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ArbG Kiel, Ur­teil vom 19.06.2015, 2 Ca 165 a/15

   
Schlagworte: Mindestlohn, Behinderte, Mindestlohn: Ausnahmen, Behindertenwerkstatt
   
Gericht: Arbeitsgericht Kiel
Aktenzeichen: 2 Ca 165 a/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 19.06.2015
   
Leitsätze:

1. Die Unterscheidung zwischen einem Werkstattverhältnis (arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis) und einem Arbeitsverhältnis erfolgt nicht nach dem Maß der Weisungsgebundenheit, sondern danach, ob die wirtschaftlich verwertbare Leistung oder der Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX (Teilhabe am bzw. Eingliederung in das Arbeitsleben) im Vordergrund steht.

 

2. Im Regelfall werden in einer Werkstatt für schwerbehinderte Menschen diese im Rahmen eines Werkstattverhältnisses tätig.

 

3. In § 22 Abs. 1 MiLoG wird bezogen auf schwerbehinderte Menschen in entsprechenden Werkstätten der allgemeine Arbeitnehmerbegriff vorausgesetzt. Damit gilt der Mindestlohn nicht für im Rahmen eines Werkstattverhältnisses Tätige.

 

Vorinstanzen: nachgehend:
Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 11.01.2016, 1 Sa 224/15
   

Ar­beits­ge­richt Kiel

Ak­ten­zei­chen: ö.D. 2 Ca 165 a/15
(Bit­te bei al­len Schrei­ben an­ge­ben!)

Verkündet am 19. Ju­ni 2015

 

gez. ...
als Ur­kunds­be­amt. d. Geschäfts­stel­le

 

Ur­teil

Im Na­men des Vol­kes

 

In dem Rechts­streit

 

pp.

 

hat die 2. Kam­mer des Ar­beits­ge­richts Kiel auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 19. Ju­ni 2015 durch den Rich­ter am Ar­beits­ge­richt ... als Vor­sit­zen­den und d. eh­ren­amt­li­chen Rich­ter ... als Bei­sit­zer und d. eh­ren­amt­li­chen Rich­ter ... als Bei­sit­zer

für Recht er­kannt:

 

  1. Die Kla­ge wird ab­ge­wie­sen.
  2. Der Kläger trägt die Kos­ten des Rechts­streits.
  3. Der Streit­wert wird auf EUR 10.159,58 fest­ge­setzt.
  4. Die Be­ru­fung wird nicht ge­son­dert zu­ge­las­sen.

 

- 2 -

Rechts­mit­tel­be­leh­rung

[...]

 

- 3 -

[...]

 

Tat­be­stand

 

1

Die Par­tei­en strei­ten um an­ge­mes­se­ne Vergütung des Klägers aus ei­nem - strei­ti­gen - Ar­beits­verhält­nis für das Jahr 2014 so­wie über die Zah­lung von Min­dest­lohn für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015.

2

Der mit ei­nem GdB von 70 % schwer­be­hin­der­te Kläger be­zieht ei­ne Ren­te we­gen vol­ler Er­werbs­min­de­rung. Zum Be­treu­er ist zum ei­nen der im Ru­brum er­sicht­li­che M. O. so­wie des Wei­te­ren als Ergänzungs­be­treue­rin Rechts­anwältin B. H., R., be­stellt.

3

Der am ...1975 ge­bo­re­ne Kläger lebt seit Au­gust 2013 al­lein und nimmt un­terstüt­zend am­bu­lan­te Be­treu­ung in An­spruch.

4

Der Kläger ist seit dem 15. Au­gust 1994 auf Grund­la­ge ei­nes Werk­statt­ver­trags in der Werk­statt M... des be­klag­ten Hilfs­werks tätig. Die Werk­statt M... ist ei­ne Ein­rich­tung zur Teil­ha­be und Ein­glie­de­rung am bzw. in das iSd. § 136 Abs.1 SGB IX.

