HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

BAG, Ur­teil vom 13.11.1969, 5 AZR 82/69

   
Schlagworte: Urlaub: Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Krankheit: Urlaub
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 5 AZR 82/69
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 13.11.1969
   
Leitsätze:

1. Der Urlaubsanspruch verfällt im Falle nicht zeitgerechter Geltendmachung dann nicht, wenn der Arbeitnehmer infolge langdauernder Arbeitsunfähigkeit daran gehindert war, den Urlaub vor Ablauf des Kalenderjahres bzw des Übergangszeitraums des BUrlG § 7 Abs 3 S 3 durchzuführen.

2. Der vorstehende Grundsatz gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet hat.

3. Im Falle der Unmöglichkeit der Urlaubsverwirklichung im Kalenderjahr infolge langdauernder Arbeitsunfähigkeit geht der Urlaub auf das folgende Kalenderjahr ohne Beschränkung auf die Dreimonatsfrist des BUrlG § 7 Abs 3 S 3 über.

4. In dem Selbstmordversuch eines Arbeitnehmers und der darauf beruhenden langdauernden Arbeitsunfähigkeit liegt keine grobe Verletzung der Treuepflicht aus dem Arbeitsverhältnis iS des BUrlG § 7 Abs 4 S 2.

Vorinstanzen: Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 9.12.1968, 2 Sa 111/68
   

5 AZR 82/69

2 Sa 111/68 Ham­burg

Verkündet

am 13. No­vem­ber 1969

Im Na­men es Vol­kes!


gez. Wein­rich,

Amts­in­spek­tor

als Ur­kunds­be­am­ter

der Geschäfts­stel­le 

Ur­teil

In Sa­chen

hat der Fünf­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf Grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 13. No­vem­ber 1969 durch den Se­nats­präsi­den­ten Dr. Schröder, die Bun­des­rich­ter Dr. Auf­farth und Si­a­ra so­wie die Bun­des­ar­beits­rich­ter Dr. Wolf und Döring für Recht er­kannt:


Die Re­vi­si­on des Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ham­burg vom 9. De­zem­ber 1968 - 2 Sa 111/68 - wird zurück­ge­wie­sen.

Der Be­klag­te trägt die Kos­ten des Ver­fah­rens.

Von Rechts we­gen!

- 2 - 


Tat­be­stand:



Die 47 Jah­re al­te Kläge­rin war ab 1. No­vem­ber 1966 für ein Mo­nats­ge­halt von 600,-- DM brut­to bei dem Be­klag­ten als Verkäufe­r­in tätig. Am 19. und 20. Mai 1967 fehl­te sie un­ent­schul­digt; sie mel­de­te sich am Mon­tag, dem 22. Mai 1967, ar­beits­unfähig krank. Von die­sem Zeit­punkt an war sie bis zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses un­un­ter­bro­chen ar­beits­unfähig. Nach der Be­schei­ni­gung des Arz­tes be­ruh­te die Er­kran­kung der Kläge­rin auf ei­nem Kreis­lauf­ver­sa­gen. An­fang Ja­nu­ar 1968 schick­te der Be­klag­te der Kläge­rin oh­ne Be­gleit­schrei­ben die Lohn­steu­er­kar­te und die An­ge­stell­ten­ver­si­che­rungs­kar­te per Post zu. Mit Schrei­ben vom 14. Mai 1968 kündig­te er der Kläge­rin das Ar­beits­verhält­nis zum 30. Ju­ni 1968.


Im vor­lie­gen­den Ver­fah­ren ver­langt die Kläge­rin die Ab­gel­tung ih­res Jah­res­ur­laubs für 1967 auf der Grund­la­ge ei­nes von ihr be­haup­te­ten Ur­laubs­an­spruchs in Höhe von 24 Ta­gen.

Sie hat be­an­tragt,
den Be­klag­ten zu ver­ur­tei­len, an sie 554,40 DM nebst 4 % Zin­sen seit dem 14. Mai 1968 zu zah­len.

