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BAG, Ur­teil vom 22.02.2018, 6 AZR 868/16

   
Schlagworte: Annahmeverzugslohn, Insolvenz des Arbeitgebers
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 6 AZR 868/16
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 22.02.2018
   
Leitsätze: Erweist sich eine Kündigung, die das Arbeitsverhältnis spätestens zum ersten Termin beenden würde, zu dem der Verwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, als rechtsunwirksam, gelten die Ansprüche aus Annahmeverzug für die Zeit nach diesem Termin gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Trier, Urteil vom 03.12.2015, 3 Ca 632/15
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 07.07.2016, 6 Sa 23/16
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

6 AZR 868/16
6 Sa 23/16
Lan­des­ar­beits­ge­richt
Rhein­land-Pfalz

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am
22. Fe­bru­ar 2018

UR­TEIL

Gaßmann, Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

 

hat der Sechs­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 22. Fe­bru­ar 2018 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Fi­scher­mei­er, die Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Spel­ge, den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Hein­kel so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Knauß und Dr. Au­gat für Recht er­kannt:

 

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1. Die Re­vi­si­on des Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Rhein­land-Pfalz vom 7. Ju­li 2016 - 6 Sa 23/16 - wird zurück­ge­wie­sen.

2. Der Be­klag­te hat die Kos­ten der Re­vi­si­on zu tra­gen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten über die in­sol­venz­recht­li­che Ein­ord­nung von An­nah­me­ver­zugs­ansprüchen.

Die Kläge­rin war seit 1996 bei dem späte­ren Schuld­ner, der bun­des­weit zahl­rei­che Dro­ge­rie­geschäfte be­trieb, zu­letzt als Fi­li­al­lei­te­rin zu ei­nem Brut­to­mo­nats­ent­gelt von 2.680,60 Eu­ro beschäftigt. Über das Vermögen des Schuld­ners wur­de am 28. März 2012 das In­sol­venz­ver­fah­ren eröff­net und der Be­klag­te zum In­sol­venz­ver­wal­ter be­stellt. Die­ser stell­te die Kläge­rin spätes­tens am 1. Ju­li 2012 von der Ar­beits­leis­tung frei.

Der Be­klag­te zeig­te am 31. Au­gust 2012 die dro­hen­de Mas­seun­zuläng­lich­keit an. Be­reits zu­vor hat­te er das Ar­beits­verhält­nis der Kläge­rin or­dent­lich mit Schrei­ben vom 28. März zum 30. Ju­ni 2012 und ein wei­te­res Mal mit Schrei­ben vom 23. Au­gust zum 30. No­vem­ber 2012 gekündigt. Die­se Kündi­gun­gen wur­den eben­so wie ei­ne noch vom Schuld­ner erklärte Kündi­gung vom 25. No­vem­ber 2011 zum 31. Mai 2012 rechts­kräftig für un­wirk­sam erklärt. Die Rechts­kraft der die Kündi­gun­gen vom 28. März und 23. Au­gust 2012 be­tref­fen­den Ur­tei­le trat nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit ein. Das Ar­beits­verhält­nis en­de­te am 31. Au­gust 2013 nach ei­ner wei­te­ren, am 16. Mai zum 31. Au­gust 2013 erklärten Kündi­gung des Be­klag­ten auf­grund ei­nes im da­ge­gen an­ge­streng­ten Kündi­gungs­schutz­pro­zess ge­schlos­se­nen Ver­gleichs.

 

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Mit ih­rer am 1. Ju­ni 2015 er­ho­be­nen Kla­ge ver­langt die Kläge­rin Vergütung we­gen An­nah­me­ver­zugs für die Zeit vom 1. Ja­nu­ar bis 31. Au­gust 2013 abzüglich er­hal­te­nen Ar­beits­lo­sen­gelds in rech­ne­risch un­strei­ti­ger Höhe.

Sie hat die An­sicht ver­tre­ten, der Be­klag­te sei recht­lich nicht ge­hin­dert ge­we­sen, nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit bis Mit­te Sep­tem­ber 2012 die for­ma­len Vor­aus­set­zun­gen für ei­ne wirk­sa­me Kündi­gung, die zum 31. De­zem­ber 2012 hätte erklärt wer­den können, her­bei­zuführen. Er ha­be die­se Möglich­keit versäumt, so dass die vom 1. Ja­nu­ar 2013 an bis zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ent­stan­de­nen An­nah­me­ver­zugs­ansprüche Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO sei­en.

Die Kläge­rin hat zu­letzt be­an­tragt,

den Be­klag­ten zu ver­ur­tei­len, an sie 21.444,80 Eu­ro brut­to abzüglich auf die Bun­des­agen­tur für Ar­beit über­ge­gan­ge­ner Ansprüche iHv. 8.620,80 Eu­ro nebst Zin­sen iHv. fünf Pro­zent­punk­ten über dem Ba­sis­zins­satz seit Rechtshängig­keit zu zah­len.

