HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EuGH, Ur­teil vom 15.01.2014, C-176/12 - As­so­cia­ti­on de média­ti­on so­cia­le

   
Schlagworte: Europarecht, Betriebliche Mitbestimmung, Betriebsverfassung, Gewerkschaft
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof
Aktenzeichen: C-176/12
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 15.01.2014
   
Leitsätze: Art.27 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft dahin auszulegen, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser Richtlinie, wie Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.
Vorinstanzen: Cour de cassation (Frankreich)
   

UR­TEIL DES GERICH­TSHOFS (Große Kam­mer)

15. Ja­nu­ar 2014(*)

„So­zi­al­po­li­tik – Richt­li­nie 2002/14/EG – Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on – Art. 27 – An­knüpfung an be­stimm­te Schwel­len­wer­te für die Beschäftig­ten­zahl bei der Ein­set­zung von Per­so­nal­ver­tre­tungs­or­ga­nen – Be­rech­nung der Schwel­len­wer­te – Dem Uni­ons­recht ent­ge­gen­ste­hen­de na­tio­na­le Re­ge­lung – Rol­le des na­tio­na­len Ge­richts“

In der Rechts­sa­che C‑176/12

be­tref­fend ein Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV, ein­ge­reicht von der Cour de cas­sa­ti­on (Frank­reich) mit Ent­schei­dung vom 11. April 2012, beim Ge­richts­hof ein­ge­gan­gen am 16. April 2012, in dem Ver­fah­ren

As­so­cia­ti­on de média­ti­on so­cia­le

ge­gen

Uni­on lo­ca­le des syn­di­cats CGT,

Hi­chem La­bou­bi,

Uni­on dépar­te­men­ta­le CGT des Bou­ches-du-Rhône,

Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail (CGT)

erlässt

DER GERICH­TSHOF (Große Kam­mer)

un­ter Mit­wir­kung des Präsi­den­ten V. Skou­ris, des Vi­ze­präsi­den­ten K. Lena­erts, der Kam­mer­präsi­den­tin R. Sil­va de La­pu­er­ta, der Kam­mer­präsi­den­ten M. Ilešič und M. Saf­jan so­wie der Rich­ter J. Ma­le­n­ovský, E. Le­vits (Be­richt­er­stat­ter), J.‑C. Bo­ni­chot, A. Ara­b­ad­jiev, der Rich­te­rin C. Toa­der, des Rich­ters D. Šváby und der Rich­te­rin­nen M. Ber­ger und A. Prechal,

Ge­ne­ral­an­walt: P. Cruz Vil­lalón,

Kanz­ler: V. Tourrès, Ver­wal­tungs­rat,

auf­grund des schrift­li­chen Ver­fah­rens und auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 23. April 2013,

un­ter Berück­sich­ti­gung der Erklärun­gen

– der Uni­on lo­ca­le des syn­di­cats CGT, von Herrn La­bou­bi, der Uni­on dépar­te­men­ta­le CGT des Bou­ches-du-Rhône und der Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail (CGT), ver­tre­ten durch H. Di­dier und F. Pi­net, avo­cats,

– der französi­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch N. Rouam, G. de Ber­gues und J. Ros­si als Be­vollmäch­tig­te,

– der deut­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch K. Pe­ter­sen als Be­vollmäch­tig­te,

– der nie­derländi­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch M. No­ort und C. Wis­sels als Be­vollmäch­tig­te,

– der pol­ni­schen Re­gie­rung, ver­tre­ten durch J. Fal­dy­ga, A. Si­wek, B. Ma­jc­zy­na und M. Sz­pu­nar als Be­vollmäch­tig­te,

– der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on, ver­tre­ten durch J. En­e­gren, D. Mar­tin und G. Ro­zet als Be­vollmäch­tig­te,

nach Anhörung der Schluss­anträge des Ge­ne­ral­an­walts in der Sit­zung vom 18. Ju­li 2013

fol­gen­des

Ur­teil

1 Das Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen be­trifft die Aus­le­gung von Art. 27 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on (im Fol­gen­den: Char­ta) so­wie der Richt­li­nie 2002/14/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 11. März 2002 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Un­ter­rich­tung und Anhörung der Ar­beit­neh­mer in der Eu­ropäischen Ge­mein­schaft (ABl. L 80, S. 29).
2 Die­ses Er­su­chen er­geht im Rah­men ei­nes Rechts­streits zwi­schen der As­so­cia­ti­on de média­ti­on so­cia­le (im Fol­gen­den: AMS) ei­ner­seits und der Uni­on lo­ca­le des syn­di­cats CGT, Herrn La­bou­bi, der Uni­on dépar­te­men­ta­le CGT des Bou­ches-du-Rhône und der Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail (CGT) an­de­rer­seits über die Ein­set­zung von Per­so­nal­ver­tre­tungs­or­ga­nen bei der AMS durch den zuständi­gen Ge­werk­schafts­orts­ver­band.