5

Der Kreis Rens­burg Eckernförde hat als Träger der Ein­glie­de­rungs­hil­fe für be­hin­der­te Men­schen mit Be­scheid vom 31. Ju­li 2014 die Über­nah­me der Kos­ten für die teils­ta­ti­onäre Be­treu­ung des Klägers durch die Werk­statt M... für den Zeit­raum bis zum 30. Ju­ni 2015 erklärt. Auf den Be­scheid (Anl. 3 des Be­klag­ten­schrift­sat­zes vom 23. Feb­ru­ar 2015 - Bl. 38 f. dA.) wird ver­wie­sen. Grund­la­ge des Be­scheids ist der Ent­wick­lungs­be­richt vom 29. April 2014/22. Mai 2014. Der Be­richt en­det mit fol­gen­der zu­sam­men­fas­sen­der Stel­lung­nah­me und ab­sch­ließen­den Be­mer­kun­gen:

6

„Die Grund­la­gen zum Ver­bleib in ei­ner Werk­statt für be­hin­der­te Men­schen sind ge­ge­ben, Herrn H... ge­lingt es, ein Min­dest­maß an wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Ar­beit zu er­brin­gen. Ei­ne außer­gewöhn­li­che Pfle­ge­bedürf­tig­keit liegt nicht vor. Herrn H... ge­lingt es nach wie vor, durch die Be­reit­stel­lung rou­ti­nier­ter Tätig­kei-

 

- 4 -

ten und verläss­li­cher Struk­tu­ren im Ar­beits­be­reich sei­ner Grup­pe, ei­ne ver­gleich­bar ho­he Ar­beits­leis­tung zu er­brin­gen. Er zeigt sich stets mo­ti­viert, sei­ne Fähig­kei­ten und Kom­pe­ten­zen ein­zu­brin­gen, und auch Neu­es zu er­ler­nen. Im persön­li­chen Be­reich, in Be­zug auf sein all­ge­mei­nes Auf­tre­ten und sein Selbst­be­wusst­sein, ist ei­ne po­si­ti­ve Ent­wick­lung deut­lich zu be­ob­ach­ten. Wir befürwor­ten da­her die wei­te­re ar­beitspädago­gi­sche Be­glei­tung und Förde­rung des Herrn H... im Ar­beits­be­reich des M..., Werk­statt für be­hin­der­te Men­schen.“

7

Kon­kret wur­de der Kläger in der Ar­beits­grup­pe Gemüse­bau ein­ge­setzt. Er ist im Be­sitz ei­nes Führer­scheins. Ne­ben dem Ein­satz im Gemüse­an­bau und der Ver­pa­ckung be­steht sei­ne Auf­ga­be dar­in, zwei­mal wöchent­lich, nach ei­ner ihm be­kann­ten fes­ten Tour so­ge­nann­te Abo-Kis­ten („M...käfer­kis­ten“) aus­zu­lie­fern. Er führt die­se Tour selbstständig durch, je­doch nach sehr in­ten­si­ver Ein­wei­sung. Ei­ne kurz­fris­ti­ge Ver­ände­rung der Tour kann der Kläger oh­ne er­neu­te in­ten­si­ve Ein­wei­sung nicht um­set­zen. Auf den Tou­ren lie­fert der Kläger die von ihm befüll­ten M...käfer­kis­ten aus und nimmt lee­re Kis­ten ent­ge­hen. In die­sem Um­fang hat der Kläger auch Kon­takt zu den Kun­den.

8

Grund­la­ge des Ver­trags­verhält­nis­ses der Par­tei­en ist der Werk­statt­ver­trag vom 10. De­zem­ber 2013/17. Ja­nu­ar 2014. In­so­weit wird auf An­la­ge K2 der Kla­ge­schrift ver­wie­sen (Bl. 7 ff. dA.). Der Kläger be­zieht ei­ne Vergütung nach Lohn­stu­fe 9 der im Werk­statt­ver­trag in Be­zug ge­nom­me­nen Ent­gel­t­ord­nung, die ih­rer­seits wie­der­um auf § 138 Abs. 2 SGB IX fußt. Er be­zieht ei­ne Net­to­vergütung von EUR 216,75 und ar­bei­tet 38,5 St­un­den in der Wo­che.