Der Be­klag­te hat zur Be­gründung sei­nes Kla­ge­ab­wei­sungs­an­trags gel­tend ge­macht, § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO zwin­ge den In­sol­venz­ver­wal­ter zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nur, ein zum erstmögli­chen Ter­min nach der Mas­seun­zuläng­lich­keits­an­zei­ge noch nicht gekündig­tes Ar­beits­verhält­nis zu die­sem Ter­min zu kündi­gen. Ei­ne recht­zei­ti­ge Kündi­gung könne be­reits vor An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit er­fol­gen. Es be­ste­he dann kein un­gekündig­tes Ar­beits­verhält­nis mehr. Auf die Wirk­sam­keit die­ser Kündi­gung könne sich der In­sol­venz­ver­wal­ter ver­las­sen.

Die Vor­in­stan­zen ha­ben der Zah­lungs­kla­ge statt­ge­ge­ben. Mit sei­ner vom Se­nat zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on be­gehrt der Be­klag­te un­ter Ver­tie­fung sei­ner recht­li­chen Ar­gu­men­ta­ti­on wei­ter­hin Kla­ge­ab­wei­sung.

 

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Ent­schei­dungs­gründe

Die Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Die Vor­in­stan­zen ha­ben mit Recht an­ge­nom­men, dass die gel­tend ge­mach­ten An­nah­me­ver­zugs­ansprüche als Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 In­sO zu be­rich­ti­gen sind.

I. Die Kla­ge ist zulässig. Ihr liegt die An­nah­me zu­grun­de, die streit­be­fan­ge­nen Ansprüche sei­en Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten iSv. §§ 53, 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 In­sO, die nicht den Voll­stre­ckungs­ver­bo­ten des § 210 In­sO und des § 123 Abs. 3 Satz 2 In­sO un­ter­fal­len. Er­gibt die recht­li­che Prüfung, dass die er­ho­be­ne For­de­rung tatsächlich im Rang ei­ner Alt­mas­se­ver­bind­lich­keit steht, ist die Kla­ge nicht un­zulässig, son­dern un­be­gründet (zu­letzt BAG 23. März 2017 - 6 AZR 264/16 - Rn. 13 mwN, BA­GE 158, 376). Auch das er­for­der­li­che Rechts­schutz­bedürf­nis be­steht. Der Be­klag­te hat den Ein­wand der Neu­mas­seun­zuläng­lich­keit, bei dem auch die Neu­mas­segläubi­ger ih­re Ansprüche nur noch im Weg der Fest­stel­lungs­kla­ge ver­fol­gen können, nicht er­ho­ben (BAG 23. März 2017 - 6 AZR 264/16 - aaO).

II. Die Kla­ge ist be­gründet. Die streit­be­fan­ge­nen, rech­ne­risch un­strei­ti­gen 11 Ansprüche auf Zah­lung des Ent­gelts vom 1. Ja­nu­ar bis 31. Au­gust 2013 aus §§ 611, 615 BGB sind für die Zeit nach dem 31. De­zem­ber 2012 als dem ers­ten Ter­min, zu dem der Be­klag­te nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit kündi­gen konn­te, ent­stan­den. Sie sind da­her so zu be­han­deln, als wären sie vom Be­klag­ten nach der An­zei­ge neu be­gründet wor­den. Un­er­heb­lich ist, dass der Be­klag­te mit den Kündi­gun­gen vom 28. März und 23. Au­gust 2012 ver­geb­lich ver­sucht hat, das Ar­beits­verhält­nis vor dem Ab­lauf des 31. De­zem­ber 2012 zu be­en­den. Die­se Kündi­gun­gen wa­ren zwar recht­zei­tig iSv. § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO erklärt. Gleich­wohl gel­ten die An­nah­me­ver­zugs­ansprüche, die für die Zeit nach die­sem Ter­min bis zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses ent­stan­den sind, gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO als Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2 In­sO, weil die Kündi­gun­gen un­wirk­sam wa­ren.