Recht­li­cher Rah­men

Uni­ons­recht

3 Art. 27 der Char­ta lau­tet:

„Für die Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer oder ih­re Ver­tre­ter muss auf den ge­eig­ne­ten Ebe­nen ei­ne recht­zei­ti­ge Un­ter­rich­tung und Anhörung in den Fällen und un­ter den Vor­aus­set­zun­gen gewähr­leis­tet sein, die nach dem Uni­ons­recht und den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und Ge­pflo­gen­hei­ten vor­ge­se­hen sind.“

4 Art. 1 („Ge­gen­stand und Grundsätze“) der Richt­li­nie 2002/14 be­stimmt:

„(1) Ziel die­ser Richt­li­nie ist die Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens mit Min­dest­vor­schrif­ten für das Recht auf Un­ter­rich­tung und Anhörung der Ar­beit­neh­mer von in der Ge­mein­schaft ansässi­gen Un­ter­neh­men oder Be­trie­ben.

(2) Die Mo­da­litäten der Un­ter­rich­tung und Anhörung wer­den gemäß den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und den in den ein­zel­nen Mit­glied­staa­ten gel­ten­den Prak­ti­ken im Be­reich der Ar­beits­be­zie­hun­gen so ge­stal­tet und an­ge­wandt, dass ih­re Wirk­sam­keit gewähr­leis­tet ist.

…“

5 Art. 2 („Be­griffs­be­stim­mun­gen“) der Richt­li­nie lau­tet:

„Im Sin­ne die­ser Richt­li­nie be­zeich­net der Aus­druck

d) ‚Ar­beit­neh­mer‘ ei­ne Per­son, die in dem be­tref­fen­den Mit­glied­staat als Ar­beit­neh­mer auf­grund des ein­zel­staat­li­chen Ar­beits­rechts und ent­spre­chend den ein­zel­staat­li­chen Ge­pflo­gen­hei­ten geschützt ist.

…“

6 Art. 3 („An­wen­dungs­be­reich“) der Richt­li­nie sieht in Abs. 1 vor:

„Die­se Richt­li­nie gilt je nach Ent­schei­dung der Mit­glied­staa­ten:

a) für Un­ter­neh­men mit min­des­tens 50 Ar­beit­neh­mern in ei­nem Mit­glied­staat oder

b) für Be­trie­be mit min­des­tens 20 Ar­beit­neh­mern in ei­nem Mit­glied­staat.

Die Mit­glied­staa­ten be­stim­men, nach wel­cher Me­tho­de die Schwel­len­wer­te für die Beschäftig­ten­zahl er­rech­net wer­den.“

7 Art. 4 („Mo­da­litäten der Un­ter­rich­tung und Anhörung“) der Richt­li­nie 2002/14 sieht in Abs. 1 vor:

„Im Ein­klang mit den in Ar­ti­kel 1 dar­ge­leg­ten Grundsätzen und un­be­scha­det et­wai­ger gel­ten­der ein­zel­staat­li­cher Be­stim­mun­gen und/oder Ge­pflo­gen­hei­ten, die für die Ar­beit­neh­mer güns­ti­ger sind, be­stim­men die Mit­glied­staa­ten ent­spre­chend die­sem Ar­ti­kel im Ein­zel­nen, wie das Recht auf Un­ter­rich­tung und Anhörung auf der ge­eig­ne­ten Ebe­ne wahr­ge­nom­men wird.“

8 Art. 11 der Richt­li­nie 2002/14 be­stimmt, dass die Mit­glied­staa­ten die er­for­der­li­chen Rechts- und Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten er­las­sen müssen, um den Ver­pflich­tun­gen aus die­ser Richt­li­nie spätes­tens zum 23. März 2005 nach­zu­kom­men, oder si­cher­stel­len, dass die So­zi­al­part­ner bis zu die­sem Zeit­punkt die­se Be­stim­mun­gen einführen; da­bei ha­ben die Mit­glied­staa­ten al­le not­wen­di­gen Maßnah­men zu tref­fen, um je­der­zeit gewähr­leis­ten zu können, dass die in der Richt­li­nie vor­ge­schrie­be­nen Er­geb­nis­se er­reicht wer­den.

Französi­sches Recht

9 Nach Art. L. 2312‑1 des französi­schen Ar­beits­ge­setz­buchs (Code du tra­vail) müssen bei al­len Be­trie­ben mit min­des­tens elf Beschäftig­ten Be­leg­schafts­ver­tre­ter gewählt wer­den.
10 So­bald ein Un­ter­neh­men oder ein Be­trieb min­des­tens 50 Beschäftig­te auf­weist, er­nen­nen die Ge­werk­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen gemäß den Art. L. 2142‑1‑1 und L. 2143‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs ei­nen Ge­werk­schafts­ver­tre­ter und set­zen nach Art. L. 2322‑1 des Ar­beits­ge­setz­buchs ei­nen Be­triebs­rat ein.
11 Art. L. 1111‑2 des Ar­beits­ge­setz­buchs be­stimmt:

„Für die Um­set­zung der Be­stim­mun­gen des Ar­beits­ge­setz­buchs wird die Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens wie folgt be­rech­net:

Ar­beit­neh­mer mit ei­nem un­be­fris­te­ten Voll­zeit­ar­beits­ver­trag und Heim­ar­bei­ter wer­den bei der Beschäftig­ten­zahl voll berück­sich­tigt;

2°Be­fris­tet beschäftig­te Ar­beit­neh­mer, Ge­le­gen­heits­ar­bei­ter und dem Un­ter­neh­men von ei­nem ex­ter­nen Un­ter­neh­men über­las­se­ne Ar­beit­neh­mer, die in den Geschäftsräum­en des nut­zen­den Un­ter­neh­mens an­we­send sind und dort min­des­tens seit ei­nem Jahr ar­bei­ten, so­wie Zeit­ar­bei­ter wer­den bei der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens ent­spre­chend der Zeit ih­rer An­we­sen­heit während der letz­ten zwölf Mo­na­te an­tei­lig berück­sich­tigt. Be­fris­tet beschäftig­te Ar­beit­neh­mer und von ei­nem ex­ter­nen Un­ter­neh­men über­las­se­ne Ar­beit­neh­mer ein­sch­ließlich Zeit­ar­bei­ter sind je­doch von der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl aus­ge­schlos­sen, wenn sie ei­nen ab­we­sen­den Ar­beit­neh­mer oder ei­nen Ar­beit­neh­mer, des­sen Ver­trag ins­be­son­de­re we­gen Mut­ter­schafts­ur­laubs, Ad­op­ti­ons­ur­laubs oder Er­zie­hungs­ur­laubs aus­ge­setzt ist, er­set­zen;

3°In Teil­zeit beschäftig­te Ar­beit­neh­mer wer­den un­abhängig von der Na­tur ih­res Ar­beits­ver­trags da­durch berück­sich­tigt, dass die Ge­samt­sum­me der in ih­ren Ar­beits­verträgen ge­nann­ten Ar­beits­stun­den durch die ge­setz­li­che oder die ta­rif­lich ver­ein­bar­te Ar­beits­zeit ge­teilt wird.“

12 Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs be­stimmt:

„Bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens nicht berück­sich­tigt wer­den:

1º) Lehr­lin­ge;

2º) im Rah­men ei­nes Beschäfti­gungs­in­itia­tiv­ver­trags Beschäftig­te während der Lauf­zeit der Kon­ven­ti­on gemäß Art. L. 5134‑66;

3º) (auf­ge­ho­ben);

4º) im Rah­men ei­nes beschäfti­gungs­be­glei­ten­den Ver­trags Beschäftig­te während der Lauf­zeit der Kon­ven­ti­on gemäß Art. L. 5134‑19‑1;

5º) (auf­ge­ho­ben);

6º) im Rah­men ei­nes Be­rufs­bil­dungs­ver­trags Beschäftig­te bis zum ver­trag­lich vor­ge­se­he­nen En­de bei ei­nem be­fris­te­ten Ver­trag oder bis zum En­de der Be­rufs­bil­dungs­maßnah­me bei ei­nem un­be­fris­te­ten Ver­trag.

Je­doch wer­den die­se Beschäftig­ten für die An­wen­dung der Rechts­vor­schrif­ten in Be­zug auf die Ta­ri­fie­rung des Ri­si­kos von Ar­beits­unfällen und Be­rufs­krank­hei­ten berück­sich­tigt.“