9

Der Kläger ist der Auf­fas­sung, dass er Ar­beit­neh­mer sei. Er er­zie­le mit ei­nem Stun­den­satz von EUR 1,49 ei­ne sit­ten­wid­ri­ge Vergütung. Der an­ge­mes­se­ne St­un­den­satz be­tra­ge auch un­ter Berück­sich­ti­gung der Be­son­der­hei­ten min­des­tens EUR 6,--. Auf­grund der Persönlich­keits­ent­wick­lung des Klägers ha­be sich das ar­beit­neh­merähn­li­che Ar­beits­verhält­nis in ein Ar­beit­neh­mer­verhält­nis um­ge­wan­delt. Aus den Be­ur­tei­lun­gen des Klägers wer­de er­sicht­lich, dass er sei­ne Leis­tungsfähig­keit und sei­ne Persönlich­keit ver­bes­sert ha­be. Das Gut­ach­ten aus dem Jahr 1984 sei ob­so­let. Der Kläger sei Leis­tungs­träger. Da der Kläger Ar­beit­neh­mer sei, gel­te für ihn das Min-dest­l­ohn­ge­setz und da­mit ein St­un­den­satz von EUR 8,50 ab Ja­nu­ar 2015.

 

- 5 -

10

Der Kläger be­an­tragt,

11

die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger EUR 10.159,58 nebst fünf Pro­zent­punk­ten Zin­sen über dem Ba­sis­zins­satz seit dem 11. Fe­bru­ar 2015 zu zah­len.

12

Das be­klag­te Hilfs­werk be­an­tragt,

13

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

14

Das be­klag­te Hilfs­werk hält die Kla­ge für un­be­gründet, da der Kläger in ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Ver­trags­verhält­nis stünde und da­mit nur die - auch ord­nungs­ge­mäß ge­zahl­te - Vergütung nach § 138 Abs. 2 SGB IX ver­lan­gen könne. Die­se sei nicht sit­ten­wid­rig. In­so­fern könne kei­ne an­ge­mes­se­ne Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB ver­langt wer­den, zu­mal die Be­rech­nungs­grund­la­gen be­strit­ten würden. Das Min­dest­l­ohn­ge­setz fin­de auf das Ver­trags­verhält­nis der Par­tei­en eben­falls kei­ne An­wen­dung. Die­ses gel­te gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 Mi­LoG nur für Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer, was der Kläger nicht sei. Er sei nicht in der La­ge, bei­spiels­wei­se als Fah­rer auf dem frei­en Ar­beits­markt ein­ge­setzt wer­den. Noch am 5. Mai 2014 ha­be der Be­treu­er des Klägers ihn als förde­rungs­bedürf­tig iSv. § 136 Abs. 1 Satz 2 SGB IX an­ge­se­hen. Da­mit ste­he beim Kläger die Be­treu­ung und Förde­rung und nicht die Ar­beits­leis­tung im Vor­der­grund.

15

Im Übri­gen wird hin­sicht­lich der Ein­zel­hei­ten des Sach- und Streit­stan­des auf die Schriftsätze, Un­ter­la­gen und Pro­to­kol­le ver­wie­sen.

 

- 6 -

 

Ent­schei­dungs­gründe

 

16

A. Die aus­zu­le­gen­de Kla­ge ist un­be­gründet.

17 I. Der Zah­lungs­an­trag ist da­hin­ge­hend aus­zu­le­gen, dass der Kläger ei­ne Vergü­tung als Ar­beit­neh­mer be­gehrt. Er be­ruft sich durchgängig auf den Be­stand ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses und die dar­aus ab­leit­ba­ren Fol­gen für die an­ge­mes­se­ne Ar­beits­vergütung, die hier gel­tend ge­macht wird. Nicht da­ge­gen Ge­gen­stand ist ei­ne Vergütung als ar­beit­neh­merähn­li­cher Mit­ar­bei­ter iSd. § 138 Abs. 2 SGB IX. Es han­delt sich in­so­weit nicht um ei­ne Ein­grup­pie­rungs­kla­ge mit dem Ziel, ei­ne an­de­re Ein­grup­pie­rung iSd. Lohn­ord­nung des be­klag­ten Hilfs­werks für schwer­be­hin­der­te Men­schen zu er­rei­chen. Dies er­gibt sich be­reits dar­aus, dass der Kläger kei­ner­lei Sach­vor­trag zur ord­nungs­gemäßen Ein­grup­pie­rung leis­tet. Der Kla­ge kann nicht ein­mal ent­nom­men wer­den, dass der Kläger der Auf­fas­sung ist, ihm stünde un­ter Zu­grun­de­le­gung der Lohn­ord­nung ei­ne höhe­re Vergütung zu.
18 II. Die Kla­ge ist un­be­gründet. Der Kläger hat we­der für das Jahr 2014 An­spruch auf ei­ne an­ge­mes­se­ne Vergütung im Sin­ne von § 612 Abs. 2 BGB (1.) noch auf Min­dest­lohn im Sin­ne von § 1 Mi­LoG für den Mo­nat Ja­nu­ar 2015 (2.).
19