Der Be­klag­te hat be­an­tragt,
die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Er hat die Ver­ein­ba­rung ei­nes Jah­res­ur­laubs von 24 Ta­gen, nicht je­doch die Rich­tig­keit der Be­rech­nung des Ab­gel­tungs­be­tra­ges be­strit­ten. Sei­ner An­sicht nach ist der Ur­laubs­an­spruch der Kläge­rin je­doch ver­fal­len, weil er ver­spätet, nämlich erst­mals mit Schrei­ben vom 21. Mai 1968 gel­tend ge­macht wor­den sei. Hin­sicht­lich der Ab­gel­tung sei fer­ner der Ver­fall­tat­be­stand des § 7 Abs. 4 Satz 2 BUrlG ge­ge­ben, weil An­laß für die lan­ge Er­kran­kung der Kläge­rin ein Frei­tod­ver­such ge­we­sen sei. Er hätte der Kläge­rin das Ar­beits­verhält­nis aus die­sem Grun­de - zu­dem noch we­gen des un­ent­schul­dig­ten Feh­lens am 19. und 20. Mai 1967 und we­gen der lan­gen Dau­er der Krank­heit - frist­los kündi­gen können. Das Ge­samt­ver­hal­ten der Kläge­rin sei auch als gro­be Treue­pflicht­ver­let­zung zu be­wer­ten. Ab­ge­se­hen da­von hält der Be­klag­te das Ab­gel­tungs­be­geh­ren der Kläge­rin für rechts­mißbräuch­lich.



- 3 -


Das Ar­beits­ge­richt hat der Kläge­rin ei­nen Ab­gel­tungs­an­spruch in Höhe von 408,60 DM auf der Grund­la­ge ei­nes Jah­res­ur­laubs von 18 Ta­gen zu­ge­spro­chen; den wei­ter­ge­hen­den Ab­gel­tungs­an­spruch hat es ab­ge­wie­sen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Be­ru­fung des Be­klag­ten ge­gen die­ses Ur­teil zurück­ge­wie­sen. Ge­gen sein Ur­teil hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt die Re­vi­si­on zu­ge­las­sen.


Mit der Re­vi­si­on ver­folgt der Be­klag­te das Ziel der Kla­ge­ab­wei­sung wei­ter.

Ent­schei­dungs­gründe:

Die Re­vi­si­on ist nicht be­gründet. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Rechts­la­ge in al­len Punk­ten zu­tref­fend be­ur­teilt.


1. Kei­nen recht­li­chen Be­den­ken be­geg­net zunächst die An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richts, die Kläge­rin ha­be die für den Er­werb des vol­len Ur­laubs­an­spruchs er­for­der­li­che War­te­zeit erfüllt (§§ 3-, 4 BUr1G). Die Re­vi­si­on greift in­so­weit das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts nicht an,

2. Der Ur­laubs­an­spruch der Kläge­rin für das Ka­len­der­jahr 1967 ist, wie das Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­tref­fend dar­ge­legt hat, auch nicht we­gen ver­späte­ter Gel­tend­ma­chung ver­fal­len. Die Kläge­rin hat das Ur­laubs­ver­lan­gen zwar, wie un­strei­tig ist, erst­mals am 21. Mai 1968 ge­genüber dem Be­klag­ten geäußert. Dies führt je­doch im vor­lie­gen­den Fall nicht zum Ver­lust jeg­li­chen Ur­laubs­an­spruchs für das Ka­len­der­jahr 1967, wie er sonst im Fal­le ei­nes ver­späte­ten Ur­laubs­ver­lan­gens ein­tritt; da­bei ist ein Ur­laubs­ver­lan­gen grundsätz­lich dann als ver­spätet an­zu­se­hen, wenn es erst nach Ab­lauf des Ka­len­der­jah­res vor­ge­bracht wird (Ur­teil des Se­nats vom 26. Ju­ni 1969 - 5 AZR 393/68 - zur Veröffent­li­chung in der Amt­li­chen Samm­lung be­stimmt). Denn die Kläge­rin war nach dem un­strei­ti­gen Sach­ver­halt ab Mai 1967 bis zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses (30. Ju­ni 1968) un­un­ter­bro­chen ar­beits­unfähig krank und da­mit aus Rechts­gründen ge­hin­dert, den Ur­laub bis zum Ab­lauf des Ka­len­der­jah­res - und auch des aus­nahms­wei­se
 

- 4 -


zulässi­gen Über­tra­gungs­zeit­raums (1. Ja­nu­ar bis 31. März des fol­gen­den Jah­res gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUr1G) - durch­zuführen; wie aus § 9 BUr1G zu fol­gern ist, darf Er­ho­lungs­ur­laub nämlich nicht in den Zeit­raum ei­ner be­ste­hen­den Ar­beits­unfähig­keit des Ar­beit­neh­mers ge­legt wer­den.