Aus­gangs­ver­fah­ren und Vor­la­ge­fra­gen

13 Die AMS ist ei­ne Ver­ei­ni­gung gemäß dem Ge­setz vom 1. Ju­li 1901 über den Gründungs­ver­trag von Ver­ei­ni­gun­gen. Sie be­tei­ligt sich an der Durchführung von Maßnah­men der so­zia­len Me­dia­ti­on und der Kri­mi­na­litätspräven­ti­on in der Stadt Mar­seil­le (Frank­reich). Ei­ne wei­te­re Auf­ga­be ist die be­ruf­li­che Wie­der­ein­glie­de­rung von Ar­beits­lo­sen oder Per­so­nen, die aus so­zia­len oder be­ruf­li­chen Gründen Schwie­rig­kei­ten ha­ben, ei­nen Ar­beits­platz zu fin­den. Ih­nen bie­tet die AMS an, über ei­ne in­di­vi­du­el­le Be­rufs­bil­dungs­maßnah­me ei­ne Be­rufs­aus­bil­dung im Be­reich der so­zia­len Me­dia­ti­on zu er­wer­ben.
14 Am 4. Ju­ni 2010 er­nann­te die Uni­on dépar­te­men­ta­le CGT des Bou­ches-du-Rhône Herrn La­bou­bi zum Ver­tre­ter der in­ner­halb der AMS ge­schaf­fe­nen Ge­werk­schafts­sek­ti­on.
15 Die AMS wi­der­sprach die­ser Er­nen­nung. Sie ist der An­sicht, dass sie we­ni­ger als elf und erst recht we­ni­ger als 50 Beschäftig­te ha­be und da­her nach der ein­schlägi­gen na­tio­na­len Re­ge­lung nicht ver­pflich­tet sei, Maßnah­men im Hin­blick auf die Ar­beit­neh­mer­ver­tre­tung, wie die Wahl ei­nes Per­so­nal­ver­tre­ters, zu er­grei­fen.
16 Um zu er­mit­teln, ob die Ver­ei­ni­gung die­se Schwel­len­wer­te von elf oder 50 Beschäftig­ten er­rei­che, blie­ben bei der Be­rech­nung ih­rer Beschäftig­ten­zahl nach Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs nämlich Lehr­lin­ge, im Rah­men ei­nes Beschäfti­gungs­in­itia­tiv­ver­trags oder ei­nes beschäfti­gungs­be­glei­ten­den Ver­trags so­wie im Rah­men ei­nes Be­rufs­bil­dungs­ver­trags beschäftig­te Ar­beit­neh­mer (im Fol­gen­den: Ar­beit­neh­mer, die im Rah­men ei­nes be­zu­schuss­ten Ver­trags beschäftigt sind) un­berück­sich­tigt.
17 Das Tri­bu­nal d’in­stan­ce de Mar­seil­le, bei dem ei­ne Kla­ge der AMS auf Nich­ti­gerklärung der Er­nen­nung von Herrn La­bou­bi zum Ver­tre­ter der CGT‑Ge­werk­schafts­sek­ti­on und ei­ne Wi­der­kla­ge die­ser Ge­werk­schaft, der AMS auf­zu­ge­ben, Wah­len zur Ein­set­zung von Per­so­nal­ver­tre­tungs­or­ga­nen durch­zuführen, anhängig war, über­mit­tel­te der Cour de cas­sa­ti­on ei­ne vor­ran­gi­ge Fra­ge nach der Ver­fas­sungsmäßig­keit von Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs.
18 Die Cour de cas­sa­ti­on leg­te die­se Fra­ge dem Con­seil con­sti­tu­ti­on­nel vor. Die­ser stell­te am 29. April 2011 fest, dass Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs ver­fas­sungs­gemäß sei.
19 Vor dem Tri­bu­nal d’in­stan­ce de Mar­seil­le mach­ten Herr La­bou­bi und die Uni­on lo­ca­le des syn­di­cats CGT des Quar­tiers Nord – de­nen sich die Uni­on dépar­te­men­ta­le CGT des Bou­ches-du-Rhône und die CGT frei­wil­lig an­schlos­sen – gel­tend, dass Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs gleich­wohl we­der mit dem Uni­ons­recht noch mit den in­ter­na­tio­na­len Ver­pflich­tun­gen der Französi­schen Re­pu­blik ver­ein­bar sei.
20 Mit ei­ner neu­en Ent­schei­dung vom 7. Ju­li 2011 folg­te das Tri­bu­nal d’in­stan­ce de Mar­seil­le die­ser Ar­gu­men­ta­ti­on und schloss ei­ne An­wen­dung der Be­stim­mun­gen des Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs aus, da die­se nicht mit dem Uni­ons­recht ver­ein­bar sei­en. Dem­ent­spre­chend erklärte es die Er­nen­nung von Herrn La­bou­bi zum Ver­tre­ter der Ge­werk­schafts­sek­ti­on mit der Fest­stel­lung für gültig, dass die Beschäftig­ten­zahl der frag­li­chen Ver­ei­ni­gung oh­ne ei­ne An­wen­dung der Aus­schluss­be­stim­mun­gen in Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs den Schwel­len­wert von 50 Beschäftig­ten weit über­schrei­te.
21 Ge­gen die­ses Ur­teil leg­te die AMS Rechts­mit­tel bei der Cour de cas­sa­ti­on ein.
22

Un­ter die­sen Umständen hat die Cour de cas­sa­ti­on das Ver­fah­ren aus­ge­setzt und dem Ge­richts­hof fol­gen­de Fra­gen zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­ge­legt:

1. Kann das in Art. 27 der Char­ta an­er­kann­te und durch die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 kon­kre­ti­sier­te Grund­recht auf Un­ter­rich­tung und Anhörung der Ar­beit­neh­mer in ei­nem Rechts­streit zwi­schen Pri­va­ten gel­tend ge­macht wer­den, um die Rechtmäßig­keit ei­ner na­tio­na­len Maßnah­me zur Um­set­zung die­ser Richt­li­nie über­prüfen zu las­sen?

2. Wenn ja, sind die­se Be­stim­mun­gen da­hin aus­zu­le­gen, dass sie ei­ner na­tio­na­len ge­setz­li­chen Vor­schrift ent­ge­gen­ste­hen, die bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens, ins­be­son­de­re zur Be­stim­mung der ge­setz­li­chen Schwel­len­wer­te für die Ein­set­zung von Per­so­nal­ver­tre­tungs­or­ga­nen, Ar­beit­neh­mer un­berück­sich­tigt lässt, die im Rah­men ei­nes be­zu­schuss­ten Ver­trags beschäftigt sind?

