­zeu­gungs­bil­dung nach § 286 ZPO er­for­der­lich ist.

Ent­ge­gen der Auf­fas­sung der Re­vi­si­on hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers aber nicht im Sin­ne der - im Ur­teil auch nicht erwähn­ten - Vor­schrift des § 291 ZPO als of­fen­kun­dig an­ge­se­hen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat den in der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 10. Mai 1999 von der Per­son des Klägers ge­won­ne­nen Ein­druck (vgl. hier­zu Tho­mas/Putzo ZPO 22. Aufl. § 286 Rn. 6) viel­mehr nach § 286 ZPO gewürdigt. Das wird aus dem Um­stand deut­lich, daß das Lan­des­ar­beits­ge­richt den Be­griff „of­fen­kun­dig" im Hin­blick auf das „Er­schei­nungs­bild" des Klägers ver­wandt und aus­geführt hat, die Ein­schränkung der Be­we­gungsfähig­keit der Glied­maßen und des Rump­fes sei „auch der Be­ru­fungs­kam­mer of­fen zu Ta­ge ge­tre­ten". Der Be­griff „of­fen­kun­dig" ist da­her im Sin­ne von „of­fen­sicht­lich" zu ver­ste­hen. Die vom Lan­des­ar­beits­ge­richt vor­ge­nom­me­ne Be­weiswürdi­gung ist recht­lich möglich,

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frei von Wi­dersprüchen und läßt auch sonst kei­ne re­vi­si­ons­recht­lich be­acht­li­chen Rechts­feh­ler er­ken­nen.

bb) Die Rüge der Re­vi­si­on, es ge­be kei­nen all­ge­mei­nen Er­fah­rungs­satz mit dem In­halt, daß Kleinwüch­sig­keit bzw. die Ein­schränkung der Be­we­gungs­frei­heit mit der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft gleich­zu­set­zen sei, ist nicht be­gründet. Ei­nen sol­chen Er­fah­rungs­satz hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt ge­ra­de nicht auf­ge­stellt, son­dern maßgeb­lich auf die of­fen zu Ta­ge tre­ten­de Funk­ti­ons­ein­schränkung der Glied­maßen und des Rump­fes ab­ge­ho­ben. Es hat den in der münd­li­chen Ver­hand­lung von der Per­son des Klägers ge­won­ne­nen Ein­druck ein­zel­fall­be­zo­gen gewürdigt und da­bei auch dar­auf ab­ge­stellt, der Grad der Be­hin­de­rung des Klägers be­we­ge sich mit 100 nicht et­wa an der Gren­ze von 50, was even­tu­ell die Möglich­keit ei­nes Irr­tums eher na­he­le­gen würde. In­so­weit gehört die Be­weiswürdi­gung zur grundsätz­lich bin­den­den Tat­sa­chen­fest­stel­lung (vgl. Tho­mas/Putzo aaO § 550 Rn. 10, § 561 Rn. 15).

cc) Auch die von der Re­vi­si­on er­ho­be­nen Ver­fah­rensrügen blei­ben oh­ne Er­folg.

(1) Die Rüge der Ver­let­zung von § 139, § 278 Abs. 3 ZPO so­wie des Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Lan­des­ar­beits­ge­richt den Hin­weis un­ter­las­sen ha­be, von der Vor­schrift des § 291 ZPO Ge­brauch ma­chen zu wol­len, be­darf der Aus­le­gung. Mit ih­rem An­griff be­an­stan­det die Re­vi­si­on den un­ter­blie­be­nen Hin­weis, daß die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers nach Auf­fas­sung des Be­ru­fungs­ge­richts of­fen­sicht­lich und des­halb ein Irr­tum über die Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft nicht möglich ge­we­sen sei.