Die auf Krank­heits­gründen be­ru­hen­de Unmöglich­keit der Ur­laubs­ver­wirk­li­chung macht ein zeit­ge­rech­tes Ur­laubs­ver­lan­gen ent­behr­lich. Der Ar­beit­ge­ber muß, wenn ein Ar­beit­neh­mer ar­beits­unfähig krank ist, in al­ler Re­gel da­von aus­ge­hen, daß al­lein die Ar­beits­unfähig­keit den Ar­beit­neh­mer abhält, den Ur­laubs­an­spruch zeit­ge­recht gel­tend zu ma­chen. Mit ei­nem trotz der Ar­beits­unfähig­keit wei­ter­be­ste­hen­den Zwang zur zeit­ge­rech­ten Gel­tend­ma­chung ließe sich zu­dem das ge­setz­li­che Ziel der stren­gen Bin­dung der Ur­laubs­ver­wirk­li­chung an das Ka­len­der­jahr - nämlich auch den Ar­beit­neh­mer zur Er­ho­lung im re­gelmäßigen Jah­res­rhyth­mus zu ver­an­las­sen (BAG aa0) - nicht mehr er­rei­chen; ei­ne lang­dau­ern­de Er­kran­kung stört un­ver­meid­bar die Er­rei­chung die­ses Zie­les. Ei­ner zeit­ge­rech­ten Äußerung des Ur­laubs­ver­lan­gens während an­dau­ern­der Ar­beits­unfähig­keit be­darf es auch nicht et­wa an­ge­sichts des ge­setz­li­chen Er­for­der­nis­ses, den Ur­laub selbst bei Vor­lie­gen drin­gen­der be­trieb­li­cher oder in der Per­son des Ar­beit­neh­mers ge­ge­be­ner Gründe spätes­tens in den ers­ten drei Mo­na­ten des fol­gen­den Jah­res durch­zuführen (§ 7 Abs. 1 BUrlG). Denn die ge­setz­li­che Über­tra­gungs­re­ge­lung geht von dem Nor­mal­fall aus, daß die Ur­laubs­ver­wirk­li­chung in der Zeit bis zum 31. März des Nach­jah­res an sich recht­lich möglich wäre, je­doch durch die ge­nann­ten Gründe er­heb­lich er­schwert ist. Sie hat aber nicht den hier ge­ge­be­nen Fall im Au­ge, daß die Ver­wirk­li­chung des Ur­laubs im Ka­len­der­jahr und im Über­tra­gungs­zeit­raum we­gen der be­ste­hen­den Krank­heit, al­so aus nicht zu be­he­ben­den Gründen unmöglich ge­we­sen ist. Hier voll­zieht sich nicht im Sin­ne des § 7 Abs. 3 BUr1G ei­ne - von be­stimm­ten Erklärun­gen bzw. vom Ver­hal­ten der Be­tei­lig­ten be­ein­flußte - Über­tra­gung des Ur­laubs auf das ers­te Vier­tel­jahr des Nach­jah­res, son­dern
 


- 5 -


kraft der ge­ge­be­nen Umstände un­ver­meid­bar und da­mit au­to­ma­tisch der Über­gang des Ur­laubs auf ei­nen späte­ren Zeit­raum, der da­mit auch nicht al­lein auf die ers­ten drei Mo­na­te des Nach­jah­res be­schränkt sein kann. Da­bei gibt der vor­lie­gen­de Fall kei­nen An­laß, die Fra­ge zu erörtern, ob der un­ver­meid­ba­re Über­gang des Ur­laubs nur auf das ge­sam­te fol­gen­de Ka­len­der­jahr be­schränkt ist und der Ur­laubs­an­spruch nach des­sen Ab­lauf bei fort­be­ste­hen­der Unmöglich­keit sei­ner Ver­wirk­li­chung da­nach in ei­nen Ab­gel­tungs­an­spruch über­geht.