Zu den Vor­la­ge­fra­gen

23

Das vor­le­gen­de Ge­richt möch­te mit sei­nen Fra­gen, die zu­sam­men zu be­han­deln sind, im We­sent­li­chen wis­sen, ob Art. 27 der Char­ta für sich ge­nom­men oder in Ver­bin­dung mit den Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er, wenn ei­ne na­tio­na­le Be­stim­mung zur Um­set­zung die­ser Richt­li­nie, wie Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs, mit dem Uni­ons­recht un­ver­ein­bar ist, in ei­nem Rechts­streit zwi­schen Pri­va­ten gel­tend ge­macht wer­den kann, um die­se na­tio­na­le Be­stim­mung un­an­ge­wen­det zu las­sen.

24 Hier­zu ist ers­tens fest­zu­stel­len, dass der Ge­richts­hof be­reits ent­schie­den hat, dass, da die Richt­li­nie 2002/14 in Art. 2 Buchst. d den Per­so­nen­kreis de­fi­niert hat, der bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens zu berück­sich­ti­gen ist, die Mit­glied­staa­ten nicht ei­ne be­stimm­te Grup­pe von Per­so­nen, die ursprüng­lich zu die­sem Kreis gehörte, bei die­ser Be­rech­nung un­berück­sich­tigt las­sen dürfen (vgl. Ur­teil vom 18. Ja­nu­ar 2007, Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., C‑385/05, Slg. 2007, I‑611, Rn. 34).
25 Ei­ne na­tio­na­le Re­ge­lung wie die im Aus­gangs­ver­fah­ren strei­ti­ge, die bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl ei­nes Un­ter­neh­mens ei­ne be­stimm­te Grup­pe von Ar­beit­neh­mern un­berück­sich­tigt lässt, hat nämlich zur Fol­ge, dass be­stimm­te Ar­beit­ge­ber von den in der Richt­li­nie 2002/14 vor­ge­se­he­nen Ver­pflich­tun­gen aus­ge­nom­men und ih­ren Ar­beit­neh­mern die von die­ser Richt­li­nie zu­er­kann­ten Rech­te vor­ent­hal­ten wer­den. Sie ist da­her ge­eig­net, die­se Rech­te aus­zuhöhlen, und nimmt so die­ser Richt­li­nie ih­re prak­ti­sche Wirk­sam­keit (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 38).
26 Zwar ent­spricht es ständi­ger Recht­spre­chung, dass die von der französi­schen Re­gie­rung im Aus­gangs­ver­fah­ren vor­ge­brach­te Förde­rung der Beschäfti­gung ein le­gi­ti­mes Ziel der So­zi­al­po­li­tik dar­stellt und dass die Mit­glied­staa­ten bei der Wahl der zur Ver­wirk­li­chung ih­rer so­zi­al­po­li­ti­schen Zie­le ge­eig­ne­ten Maßnah­men über ei­nen wei­ten Er­mes­sens­spiel­raum verfügen (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 28 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
27 Je­doch darf die­ser Er­mes­sens­spiel­raum, über den die Mit­glied­staa­ten im Be­reich der So­zi­al­po­li­tik verfügen, nicht da­zu führen, dass ein tra­gen­der Grund­satz des Uni­ons­rechts oder ei­ne Vor­schrift des Uni­ons­rechts aus­gehöhlt wird (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 29).
28 Ei­ne Aus­le­gung der Richt­li­nie 2002/14, wo­nach de­ren Art. 3 Abs. 1 es den Mit­glied­staa­ten er­laubt, bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens aus Gründen wie den von der französi­schen Re­gie­rung im Aus­gangs­ver­fah­ren vor­ge­brach­ten ei­ne be­stimm­te Grup­pe von Ar­beit­neh­mern nicht zu berück­sich­ti­gen, wäre mit Art. 11 die­ser Richt­li­nie, der vor­sieht, dass die Mit­glied­staa­ten al­le not­wen­di­gen Maßnah­men zu tref­fen ha­ben, um gewähr­leis­ten zu können, dass die in der Richt­li­nie 2002/14 vor­ge­schrie­be­nen Er­geb­nis­se er­reicht wer­den, in­so­fern un­ver­ein­bar, als da­mit im­pli­ziert würde, dass es den Mit­glied­staa­ten er­laubt wäre, sich die­ser klar und ein­deu­tig durch das Uni­ons­recht fest­ge­leg­ten Er­geb­nis­pflicht zu ent­zie­hen (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 40 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
29 Nach al­le­dem ist da­her fest­zu­stel­len, dass Art. 3 Abs. 1 der Richt­li­nie 2002/14 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er ei­ner na­tio­na­len Be­stim­mung wie Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs ent­ge­gen­steht, die bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens zur Er­mitt­lung der ge­setz­li­chen Schwel­len­wer­te für die Ein­set­zung von Per­so­nal­ver­tre­tungs­or­ga­nen Ar­beit­neh­mer un­berück­sich­tigt lässt, die im Rah­men ei­nes be­zu­schuss­ten Ver­trags beschäftigt sind.
30 Zwei­tens ist zu prüfen, ob die Richt­li­nie 2002/14, ins­be­son­de­re Art. 3 Abs. 1, die Vor­aus­set­zun­gen erfüllt, um un­mit­tel­ba­re Wir­kung zu ent­fal­ten, und ob sich die Be­klag­ten des Aus­gangs­ver­fah­rens, falls dies der Fall sein soll­te, ge­genüber der AMS dar­auf be­ru­fen können.