Die Ver­fah­rensrüge ist be­reits un­zulässig, da sie nicht der nach § 554 Abs. 3 Nr. 3 b) ZPO ge­bo­te­nen Form ent­spricht. Er­for­der­lich ist nicht nur die An­ga­be, wel­che Fra­gen bzw. wel­che recht­li­chen Hin­wei­se hätten an­ge­bracht wer­den müssen, son­dern auch, was die Par­tei dar­auf­hin vor­ge­tra­gen hätte. Der Vor­trag muß vollständig nach­ge­holt und über die Ver­fah­rensrüge schlüssig ge­macht wer­den (BAG 5. Ju­li 1979 - 3 AZR 197/78 - BA­GE 32, 56, 66; 30. No­vem­ber 1962 - 3 AZR 86/59 - BA­GE 13, 340, 344; Ger­mel­mann/Mat­thes/Prütting ArbGG 3. Aufl. § 74 Rn. 39). Dem genügt es nicht, wenn die Re­vi­si­on in die­sem Zu­sam­men­hang all­ge­mein auf die ent­gan­ge­ne Ge­le­gen­heit zur ergänzen­den Äußerung ver­weist.

(2) Die wei­te­re Pro­zeßrüge der Ver­let­zung von Art. 103 Abs. 1 GG erfüllt eben-falls nicht die nach § 554 Abs. 3 Nr. 3 b) ZPO zu be­ach­ten­den Vor­aus­set­zun­gen. So­weit die Be­klag­te be­an­stan­det, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be der an­ge­grif­fe­nen Ent-
 


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schei­dung ei­nen von ihr sub­stan­ti­iert be­strit­te­nen Sach­ver­halt zu­grun­de ge­legt, macht sie der Sa­che nach zwar gel­tend, daß ent­schei­dungs­er­heb­li­cher Vor­trag über­g­an­gen wor­den sei, oh­ne aber im ein­zel­nen zu be­zeich­nen, wel­cher kon­kre­te Vor­trag aus wel­chen Schriftsätzen un­berück­sich­tigt ge­blie­ben sein soll.

Je­den­falls ist die Ver­fah­rensrüge nicht be­gründet. Der An­spruch auf recht­li­ches Gehör be­inhal­tet die Ver­pflich­tung des Ge­richts, durch die mit dem Ver­fah­ren be­faßten Rich­ter die Ausführun­gen der Pro­zeßbe­tei­lig­ten zur Kennt­nis zu neh­men und in Erwägung zu zie­hen (zB BVerfG 2. Ju­li 1979 - 1 BvR 1292/78 - AP GG Art. 103 Nr. 31; 3. Au­gust 1989 - 1 BvR 1178/88 - AP GG Art. 103 Nr. 40 mwN). Es ist da­von aus­zu­ge­hen, daß ein Ge­richt das von ihm ent­ge­gen­ge­nom­me­ne Vor­brin­gen der Be­tei­lig­ten auch zur Kennt­nis ge­nom­men und in Erwägung ge­zo­gen hat. Die Ge­rich­te sind nicht ver­pflich­tet, je­des Vor­brin­gen der Be­tei­lig­ten in den Gründen aus­drück­lich zu be­schei­den (BVerfG 3. Au­gust 1989 - 1 BvR 1178/88 - aaO). Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat ua. die Be­haup­tung der Be­klag­ten, sie ha­be aus der Kleinwüch­sig­keit des Klägers nicht er­ken­nen können, daß es sich um ei­nen Schwer­be­hin­der­ten ge­han­delt ha­be, in den strei­ti­gen Tat­be­stand auf­ge­nom­men, fer­ner den In­halt der im Be­ru­fungs­ver­fah­ren ge­wech­sel­ten Schriftsätze und das erst­in­stanz­li­che Par­tei­vor­brin­gen all­ge­mein in Be­zug ge­nom­men. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat den Sach­vor­trag dem­nach vollständig er­faßt, der An­spruch auf recht­li­ches Gehör ist nicht ver­letzt. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt kei­nen Schutz ge­gen Ent­schei­dun­gen, die den Sach­vor­trag ei­nes Be­tei­lig­ten aus Gründen des for­mel­len oder ma­te­ri­el­len Rechts un­berück­sich­tigt las­sen. Selbst wenn das ein­fa­che Recht nicht in je­der Hin­sicht rich­tig an­ge­wandt wor­den war, führ­te dies nicht zu ei­ner Ver­let­zung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die­se Vor­schrift ver­pflich­tet die Ge­rich­te nicht, der Rechts­an­sicht ei­ner Par­tei zu fol­gen (vgl. BVerfG 3. Au­gust 1989 - 1 BvR 1178/88 - aa0).