 

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1. Un­ge­ach­tet der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit hat der In­sol­venz­ver­wal­ter gemäß § 208 Abs. 3 In­sO die noch vor­han­de­ne Mas­se wei­ter zu ver­wal­ten und zu ver­wer­ten. Er muss dar­um die Möglich­keit ha­ben, Ansprüche von Gläubi­gern, de­ren Leis­tung für die Fortführung des Ver­fah­rens un­erläss­lich ist, auch dann in vol­lem Um­fang zu erfüllen, wenn die­se Ansprüche von ihm erst nach der An­zei­ge be­gründet wor­den sind. An­de­ren­falls würden die­se Geschäfte nicht zu­stan­de kom­men. Die Mas­se dient dar­um nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit vor­ran­gig der Be­frie­di­gung der vom In­sol­venz­ver­wal­ter ein­ge­gan­ge­nen neu­en Ver­bind­lich­kei­ten (MüKoIn­sO/He­f­er­mehl 3. Aufl. § 209 Rn. 3), die er benötigt, um die Mas­se wei­ter zu ver­wal­ten. Dar­um hat sich der Ge­setz­ge­ber für die Einführung ei­ner in Alt- und Neu­mas­se­ver­bind­lich­keit „ge­spal­te­nen“ Rang­ord­nung ent­schie­den (KPB/Pa­pe In­sO Stand März 2004 § 209 Rn. 3a; MüKoIn­sO/He­f­er­mehl aaO). Die An­zei­ge führt da­nach zu ei­ner Neu­ord­nung der in­sol­venz­recht­li­chen Rang­fol­ge der Mas­se­ver­bind­lich­kei­ten. Die be­reits vor der An­zei­ge be­gründe­ten, „drängen­den“ Mas­se­ver­bind­lich­kei­ten wer­den auf den Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 In­sO zurück­ge­stuft. Dem Ver­wal­ter wird so der Hand­lungs­spiel­raum ge­ge­ben, den er benötigt, um die Ver­wer­tung auch bei Mas­seun­zuläng­lich­keit zum Ab­schluss zu brin­gen (BAG 23. März 2017 - 6 AZR 264/16 - Rn. 23, 37, BA­GE 158, 376).

2. Nach der Grund­re­gel des § 209 Abs. 1 Nr. 2 In­sO sind Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten die Ver­bind­lich­kei­ten, die nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit be­gründet wor­den sind, aber nicht zu den Kos­ten des Ver­fah­rens gehören. Es han­delt sich da­bei um Ansprüche, die dem Ver­wal­ter nicht auf­ge­zwun­gen (ok­troy­iert) wor­den sind (BAG 23. März 2017 - 6 AZR 264/16 - Rn. 37, BA­GE 158, 376), son­dern die die Fortführung der Ver­wal­tung der Mas­se mit sich bringt und zu de­nen sich der Ver­wal­ter des­halb noch nach der An­zei­ge „be­kannt“ hat (vgl. Win­del in Ja­e­ger In­sO § 209 Rn. 34; HK-In­sO/Land­fer­mann 8. Aufl. § 209 Rn. 16). Für Dau­er­schuld­verhält­nis­se wie das Ar­beits­verhält­nis, bei de­nen kei­ne Erfüllungs­wahl nach § 103 In­sO möglich ist, son­dern die nach § 108 In­sO zu Las­ten der Mas­se fort­be­ste­hen und die zu ih­rer Be­en­di­gung ei­ner Kündi­gung bedürfen, präzi­sie­ren und kon­kre­ti­sie­ren § 209 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 In­sO die Ab­gren­zung zwi­schen Alt- und Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten (vgl.

 

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BT-Drs. 12/2443 S. 220; Win­del aaO Rn. 35): Leis­tet der Gläubi­ger zur Neu­mas­se, weil der In­sol­venz­ver­wal­ter ihn zur Leis­tung her­an­ge­zo­gen hat, sind die da­durch ent­stan­de­nen, vom In­sol­venz­ver­wal­ter be­gründe­ten Ent­gelt­ansprüche Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nach § 209 Abs. 2 Nr. 3 In­sO. Un­ter­bleibt die Ge­gen­leis­tung, zB weil ein Ar­beit­neh­mer vom In­sol­venz­ver­wal­ter frei­ge­stellt wor­den ist, be­stimmt § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO, wel­che Ver­bind­lich­kei­ten aus dem oh­ne Ge­gen­leis­tung fort­be­ste­hen­den Dau­er­schuld­verhält­nis im Rang ei­ner Alt­mas­se­ver­bind­lich­keit und wel­che im Rang ei­ner Neu­mas­se­ver­bind­lich­keit ste­hen. Aus dem Dau­er­schuld­verhält­nis ent­ste­hen­de Ver­bind­lich­kei­ten sol­len nach dem Wil­len des Ge­setz­ge­bers den vom In­sol­venz­ver­wal­ter nach der An­zei­ge neu be­gründe­ten Ver­bind­lich­kei­ten nur und so lan­ge gleich­ste­hen, wie er das Dau­er­schuld­verhält­nis trotz der er­kann­ten und an­ge­zeig­ten Mas­seun­zuläng­lich­keit auf­recht­erhält. Ist wie vor­lie­gend im Ar­beits­verhält­nis mo­nat­li­che Ent­gelt­zah­lung ver­ein­bart und kündigt der In­sol­venz­ver­wal­ter recht­zei­tig, dh. zum ers­ten Ter­min, zu dem er nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit „kündi­gen konn­te“, ist das Ent­gelt für die Mo­na­te bis zum Ab­lauf der Kündi­gungs­frist Alt­mas­se­ver­bind­lich­keit. Kündigt er nicht recht­zei­tig, sind die nach dem erstmögli­chen Kündi­gungs­ter­min ent­ste­hen­den An­nah­me­ver­zugs­ansprüche Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten. Der In­sol­venz­ver­wal­ter hat die recht­li­che Möglich­keit nicht ge­nutzt, durch ei­ne recht­zei­ti­ge Kündi­gung die­se Ansprüche zu ver­hin­dern. Sie sind des­halb wie von ihm neu be­gründe­te Ansprüche zu be­han­deln (BAG 30. Mai 2006 - 1 AZR 25/05 - Rn. 12, BA­GE 118, 222; 21. Ju­li 2005 - 6 AZR 592/04 - zu II 2 b der Gründe, BA­GE 115, 225; BT-Drs. 12/2443 S. 220).