An die­sen Rechts­grundsätzen ändert sich nichts, wenn man ent­spre­chend dem Vor­brin­gen des Be­klag­ten da­von aus­zu­ge­hen hätte, die Kläge­rin ha­be die Ar­beits­unfähig­keit selbst - nämlich durch ei­nen Frei­tod­ver­such - her­bei­geführt und auch ver­schul­det. Denn durch vom Ar­beit­neh­mer ver­schul­de­te Fehl­zei­ten wird der Um­fang des ge­setz­li­chen Min­des­t­ur­laubs nicht berührt (BAG AP Nr. 13 zu § 611 BGB Ur­laubs­recht); ei­ner Min­de­rung des Min­des­t­ur­laubs käme es aber gleich, wenn dem Ar­beit­ge­ber ge­stat­tet würde, den Ur­laubs­t­er­min in vom Ar­beit­neh­mer ver­schul­de­te Fehl­zei­ten zu le­gen (Dersch-Neu­mann, BUr1G, 3. Aufl., § 9 Anm. 7; Boldt-Röhs­ler, BUr1G, § 9 Anm.-36, je­weils mit wei­te­ren Nach­wei­sen).

3. Der recht­li­chen Nach­prüfung hält auch die wei­te­re - von der Re­vi­si­on in ers­ter Li­nie bekämpf­te - An­nah­me des Lan­des­ar­beits­ge­richts stand, der Ur­laubs­ab­gel­tungs­an­spruch der Kläge­rin wer­de nicht von dem be­son­de­ren Ver­fall­tat­be­stand des § 7 Abs. 4 Satz 2 BUr1G er­faßt. Nach die­ser Vor­schrift geht der Ar­beit­neh­mer u.a. des Ab­gel­tungs­an­spru­ches ver­lus­tig, wenn er durch ei­ge­nes Ver­schul­den aus ei­nem Grund ent­las­sen wor­den ist, der ei­ne frist­lo­se Ent­las­sung recht­fer­tigt, und in die­sem Fal­le ei­ne gro­be Ver­let­zung der Treue­pflicht aus dem Ar­beits­verhält­nis vor­liegt. Es ist be­reits frag­lich, ob der - vom Lan­des­ar­beits­ge­richt un­ter­stell­te - Selbst­mord­ver­such der Kläge­rin für sich al­lein ei­nen wich­ti­gen ver­schul­de­ten Grund zur frist­lo­sen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses bil­det. Selbst aber wenn man dies be­ja­hen woll­te, ließe sich das Ver­hal­ten der Kläge­rin nicht als gro­ber Treue­bruch im Sin­ne
 

- 6 -


des § 7 Abs. 4 Satz 2 BUr1G be­wer­ten. Denn ein sol­cher Treue­bruch setzt vor­aus, daß das zu be­an­stan­den­de Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers ge­gen den Ar­beit­ge­ber ge­rich­tet ist und er­heb­lich über das hin­aus­geht, was zur An­nah­me ei­nes die frist­lo­se Ent­las­sung recht­fer­ti­gen­den wich­ti­gen Grun­des genügt (BAG vom 27. Fe­bru­ar 1969 - 5 AZR 206/68 - demnächst in AP Nr. 4 zu § 4 BUr1G Ab­gel­tung). Da­von kann kei­ne Re­de bei ei­nem Selbst­mord­ver­such sein, der nach der ei­ge­nen Dar­stel­lung des Be­klag­ten sei­ne Ur­sa­che in ehe­li­chen Zwis­tig­kei­ten hat­te.


4. Oh­ne Rechts­irr­tum und in­so­weit oh­ne Be­an­stan­dung der Re­vi­si­on hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt schließlich dar­ge­legt, daß das Ur­laubs­ver­lan­gen der Kläge­rin nicht et­wa we­gen des Mißverhält­nis­ses zwi­schen tatsäch­li­cher Ar­beit im Jah­re 1967 und be­an­spruch­tem Ur­laub­s­um­fang rechts­mißbräuch­lich sei.


Die Re­vi­si­on war so­weit mit der Kos­ten­fol­ge aus § 97 ZPO zurück­zu­wei­sen.

gez. Dr. Schröder 

Dr. Auf­farth 

Si­a­ra

Dr. K. Wolf 

Döring

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 


zur Übersicht 5 AZR 82/69