(3) Schon aus for­mel­len Gründen un­be­acht­lich ist schließlich auch die Rüge der Re­vi­si­on, das Lan­des­ar­beits­ge­richt ha­be die an­ge­bo­te­nen Be­wei­se, daß sie aus dem äußeren Er­schei­nungs­bild des Klägers des­sen Schwer­be­hin­de­rung nicht ha­be ab­lei­ten können, nicht er­ho­ben. Unschädlich ist al­ler­dings, daß die Re­vi­si­on ent­ge­gen dem Wort­laut des § 554 Abs. 3 Nr. 3 a) ZPO die aus ih­rer Sicht ver­letz­ten Rechts­nor­men nicht be­zeich­net, da die Rich­tung des Pro­zeßan­griffs ein­deu­tig ist (vgl. BAG 19. Ju­ni 1957 - 4 AZR 499/55 - BA­GE 4, 291, 294 f.). Die Re­vi­si­on rügt die Ver­let­zung des § 286 ZPO. Die Ver­fah­rensrüge ist gleich­wohl un­zulässig, da sie nicht den Er­for­der­nis­sen des § 554 Abs. 3 Nr. 3 b) ZPO genügt. Zur Zulässig­keit der Pro­zeßrüge gehört,
 


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daß Be­weis­mit­tel, Be­weis­an­trag und Be­weisthe­ma so­wie die vor­in­stanz­li­che Fund­stel­le des Be­weis­an­tritts, in der Re­gel nach Schrift­satz und - je­den­falls bei um­fang­rei­chen Schriftsätzen - Sei­ten­zahl ge­nau an­ge­ge­ben wer­den, fer­ner die Dar­le­gung, daß die Un­ter­las­sung der Be­weis­er­he­bung kau­sal für die Ent­schei­dung ge­we­sen ist (BAG 11. April 1985 - 2 AZR 239/84 - BA­GE 49, 39, 52; 29. Ju­li 1992 - 4 AZR 502/91 - BA-GE 71, 56, 67). Das Be­weisthe­ma ist zwar ge­nannt, nicht aber das kon­kre­te Be­weis­mit­tel bzw. der kon­kre­te Be­weis­an­trag; die pau­scha­le Be­zug­nah­me auf den Schrift­satz vom 6. April 1999 und auf den erst­in­stanz­li­chen Schrift­satz vom 10. No­vem­ber 1998 kann die­se An­ga­ben nicht er­set­zen. Un­er­heb­lich ist in die­sem Zu­sam­men­hang al­ler­dings, daß die Re­vi­si­on die Fund­stel­len nicht nach Sei­ten­zah­len be­zeich­net hat, da bei­de Schriftsätze ei­nen re­la­tiv ge­rin­gen Um­fang auf­wei­sen. Auch der Um­stand, daß die Be­klag­te nicht aus­drück­lich dar­legt, die aus ih­rer Sicht über­g­an­ge­nen Be­weis­an­ge­bo­te aus dem erst­in­stanz­li­chen Schrift­satz vom 10. No­vem­ber 1998 in der Be­ru­fungs­in­stanz auf­recht­er­hal­ten zu ha­ben (da­zu BAG 11. April 1985 - 2 AZR 239/84 - BA­GE 49, 53), ist unschädlich; in­dem die Re­vi­si­on gel­tend macht, das Lan­des­ar­beits­ge­richt sei ver­pflich­tet ge­we­sen, die in­so­weit an­ge­bo­te­nen Be­wei­se aus­zuschöpfen, bringt sie die Auf­recht­er­hal­tung des Be­weis­an­tritts in zwei­ter In­stanz schlüssig zum Aus­druck. Ent­schei­dend ist viel­mehr, daß we­der der Schrift­satz vom 6. April 1999 noch der­je­ni­ge vom 10. No­vem­ber 1998 das von der Re­vi­si­on an­geführ­te kon­kre­te Be­weisthe­ma, sie ha­be aus dem äußeren Er­schei­nungs­bild des Klägers des­sen Schwer­be­hin­de­rung nicht ab­lei­ten können, be­inhal­ten; dem­zu­fol­ge fehlt es an der An­ga­be ent­spre­chen­der Be­weis­mit­tel bzw. Be­weis­anträge. Außer­dem hat die Be­klag­te nicht dar­ge­legt, daß der Ver­fah­rens­man­gel der un­ter­las­se­nen Be­weis­er­he­bung für die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richt kau­sal ge­we­sen sei (BAG 29. Ju­li 1992 - 4 AZR 502/91 - aaO; Ger­mel­mann/Mat­thes/Prütting aaO Rn. 38).