3. Die Re­vi­si­on nimmt im Aus­gangs­punkt zu­tref­fend an, dass nach die­sen Qua­li­fi­ka­ti­ons­re­geln des § 209 Abs. 2 In­sO (zu die­ser Be­griff­lich­keit Win­del in Ja­e­ger In­sO § 209 Rn. 50) der In­sol­venz­ver­wal­ter nicht ge­zwun­gen ist, zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten stets auch dann nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit noch ei­ne wei­te­re (vor­sorg­li­che) Kündi­gung zum erstmögli­chen Kündi­gungs­ter­min zu erklären, wenn er oder der Schuld­ner das Ar­beits­verhält­nis be­reits vor der An­zei­ge zum sel­ben oder ei­nem frühe­ren Be­en­di­gungs­zeit­punkt gekündigt hat (vor­zei­ti­ge Kündi­gung). Da­bei kommt es nicht dar­auf an, ob die frühe­re Kündi­gung be­reits rechts­kräftig für wirk­sam erklärt

 

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wor­den ist, ob die Frist des § 4 KSchG be­reits ver­stri­chen ist oder ob kein Be­stands­schutz be­steht. In den letzt­ge­nann­ten Fällen wird der In­sol­venz­ver­wal­ter al­ler­dings schon im In­ter­es­se der Mas­se­scho­nung idR von ei­ner er­neu­ten Kündi­gung ab­se­hen müssen. Auch wenn wie hier ma­te­ri­el­ler Kündi­gungs­schutz nach § 1 KSchG oder for­mel­ler Be­stands­schutz, et­wa nach § 102 Be­trVG oder § 168 SGB IX, be­steht und ein Kündi­gungs­schutz­pro­zess noch möglich oder be­reits rechtshängig ist, kann der In­sol­venz­ver­wal­ter von ei­ner wei­te­ren Kündi­gung ab­se­hen, wenn er da­von aus­geht, die be­reits erklärte Kündi­gung wer­de das Ar­beits­verhält­nis zum sel­ben oder ei­nem frühe­ren Zeit­punkt be­en­den, als es ei­ne nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit erstmögli­che Kündi­gung könn­te.

4. Die Re­vi­si­on berück­sich­tigt je­doch nicht, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter bei ei­nem sol­chen Vor­ge­hen das Ri­si­ko trägt, dass die vor­zei­ti­ge Kündi­gung un­wirk­sam ist. Dann sind die An­nah­me­ver­zugs­ansprüche, die nach Ab­lauf der Kündi­gungs­frist der erstmögli­chen Kündi­gung ent­stan­den sind, die nach der An­zei­ge hätte erklärt wer­den können, Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 In­sO. Die­ses Ri­si­ko hat sich vor­lie­gend ver­wirk­licht.

a) § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO legt nur den Ter­min fest, bis zu dem das Ar­beits­verhält­nis spätes­tens be­en­det wor­den sein muss, um Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten zu ver­mei­den. Die­ser Ter­min be­rech­net sich nach dem fik­ti­ven Ab­lauf der Frist der erstmögli­chen Kündi­gung nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit. Nach die­ser ge­setz­li­chen Aus­ge­stal­tung ist es nicht zwin­gend er­for­der­lich, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit kündigt. Ist be­reits ei­ne wirk­sa­me vor­zei­ti­ge Kündi­gung erklärt wor­den, kom­men die Qua­li­fi­ka­ti­ons­re­geln des § 209 Abs. 2 In­sO nicht zum Tra­gen, weil die­se Kündi­gung das Ar­beits­verhält­nis spätes­tens zum Zeit­punkt des fik­ti­ven Ab­laufs der Kündi­gungs­frist ei­ner recht­zei­tig nach der An­zei­ge erklärten Kündi­gung be­en­det. Der An­wen­dungs­be­reich des § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO ist in die­ser Kon­stel­la­ti­on nicht eröff­net. Die bis zum fik­ti­ven Ab­lauf der Kündi­gungs­frist ent­ste­hen­den An­nah­me­ver­zugs­ansprüche sind nach der Ver­tei­lungs­ord­nung des § 209 Abs. 1 Nr. 3 In­sO Alt­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten (vgl. oh­ne wei­te­re Pro­ble­ma-

 

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ti­sie­rung für den An­spruch auf ein zusätz­li­ches Ur­laubs­ent­gelt BAG 15. Ju­ni 2004 - 9 AZR 431/03 - zu II 3 b der Gründe, BA­GE 111, 80; für die Kündi­gung ei­nes ge­werb­li­chen Miet­verhält­nis­ses BGH 3. April 2003 - IX ZR 101/02 - zu III 1 c der Gründe, BGHZ 154, 358). Glei­ches gilt, wenn ein be­fris­te­tes Ar­beits­verhält­nis vor oder mit dem Zeit­punkt des fik­ti­ven Ab­laufs der Kündi­gungs­frist ausläuft. Der In­sol­venz­ver­wal­ter ist durch § 90 Abs. 2 Nr. 2 In­sO bzw. § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO nur ge­hal­ten, Dau­er­schuld­verhält­nis­se, die be­reits vor der Eröff­nung bzw. An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit gekündigt wor­den sind, ein wei­te­res Mal zu kündi­gen, wenn dies we­gen der kur­zen Kündi­gungs­frist des § 113 In­sO ei­ne frühe­re Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses zur Fol­ge hat (vgl. Brei­tenbücher in Graf-Schli­cker In­sO 4. Aufl. § 90 Rn. 2).

b) Ist die vor­zei­ti­ge Kündi­gung da­ge­gen un­wirk­sam, sind nach den Qua­li­fi­ka­ti­ons­re­geln des § 209 Abs. 2 In­sO An­nah­me­ver­zugs­ansprüche, die für die Zeit nach dem Ter­min ent­ste­hen, zu dem das Ar­beits­verhält­nis nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit frühestmöglich hätte be­en­det wer­den können, Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten. Glei­ches gilt, wenn der In­sol­venz­ver­wal­ter erst­mals nach der An­zei­ge recht­zei­tig kündigt und die­se Kündi­gung un­wirk­sam ist. § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO fin­giert für An­nah­me­ver­zugs­ansprüche, die für die Zeit nach dem ers­ten Ter­min ent­ste­hen, zu dem der In­sol­venz­ver­wal­ter das Ar­beits­verhält­nis nach An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit „kündi­gen konn­te“, den Rang ei­ner Neu­mas­se­ver­bind­lich­keit. Aus die­ser ge­setz­li­chen For­mu­lie­rung folgt, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten Dau­er­schuld­verhält­nis­se, die er für die wei­te­re Ver­wer­tung und Ver­wal­tung der Mas­se nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit nicht mehr benötigt, frühestmöglich be­en­den muss (vgl. BAG 4. Ju­ni 2003 - 10 AZR 586/02 - zu II 2 b bb (1) der Gründe). Zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten genügt es dar­um nicht, dass ei­ne Kündi­gung zum erstmögli­chen Ter­min nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit erklärt wird. Die Kündi­gung muss auch wirk­sam sein. Das Ar­beits­verhält­nis muss spätes­tens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO fest­ge­leg­ten Ter­min tatsächlich be­en­det sein (Ries NZI 2002, 521, 523; Ries/Ber­scheid ZIn­sO 2008, 1233, 1238 f.; Uh­len­bruck/Ries 14. Aufl. § 209 In­sO Rn. 24, 32).

 

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aa) Der Ge­setz­ge­ber hat be­reits da­durch, dass er ei­ne Kündi­gung ver­langt, so­bald der In­sol­venz­ver­wal­ter kündi­gen „kann“, deut­lich ge­macht, dass Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nur aus­ge­schlos­sen sind, wenn das Dau­er­schuld­verhält­nis spätes­tens zum ers­ten Ter­min, zu dem der In­sol­venz­ver­wal­ter nach der Mas­seun­zuläng­lich­keits­an­zei­ge kündi­gen konn­te, rechts­wirk­sam be­en­det wor­den ist.