1. Der Kläger hat kei­nen An­spruch auf die Zah­lung ei­ner an­ge­mes­se­nen Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB.

20

a) Es kann da­hin­ste­hen, ob § 612 Abs. 2 BGB auch für ar­beit­neh­merähn­li­che Dienst­verträge An­wen­dung fin­det. Vor­aus­set­zung ist in je­dem Fal­le, dass ei­ne Ver­gütung ver­tragsmäßig nicht be­stimmt ist, sei es, dass ei­ne Ver­ein­ba­rung da­zu ge­ne­rell fehlt oder dass die Vergütungs­ab­re­de sit­ten­wid­rig ist.

21

b) Zwi­schen den Par­tei­en be­steht ei­ne Vergütungs­ver­ein­ba­rung im dem Ver­trags­verhält­nis zu­grun­de­lie­gen­den Werk­statt­ver­trag. Die­se ist nicht sit­ten­wid­rig. Sie be­ruht un­strei­tig auf den Grundsätzen des § 138 Abs. 2 SGB IX und da­mit auf ge­setz­li­cher Grund­la­ge. Die­se Re­ge­lung fin­det zwi­schen den Par­tei­en An­wen­dung, weil der

 

- 7 -

Kläger beim be­klag­ten Hilfs­werk in ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Rechts­verhält­nis und nicht in ei­nem Ar­beits­verhält­nis steht.

22

aa) Die Un­ter­schei­dung zwi­schen ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Rechts­verhält­nis iSd. §§ 136 ff. SGB IX und ei­nem Ar­beits­verhält­nis er­folgt nicht nach dem Maß der persönli­chen Wei­sungs­ge­bun­den­heit.

23

(1) Im Ge­gen­satz zu ei­nem Ar­beits­verhält­nis, wel­ches ein Aus­tausch­verhält­nis zwi­schen wei­sungs­ge­bun­de­ner Ar­beit und Vergütung ist, kommt in ei­nem Werk­statt­verhält­nis als maßgeb­li­cher zusätz­li­cher As­pekt noch die Be­treu­ung und An­lei­tung des schwer­be­hin­der­ten Men­schen hin­zu. Ei­ne Werk­statt für be­hin­der­te Men­schen ist gemäß § 136 Abs. 1 S. 1 SGB IX ei­ne Ein­rich­tung zur Teil­ha­be be­hin­der­ter Men­schen am Ar­beits­le­ben und zur Ein­glie­de­rung in das sel­bi­ge. Sie stellt ein An­ge­bot für be­hin­der­te Men­schen dar, die auf­grund ih­rer Be­hin­de­rung nicht auf dem all­ge­mei­nen Ar­beits­markt beschäftigt wer­den können, die­se den­noch zu ei­nem ih­rer Leis­tung an­ge­mes­se­nen Ar­beits­ent­gelt aus dem Ar­beits­er­geb­nis zu beschäfti­gen. Gleich­zei­tig dient das Ver­trags­verhält­nis der Er­hal­tung und/oder Ent­wick­lung der persönli­chen Leis­tungs- und/oder Er­werbsfähig­keit.