31 In­so­weit ist dar­an zu er­in­nern, dass sich der Ein­zel­ne nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs in all den Fällen, in de­nen die Be­stim­mun­gen ei­ner Richt­li­nie in­halt­lich un­be­dingt und hin­rei­chend ge­nau sind, vor na­tio­na­len Ge­rich­ten ge­genüber dem Staat auf die­se Be­stim­mun­gen be­ru­fen kann, wenn die­ser die Richt­li­nie nicht frist­gemäß oder nur un­zuläng­lich in das na­tio­na­le Recht um­ge­setzt hat (vgl. Ur­teil vom 5. Ok­to­ber 2004, Pfeif­fer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835, Rn. 103 und die dort an­geführ­te Recht­spre­chung).
32 Im vor­lie­gen­den Fall sieht Art. 3 Abs. 1 der Richt­li­nie 2002/14 vor, dass es Sa­che der Mit­glied­staa­ten ist, zu be­stim­men, nach wel­cher Me­tho­de die Schwel­len­wer­te für die Beschäftig­ten­zahl er­rech­net wer­den.
33 Art. 3 Abs.1 der Richt­li­nie 2002/14 lässt den Mit­glied­staa­ten zwar ei­nen be­stimm­ten Ge­stal­tungs­spiel­raum beim Er­lass der für die Um­set­zung der Richt­li­nie er­for­der­li­chen Maßnah­men, doch be­ein­träch­tigt dies nicht die Ge­nau­ig­keit und Un­be­dingt­heit der in die­sem Ar­ti­kel vor­ge­se­he­nen Ver­pflich­tung, al­le Ar­beit­neh­mer zu berück­sich­ti­gen.
34 Der Ge­richts­hof hat nämlich, wie in Rn. 24 des vor­lie­gen­den Ur­teils aus­geführt, be­reits fest­ge­stellt, dass die Mit­glied­staa­ten, da die Richt­li­nie 2002/14 den Per­so­nen­kreis de­fi­niert hat, der bei die­ser Be­rech­nung zu berück­sich­ti­gen ist, nicht ei­ne be­stimm­te Grup­pe von Per­so­nen, die ursprüng­lich zu die­sem Kreis gehörte, bei die­ser Be­rech­nung un­berück­sich­tigt las­sen dürfen. Die­se Richt­li­nie schreibt den Mit­glied­staa­ten zwar nicht vor, auf wel­che Wei­se sie die in ih­ren An­wen­dungs­be­reich fal­len­den Ar­beit­neh­mer bei der Be­rech­nung der Schwel­len­wer­te für die Beschäftig­ten­zahl berück­sich­ti­gen müssen, wohl aber, dass sie sie berück­sich­ti­gen müssen (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 34).
35 Aus die­ser Recht­spre­chung zu Art. 3 Abs. 1 der Richt­li­nie 2002/14 (vgl. Ur­teil Confédéra­ti­on généra­le du tra­vail u. a., Rn. 40) folgt, dass die­se Be­stim­mung die Vor­aus­set­zun­gen erfüllt, um un­mit­tel­ba­re Wir­kung zu ent­fal­ten.
36 Je­doch kann nach ständi­ger Recht­spre­chung so­gar ei­ne kla­re, ge­naue und un­be­ding­te Richt­li­ni­en­be­stim­mung, mit der dem Ein­zel­nen Rech­te gewährt oder Ver­pflich­tun­gen auf­er­legt wer­den sol­len, im Rah­men ei­nes Rechts­streits, in dem sich aus­sch­ließlich Pri­va­te ge­genüber­ste­hen, nicht als sol­che An­wen­dung fin­den (vgl. Ur­tei­le Pfeif­fer u. a., Rn. 109, und vom 19. Ja­nu­ar 2010, Kücükde­ve­ci, C‑555/07, Slg. 2010, I‑365, Rn. 46).
37 Hier­zu ist in Rn. 13 des vor­lie­gen­den Ur­teils fest­ge­stellt wor­den, dass die AMS ei­ne Ver­ei­ni­gung pri­va­ten Rechts ist, auch wenn sie ei­ne so­zia­le Ziel­set­zung hat. Dar­aus er­gibt sich, dass sich die Be­klag­ten des Aus­gangs­ver­fah­rens auf­grund der Rechts­na­tur der AMS die­ser Ver­ei­ni­gung ge­genüber nicht auf die Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 als sol­che be­ru­fen können (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil des Ge­richts­hofs vom 24. Ja­nu­ar 2012, Do­m­in­guez, C‑282/10, noch nicht in der amt­li­chen Samm­lung veröffent­licht, Rn. 42).
38 Gleich­wohl hat der Ge­richts­hof ent­schie­den, dass ein na­tio­na­les Ge­richt, bei dem ein Rechts­streit zwi­schen Pri­vat­per­so­nen anhängig ist, bei der An­wen­dung der Be­stim­mun­gen des in­ner­staat­li­chen Rechts, die zur Um­set­zung der in ei­ner Richt­li­nie vor­ge­se­he­nen Ver­pflich­tun­gen er­las­sen wor­den sind, das ge­sam­te na­tio­na­le Recht berück­sich­ti­gen und es so weit wie möglich an­hand des Wort­lauts und des Zwe­ckes der Richt­li­nie aus­le­gen muss, um zu ei­nem Er­geb­nis zu ge­lan­gen, das mit dem von der Richt­li­nie ver­folg­ten Ziel ver­ein­bar ist (vgl. Ur­tei­le vom 4. Ju­li 2006, Aden­eler u. a., C-212/04, Slg. 2006, I‑6057, Rn. 111, so­wie Pfeif­fer u. a., Rn. 119, und Do­m­in­guez, Rn. 27).
39 Der Ge­richts­hof hat je­doch fest­ge­stellt, dass der Grund­satz der uni­ons­rechts­kon­for­men Aus­le­gung des na­tio­na­len Rechts be­stimm­ten Schran­ken un­ter­liegt. So fin­det die Ver­pflich­tung des na­tio­na­len Rich­ters, bei der Aus­le­gung und An­wen­dung der ein­schlägi­gen Vor­schrif­ten des in­ner­staat­li­chen Rechts den In­halt ei­ner Richt­li­nie her­an­zu­zie­hen, in den all­ge­mei­nen Rechts­grundsätzen ih­re Schran­ken und darf nicht als Grund­la­ge für ei­ne Aus­le­gung con­tra le­gem des na­tio­na­len Rechts die­nen (vgl. Ur­tei­le vom 15. April 2008, Im­pact, C‑268/06, Slg. 2008, I‑2483, Rn. 100, und Do­m­in­guez, Rn. 25).