(1) Mit dem Be­griff des „Könnens“ stellt § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO auf das recht­li­che Können ab (vgl. BAG 4. Ju­ni 2003 - 10 AZR 586/02 - zu II 2 b bb (2) der Gründe). Der In­sol­venz­ver­wal­ter darf - und muss - des­halb zunächst die for­mel­len Vor­aus­set­zun­gen für die Kündi­gungs­erklärung schaf­fen. Vor­her „kann“ er nicht kündi­gen. Ins­be­son­de­re darf er recht­li­che Hin­der­nis­se, die wie das Er­for­der­nis der Anhörung des Be­triebs­rats (vgl. BAG 4. Ju­ni 2003 - 10 AZR 586/02 - aaO) oder ei­ne er­for­der­li­che behörd­li­che Zu­stim­mung (vgl. BAG 23. Fe­bru­ar 2005 - 10 AZR 602/03 - zu II 4 b der Gründe, BA­GE 114, 13) ei­ner wirk­sa­men Kündi­gung ent­ge­gen­ste­hen, be­sei­ti­gen. Der dafür er­for­der­li­che Zeit­auf­wand hin­dert ihn recht­lich an der Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses und schiebt den Ter­min der erstmögli­chen Kündi­gung hin­aus.

(2) Da­ge­gen be­gründet der In­sol­venz­ver­wal­ter nach der ge­setz­ge­be­ri­schen Wer­tung des § 209 In­sO Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten, wenn er nach der Be­sei­ti­gung der for­ma­len Hin­der­nis­se noch kei­ne Kündi­gung erklärt, weil er die Vor­aus­set­zun­gen für ei­ne ma­te­ri­ell-recht­lich wirk­sa­me Kündi­gung noch nicht ge­schaf­fen hat. Der von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO fest­ge­leg­te Ter­min wird da­durch nicht hin­aus­ge­scho­ben. Ver­han­delt er zum Bei­spiel noch mit ei­nem po­ten­ti­el­len Be­triebs­er­wer­ber und sieht vor­erst von ei­ner Kündi­gung ab, weil es noch an ei­nem Kündi­gungs­grund nach § 1 KSchG fehlt, be­steht kein ori­ginär recht­li­ches Hin­der­nis für die Kündi­gung mehr. Der Um­stand, dass noch kei­ne ma­te­ri­ell-recht­lich wirk­sa­me Kündi­gung möglich ist, ist al­lein Fol­ge des Wil­lens des In­sol­venz­ver­wal­ters, noch nicht zu ent­schei­den, ob er auf die Ar­beits­kraft des Ar­beit­neh­mers endgültig ver­zich­ten will. In ei­nem sol­chen Schwe­be­zu­stand kann er Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nicht ver­mei­den. Nach der ge­setz­li­chen Wer­tung des § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO hätte er kündi­gen „können“ (vgl. BAG

 

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23. Fe­bru­ar 2005 - 10 AZR 602/03 - zu II 4 b der Gründe, BA­GE 114, 13). Tut er das nicht, ent­ste­hen Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten, weil er nicht gekündigt hat. Kündigt er, wird ei­ne da­ge­gen er­ho­be­ne Kündi­gungs­schutz­kla­ge re­gelmäßig Er­folg ha­ben. Die dann für die Zeit nach dem erstmögli­chen Kündi­gungs­ter­min ent­ste­hen­den An­nah­me­ver­zugs­ansprüche sind Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten (BAG 31. März 2004 - 10 AZR 253/03 - zu B III 1 d cc der Gründe, BA­GE 110, 135).

(3) Der In­sol­venz­ver­wal­ter be­gründet auch dann Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten, wenn sich sei­ne Einschätzung, er ha­be die for­mel­len und ma­te­ri­ell-recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für die wirk­sa­me Kündi­gung ei­nes von der Mas­se nicht mehr benötig­ten Ar­beits­verhält­nis­ses her­bei­geführt, im Kündi­gungs­schutz­pro­zess als un­zu­tref­fend er­weist. Das Ar­beits­verhält­nis be­steht dann über den ers­ten Ter­min, zu dem es der In­sol­venz­ver­wal­ter nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit hätte kündi­gen „können“, fort. Da­mit sind die für die Zeit nach die­sem Ter­min ent­ste­hen­den An­nah­me­ver­zugs­ansprüche nach den Qua­li­fi­ka­ti­ons­re­geln des § 209 Abs. 2 In­sO Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten. Kon­se­quenz der ge­setz­li­chen Ver­tei­lungs­ord­nung ist es, dass der In­sol­venz­ver­wal­ter, der kündi­gen „kann“, auch dafür zu sor­gen hat, dies rechts­wirk­sam zu tun. Es fällt in sei­nen Ver­ant­wor­tungs­be­reich, für ei­ne wirk­sa­me Um­set­zung der Vor­ga­ben des ge­setz­li­chen Kündi­gungs­schut­zes zu sor­gen (vgl. BAG 21. Ju­li 2005 - 6 AZR 592/04 - zu II 2 e der Gründe, BA­GE 115, 225). Die Neu­mas­se trägt das Ri­si­ko, dass ihm das nicht ge­lingt.