III . Dem Er­geb­nis, daß der feh­len­de Irr­tum der Be­klag­ten über die Schwer­be­hin­de­rung des Klägers ei­ne An­fech­tung des Ar­beits­ver­tra­ges gemäß § 123 BGB aus­sch­ließt, läßt sich schließlich auch nicht ent­ge­gen hal­ten, die Fra­ge nach der Schwer­be­hin­de­rung im Per­so­nal­fra­ge­bo­gen ha­be sich in Wahr­heit auf die amt­lich fest­ge­stell­te Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft be­zo­gen. Die im Se­nats­ur­teil vom 5. Ok­to­ber 1995 (- 2 AZR 923/94 - BA­GE 81, 120) an­ge­spro­che­nen Pflich­ten des Ar­beit­ge­bers hängen im Prin­zip nicht von der amt­li­chen Fest­stel­lung der Schwer­be­hin­de­rung ab (vgl. Neu­mann/Pah­len SchwbG 9. Aufl. § 1 Rn. 11, § 4 Rn. 37; GK-SchwbG/Schi­mans­ky 2. Aufl. § 1 Rn. 1, 28, 31; GK-SchwbG/Großmann § 5 Rn. 29, § 14 Rn. 17, § 47 Rn. 15; GK-SchwbG/St­ein­brück § 15 Rn. 54 ff). Auch die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­wal­tungs-
 


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ge­richts vom 21. Ok­to­ber 1987 (- 5 C 42/84 - NZA 1988, 431), wo­nach die Berück­sich­ti­gung ei­nes Ar­beit­neh­mers bei der Be­rech­nung der Zahl der be­setz­ten Pflicht­plätze die förm­li­che Fest­stel­lung sei­ner Schwer­be­hin­de­rung vor­aus­setzt, be­traf kei­nen Fall of­fen­sicht­li­cher Schwer­be­hin­de­rung. Selbst wenn die­ses Ur­teil aber da­hin zu ver­ste­hen wäre, auch bei of­fen­sicht­li­cher Schwer­be­hin­de­rung sei die förm­li­che Fest­stel­lung zwin­gen­de Vor­aus­set­zung der Berück­sich­ti­gung, könn­te dar­aus nicht ge­schlos­sen wer­den, die Fra­ge im Per­so­nal­fra­ge­bo­gen zie­le ent­ge­gen ih­rem Wort­laut nicht auf die Schwer­be­hin­de­rung im Sin­ne von § 1 SchwbG, son­dern auf de­ren amt­li­che Fest­stel­lung, denn un­ter die­sem Blick­win­kel könn­te ei­ne Täuschung durch den Ar­beit­neh­mer schon nicht kau­sal für den Ein­stel­lungs­ent­schluß des Ar­beit­ge­bers sein. Der Ar­beit­ge­ber würde, wenn es ihm we­gen sei­ner Beschäfti­gungs­pflicht gemäß § 5 SchwbG um die Ein­stel­lung ei­nes amt­lich an­er­kann­ten Schwer­be­hin­der­ten gin­ge, ei­nen Ar­beit­neh­mer ge­ra­de dann nicht ein­stel­len, wenn die­ser die Fra­ge nach sei­ner Schwer­be­hin­de­rung wahr­heits­wid­rig ver­neint.


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