40 Aus der Vor­la­ge­ent­schei­dung er­gibt sich, dass die Cour de Cas­sa­ti­on meint, im Aus­gangs­ver­fah­ren ei­ner sol­chen Schran­ke ge­genüber­zu­ste­hen, so dass Art. L. 1111‑3 des Code du tra­vail ei­ner mit der Richt­li­nie 2002/14 ver­ein­ba­ren Aus­le­gung nicht zugäng­lich sei.
41 Un­ter die­sen Umständen ist drit­tens zu prüfen, ob der Sach­ver­halt des Aus­gangs­ver­fah­rens mit dem der Rechts­sa­che Kücükde­ve­ci zu­grun­de lie­gen­den ver­gleich­bar ist, so dass Art. 27 der Char­ta für sich ge­nom­men oder in Ver­bin­dung mit den Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 in ei­nem Rechts­streit zwi­schen Pri­va­ten gel­tend ge­macht wer­den kann, um ge­ge­be­nen­falls die An­wen­dung der nicht richt­li­ni­en­kon­for­men na­tio­na­len Be­stim­mung aus­zu­sch­ließen.
42 Im Hin­blick auf Art. 27 der Char­ta als sol­chem ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass nach ständi­ger Recht­spre­chung die in der Uni­ons­rechts­ord­nung ga­ran­tier­ten Grund­rech­te in al­len uni­ons­recht­lich ge­re­gel­ten Fall­ge­stal­tun­gen An­wen­dung fin­den (vgl. Ur­teil vom 26. Fe­bru­ar 2013, Åker­berg Frans­son, C‑617/10, noch nicht in der amt­li­chen Samm­lung veröffent­licht, Rn. 19).
43 Da die im Aus­gangs­ver­fah­ren frag­li­che na­tio­na­le Re­ge­lung die Um­set­zung der Richt­li­nie 2002/14 dar­stellt, fin­det Art. 27 der Char­ta auf die vor­lie­gen­de Rechts­sa­che An­wen­dung.
44 Wei­ter ist fest­zu­stel­len, dass Art. 27 („Recht auf Un­ter­rich­tung und Anhörung der Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer im Un­ter­neh­men“) der Char­ta be­stimmt, dass für die Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer auf ver­schie­de­nen Ebe­nen ei­ne Un­ter­rich­tung und Anhörung in den Fällen und un­ter den Vor­aus­set­zun­gen gewähr­leis­tet sein muss, die nach dem Uni­ons­recht und den ein­zel­staat­li­chen Rechts­vor­schrif­ten und Ge­pflo­gen­hei­ten vor­ge­se­hen sind.
45 Aus dem Wort­laut von Art. 27 der Char­ta geht so­mit klar her­vor, dass er, da­mit er sei­ne vol­le Wirk­sam­keit ent­fal­tet, durch Be­stim­mun­gen des Uni­ons­rechts oder des na­tio­na­len Rechts kon­kre­ti­siert wer­den muss.
46 Das in Art. 3 Abs. 1 der Richt­li­nie 2002/14 ent­hal­te­ne und an die Mit­glied­staa­ten ge­rich­te­te Ver­bot, bei der Be­rech­nung der Beschäftig­ten­zahl des Un­ter­neh­mens ei­ne be­stimm­te Grup­pe von Ar­beit­neh­mern, die ursprüng­lich zu dem Kreis der bei die­ser Be­rech­nung zu berück­sich­ti­gen­den Per­so­nen gehörte, aus­zu­sch­ließen, lässt sich nämlich als un­mit­tel­bar an­wend­ba­re Rechts­norm we­der aus dem Wort­laut des Art. 27 der Char­ta noch aus den Erläute­run­gen zu die­sem Ar­ti­kel her­lei­ten.
47 In die­sem Zu­sam­men­hang ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass sich die Umstände des Aus­gangs­ver­fah­rens von de­nen un­ter­schei­den, die zum Ur­teil Kücükde­ve­ci geführt ha­ben, da das in Art. 21 Abs. 1 der Char­ta nie­der­ge­leg­te Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Al­ters, um das es in je­ner Rechts­sa­che ging, schon für sich al­lein dem Ein­zel­nen ein sub­jek­ti­ves Recht ver­leiht, das er als sol­ches gel­tend ma­chen kann.
48 Dem­nach kann Art. 27 der Char­ta als sol­cher in ei­nem Rechts­streit wie dem des Aus­gangs­ver­fah­rens nicht gel­tend ge­macht wer­den, um zu der Schluss­fol­ge­rung zu ge­lan­gen, dass die mit der Richt­li­nie 2002/14 nicht kon­for­me na­tio­na­le Be­stim­mung un­an­ge­wen­det zu las­sen ist.
49 Die­se Fest­stel­lung kann nicht da­durch ent­kräftet wer­den, dass Art. 27 der Char­ta im Zu­sam­men­hang mit den Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 be­trach­tet wird. Da die­ser Ar­ti­kel nämlich für sich al­lein nicht aus­reicht, um dem Ein­zel­nen ein Recht zu ver­lei­hen, das die­ser als sol­ches gel­tend ma­chen kann, kann bei ei­ner sol­chen Zu­sam­men­schau nichts an­de­res gel­ten.
50 Die durch die Un­ver­ein­bar­keit des na­tio­na­len Rechts mit dem Uni­ons­recht geschädig­te Par­tei kann sich je­doch auf die mit dem Ur­teil vom 19. No­vem­ber 1991, Fran­co­vich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, Slg. 1991, I‑5357), be­gründe­te Recht­spre­chung be­ru­fen, um ge­ge­be­nen­falls Er­satz des ent­stan­de­nen Scha­dens zu er­lan­gen (vgl. Ur­teil Do­m­in­guez, Rn. 43)
51 Aus al­le­dem er­gibt sich, dass Art. 27 der Char­ta für sich ge­nom­men oder in Ver­bin­dung mit den Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er, wenn ei­ne na­tio­na­le Be­stim­mung zur Um­set­zung die­ser Richt­li­nie, wie Art. L. 1111‑3 des Ar­beits­ge­setz­buchs, mit dem Uni­ons­recht un­ver­ein­bar ist, in ei­nem Rechts­streit zwi­schen Pri­va­ten nicht gel­tend ge­macht wer­den kann, um die­se na­tio­na­le Be­stim­mung un­an­ge­wen­det zu las­sen.