bb) Der Ge­setz­ge­ber hat darüber hin­aus für die Ab­gren­zung von Alt- und Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten an die „Kündi­gung“ des Dau­er­schuld­verhält­nis­ses an­ge­knüpft. Auch da­mit hat er deut­lich ge­macht, dass ei­ne wirk­sa­me Kündi­gung Vor­aus­set­zung ist, um Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten zu ver­mei­den.

(1) Nach dem ju­ris­ti­schen Sprach­ge­brauch ist die Kündi­gung ei­ne ein­sei­ti­ge rechts­geschäft­li­che emp­fangs­bedürf­ti­ge Wil­lens­erklärung, durch die ein Dau­er­schuld­verhält­nis nach dem Wil­len des Kündi­gen­den mit Wir­kung für die Zu­kunft be­en­det wird (Stau­din­ger/Oet­ker (2016) Vor­bem zu §§ 620 ff. Rn. 100; MüKoBGB/Hes­se 7. Aufl. Vor § 620 Rn. 1; Tilch/Ar­loth Deut­sches Rechts-

 

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Le­xi­kon 3. Aufl. Stich­wort: Kündi­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses; für das Ar­beits­verhält­nis: BAG 17. De­zem­ber 2015 - 6 AZR 709/14 - Rn. 31, BA­GE 154, 40; Schaub ArbR-HdB/Linck 17. Aufl. § 123 Rn. 1; KR/Grie­be­ling/Ra­chor 11. Aufl. § 1 KSchG Rn. 151). Die Kündi­gung hat rechts­ver­nich­ten­den Cha­rak­ter (BAG 21. März 2013 - 6 AZR 618/11 - Rn. 15; APS/Preis 5. Aufl. Grund­la­gen D. Rn. 3). Die­ses Be­griffs­verständ­nis deckt sich mit dem all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch, wo­nach die Kündi­gung die Lösung ei­nes Ver­trags ist (Du­den Das große Wörter­buch der deut­schen Spra­che 3. Aufl. Stich­wort: Kündi­gung).

(2) Nach dem Wort­sinn des Be­griffs der „Kündi­gung“ und der Ge­set­zes­sys­te­ma­tik genügt es zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nicht, nur ei­ne Kündi­gung zu erklären. Vor­aus­set­zung für die Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten ist viel­mehr auch der Er­folg die­ser Kündi­gungs­erklärung und da­mit die Be­en­di­gung des Dau­er­schuld­verhält­nis­ses spätes­tens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO fest­ge­leg­ten Ter­min. Der In­sol­venz­ver­wal­ter muss sich des­halb nicht nur ent­schei­den, ob er das Dau­er­schuld­verhält­nis mit Wir­kung für die Neu­mas­se fort­set­zen will. Es muss ihm auch ge­lin­gen, die­se Ent­schei­dung durch ei­ne wirk­sa­me Kündi­gung oder ei­nen an­de­ren Be­en­di­gungs­tat­be­stand spätes­tens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO ge­setz­ten Ter­min um­zu­set­zen. An­de­ren­falls tritt die von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO vor­aus­ge­setz­te Be­en­di­gung des Dau­er­schuld­verhält­nis­ses nicht ein. Das hat die Be­gründung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten zur Fol­ge.

(a) Bei Dau­er­schuld­verhält­nis­sen, die wie zum Bei­spiel Miet­verhält­nis­se über Ge­wer­beräume (vgl. da­zu BGH 3. April 2003 - IX ZR 101/02 - BGHZ 154, 358) kei­nen Be­stands­schutz auf­wei­sen, hat die Kündi­gung re­gel­haft den vom Ge­setz­ge­ber vor­aus­ge­setz­ten Be­en­di­gungs­er­folg.