24

(2) Da­bei ist der Um­stand, dass ein schwer­be­hin­der­ter Mensch ein Min­dest­maß an wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Ar­beits­leis­tung er­bringt, kein Kenn­zei­chen für ein Ar­beits­verhält­nis, son­dern Auf­nah­me­vor­aus­set­zung für die Werk­statt nach § 136 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Ein Ar­beits­verhält­nis liegt erst dann vor, wenn der schwer­be­hin­der­te Mensch wie ein Ar­beit­neh­mer auch in quan­ti­ta­ti­ver Hin­sicht wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Leis­tun­gen er­bringt, al­so der Haupt­zweck sei­ner Beschäfti­gung das Er­brin­gen wirt­schaft­lich ver­wert­ba­rer Leis­tung ist und nicht der vor­ge­nann­te Zweck des § 136 Abs. 1 SGB IX im Vor­der­grund steht (LAG Ba­den-Würt­tem­berg 26. Ja­nu­ar 2009 - 9 Sa 60/08 – II 1 a der Gründe, ju­ris).

25

(3) Aus § 138 Abs. 1 SGB IX er­gibt sich, dass im Re­gel­fall schwer­be­hin­der­te Men­schen im Ar­beits­be­reich an­er­kann­ter Werkstätten in ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Rechts­verhält­nis ste­hen. Aus­nahms­wei­se können sie auch im Rah­men ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses tätig wer­den, wenn trotz Ein­glie­de­rung in ei­ne Werk­statt für be­hin-

 

- 8 -

der­te Men­schen die wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Ar­beits­leis­tung im Vor­der­grund steht. (LAG Ba­den-Würt­tem­berg wie vor).

26

bb) Da­nach hat der Kläger kei­ne aus­nahms­wei­se be­ste­hen­de Ar­beit­neh­mer­ei­gen­schaft dar­ge­legt.

27

(1) Im Ge­gen­teil, ge­gen ei­ne wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Ar­beits­leis­tung als Schwer­punkt des Ver­trags­verhält­nis­ses spricht ne­ben der so­zi­al­ver­si­che­rungs­recht­lich fest­ge­stell­ten Er­werbs­unfähig­keit auch aus­drück­lich der ak­tua­li­sier­te Ent­wick­lungs­be­richt, wo­nach der Kläger ge­ra­de der wei­te­ren ar­beitspädago­gi­schen Be­glei­tung und Förde­rung be­darf. Dies ist auch Grund­la­ge für den Kos­tenüber­nah­me­be­scheid des Krei­ses Rends­burg-Eckernförde. Würde der Kläger ei­ne wirt­schaft­lich tragfähi­ge Ar­beits­leis­tung er­brin­gen, bedürf­te es ei­ner sol­chen Ein­glie­de­rungs­hil­fe nicht. An­halts­punk­te dafür, dass das be­klag­te Werk zur Ge­winn­ma­xi­mie­rung schwer­be­hin­der­te Men­schen wie Ar­beit­neh­mer ein­setzt, un­zu­rei­chend vergütet und gleich­zei­tig staat­li­che Ein­glie­de­rungs­hil­fen in An­spruch nimmt, exis­tie­ren nicht. Im Übri­gen dis­kre­di­tiert dies die vom be­klag­ten Hilfs­werk seit Jahr­zehn­ten vor­ge­nom­me­ne Be­hin­der­te­n­ar­beit. Es beschäftigt im Be­reich des M... aus­sch­ließlich für die Auf­ga­ben des § 136 SGB IX ei­gens aus­ge­bil­de­te Mit­ar­bei­ter.

28

(2) An­halts­punk­te dafür, dass der Kläger über das Nor­mal­maß der Ar­beits­leis­tung schwer­be­hin­der­ter Men­schen hin­aus wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Ar­beits­leis­tung er­bringt, hat der Kläger trotz ent­spre­chen­der Auf­la­ge im Güte­ter­min nicht vor­ge­tra­gen. Dass der Kläger gu­te und an­er­kann­te Ar­beits­leis­tun­gen im Rah­men sei­ner Möglich­kei­ten er­bracht hat und er­bringt, steht außer Fra­ge.