Kos­ten

52 Für die Par­tei­en des Aus­gangs­ver­fah­rens ist das Ver­fah­ren ein Zwi­schen­streit in dem bei dem vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­gen Rechts­streit; die Kos­ten­ent­schei­dung ist da­her Sa­che die­ses Ge­richts. Die Aus­la­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter für die Ab­ga­be von Erklärun­gen vor dem Ge­richts­hof sind nicht er­stat­tungsfähig.

Aus die­sen Gründen hat der Ge­richts­hof (Große Kam­mer) für Recht er­kannt:

Art. 27 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on ist für sich ge­nom­men oder in Ver­bin­dung mit den Be­stim­mun­gen der Richt­li­nie 2002/14/EG des Eu­ropäischen Par­la­ments und des Ra­tes vom 11. März 2002 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Un­ter­rich­tung und Anhörung der Ar­beit­neh­mer in der Eu­ropäischen Ge­mein­schaft da­hin aus­zu­le­gen, dass er, wenn ei­ne na­tio­na­le Be­stim­mung zur Um­set­zung die­ser Richt­li­nie, wie Art. L. 1111‑3 des französi­schen Ar­beits­ge­setz­buchs, mit dem Uni­ons­recht un­ver­ein­bar ist, in ei­nem Rechts­streit zwi­schen Pri­va­ten nicht gel­tend ge­macht wer­den kann, um die­se na­tio­na­le Be­stim­mung un­an­ge­wen­det zu las­sen.

Un­ter­schrif­ten 

* Ver­fah­rens­spra­che: Französisch.

Quel­le: Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on (EuGH), http://cu­ria.eu­ro­pa.eu

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