(b) Es gibt kei­ner­lei An­halts­punk­te dafür, dass der Ge­setz­ge­ber im Rah­men des § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO dem Be­griff der Kündi­gung für be­stands­geschütz­te Dau­er­schuld­verhält­nis­se, wie es das Ar­beits­verhält­nis ist, ei­nen von die­ser Grund­re­gel ab­wei­chen­den Be­deu­tungs­ge­halt ge­ben und den durch die Kündi­gungs­erklärung do­ku­men­tier­ten bloßen Be­en­di­gungs­wil­len zur Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten genügen las­sen woll­te. Im Ge­gen­teil hat

 

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er in § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO jeg­li­che Dif­fe­ren­zie­rung nach der Art der Dau­er­schuld­verhält­nis­se un­ter­las­sen, ob­wohl er den be­son­de­ren ar­beits­recht­li­chen Be­stands­schutz er­kannt hat und die­sem in §§ 113 und 125 ff. In­sO Rech­nung ge­tra­gen hat (vgl. BAG 23. Fe­bru­ar 2005 - 10 AZR 602/03 - zu II 4 c der Gründe, BA­GE 114, 13).

cc) Die­ses Aus­le­gungs­er­geb­nis wird da­durch bestätigt, dass sich die Rechts­fol­gen ei­ner Kündi­gung, die der In­sol­venz­ver­wal­ter zum erstmögli­chen Ter­min nach der An­zei­ge der Mas­seun­zuläng­lich­keit un­ter­las­sen, al­so nicht erklärt hat, und ei­ner von ihm zum erstmögli­chen Ter­min erklärten, aber un­wirk­sa­men Kündi­gung nicht un­ter­schei­den. In bei­den Fällen be­steht das Ar­beits­verhält­nis auf­grund ei­nes Ver­hal­tens des In­sol­venz­ver­wal­ters über den erstmögli­chen Kündi­gungs­ter­min hin­aus zu Las­ten der Neu­mas­se fort (vgl. Ries NZI 2002, 521, 523). Sie hat da­her in bei­den Fällen glei­cher­maßen für die nach dem erstmögli­chen Kündi­gungs­ter­min ent­ste­hen­den An­nah­me­ver­zugs­ansprüche ein­zu­ste­hen.

c) Nach dem Wil­len des Ge­setz­ge­bers ist da­mit die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses spätes­tens zu dem von § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO ge­setz­ten Be­en­di­gungs­ter­min Vor­aus­set­zung für die Ver­mei­dung von Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten. Ei­ne Kündi­gung, die nach § 1 KSchG oder nach § 134 BGB un­wirk­sam ist, ver­hin­dert auch im Fall ih­rer Recht­zei­tig­keit die Ein­ord­nung von An­nah­me­ver­zugs­ansprüchen für die Zeit nach die­sem Be­en­di­gungs­ter­min als Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nicht.

5. Der Be­klag­te hätte des­halb das mit der Kläge­rin be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis spätes­tens zum 31. De­zem­ber 2012 wirk­sam kündi­gen müssen, um zu ver­mei­den, dass für die Fol­ge­zeit Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nach § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO ent­ste­hen. Dies ist ihm nicht ge­lun­gen. Die Un­wirk­sam­keit der Kündi­gun­gen vom 25. No­vem­ber 2011, 28. März und 23. Au­gust 2012 ist rechts­kräftig fest­ge­stellt. Ob das Ur­teil vom 7. März 2013 (- 4 Ca 1304/12 -), mit dem das Ar­beits­ge­richt Trier die Kündi­gung vom 23. Au­gust 2012 für un­wirk­sam erklärt hat, in­halt­lich grob falsch ist, wie der Be­klag­te vor­ge­tra­gen hat, ist für die in­sol­venz­recht­li­che Ver­tei­lungs­ord­nung in § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO eben-

 

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so un­er­heb­lich wie der Um­stand, dass die­ses Ur­teil rechts­kräftig ge­wor­den ist, weil der Be­klag­te die Be­ru­fungs­frist versäumt hat.

6. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Be­klag­ten steht die Frei­stel­lung der Kläge­rin der Ein­ord­nung der streit­be­fan­ge­nen An­nah­me­ver­zugs­ansprüche als Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten nicht ent­ge­gen. Hat wie hier der In­sol­venz­ver­wal­ter nicht recht­zei­tig (wirk­sam) gekündigt, gel­ten die An­nah­me­ver­zugs­ansprüche aus der Zeit nach dem ers­ten mögli­chen Kündi­gungs­ter­min auch dann als Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten iSv. § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 In­sO, wenn der Ver­wal­ter den Ar­beit­neh­mer frei­ge­stellt hat. § 209 Abs. 2 Nr. 2 In­sO wäre überflüssig, wenn Neu­mas­se­ver­bind­lich­kei­ten in ei­nem Dau­er­schuld­verhält­nis nur ent­ste­hen soll­ten, so­weit der Ver­wal­ter gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 3 In­sO die Ge­gen­leis­tung in An­spruch nimmt (BAG 23. Fe­bru­ar 2005 - 10 AZR 602/03 - zu II 4 c der Gründe, BA­GE 114, 13).

III. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Fi­scher­mei­er
Spel­ge
Hein­kel
D. Knauß
Au­gat

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