29

2. Der Kläger hat kei­nen An­spruch auf Min­dest­lohn iSv. § 1 Mi­LoG.

30

a) Das Min­dest­l­ohn­ge­setz fin­det gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 Mi­LoG An­wen­dung für Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­neh­mer und setzt den all­ge­mei­nen ar­beits­recht­li­chen Ar­beit­neh­mer­be­griff vor­aus. Da­nach können ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen kei­nen Min­dest­lohn be­an­spru­chen (ErfK/Fran­zen 15. Auf­la­ge Mi­LoG § 22 Rn.1; Rie-

 

- 9 -

chert/Nim­mer­jahn Mi­LoG § 22 Rn.13; Hil­gen­stock Mi­LoG A II 1 a aa: „Ein­heit­li­cher Ar­beit­neh­mer­be­griff“; Lak­ies Mi­LoG § 22 Rn. 3: „All­ge­mei­ne Ab­gren­zungs­kri­te­ri­en“).

31

aa) Für die­ses Aus­le­gungs­er­geb­nis kann auf den Wort­laut des § 22 Abs. 1 Satz 1 Mi­LoG nicht zurück­ge­grif­fen wer­den. Der Ar­beit­neh­mer­be­griff wird dort nicht näher um­schrie­ben, viel­mehr wird der Be­griff vor­aus­ge­setzt.

32

bb) Aus sys­te­ma­ti­schen Erwägun­gen um­fasst der Ar­beit­neh­mer­be­griff des § 22 Abs. 1 Satz 1 Mi­LoG nicht ar­beit­neh­merähn­li­che Rechts­verhält­nis­se iSd. § 138 Abs. 1 SGB IX. Ge­gen ein wei­tes Verständ­nis spricht be­reits der § 22 Abs. 1 S. 2 Mi­LoG, wo­nach Prak­ti­kan­ten – die un­ter Zu­grun­de­le­gung des all­ge­mei­nen Ar­beit­neh­mer­be­griffs fall­wei­se be­reits als Ar­beit­neh­mer an­zu­se­hen wären – ei­ne ei­ge­ne aus­drück­li­che Re­ge­lung er­fah­ren. Ent­schei­dend ge­gen ei­ne Er­stre­ckung auf ar­beit­neh­merähn­li­che Rechts­verhält­nis­se spricht je­doch die ei­genständi­ge Vergütungs­re­ge­lung für in Werkstätten für be­hin­der­te Men­schen in § 138 Abs. 2 SGB IX. Die­se Re­ge­lung wäre oh­ne An­wen­dungs­be­reich, wenn Werk­statt­verhält­nis­se un­ter § 22 Abs. 1 Satz 1 Mi­LoG fie­len, da sich ein St­un­den­satz auch nur in der Nähe von EUR 8,50 un­ter Zu­grun­de­le­gung der Sys­te­ma­tik des § 138 Abs. 2 SGB IX nicht er­gibt. In­so­weit be­inhal­tet § 138 Abs. 2 SGB IX ei­ne spe­zi­el­le­re Re­ge­lung (lex spe-cia­lis), was ge­gen ein über den all­ge­mei­nen Ar­beit­neh­mer­be­griff hin­aus­ge­hen­des Verständ­nis des Ar­beit­neh­mers in § 22 Abs. 1 S. 1 Mi­LoG aus­sch­ließt.

33

cc) Auch bei Aus­le­gung nach dem Norm­zweck er­gibt sich kein er­wei­ter­ter Ar­beit­neh­mer­be­griff in § 22 Ab­satz 1 S. 1 Mi­LoG. Der ge­setz­li­che Min­dest­lohn soll Ar­beit­neh­mer vor Nied­riglöhnen schützen und exis­tenz­si­chern­de Ar­beits­ent­gel­te si­chern. Dies setzt al­ler­dings re­guläre Aus­tausch­verhält­nis­se zwi­schen Ar­beits­leis­tung und Ent­gelt vor­aus und um­fasst nicht so­zi­al­staat­li­che und so­zi­al­ver­si­che­rungs­recht­li­che Auf­ga­ben zur Teil­ha­be von schwer­be­hin­der­ten Men­schen un­ter an­de­rem am Ar­beits­le­ben. Da für ein Werkstätten­verhält­nis die so­zia­le Be­treu­ung und An­lei­tung von ent­schei­den­der Be­deu­tung ist, muss die­ser As­pekt bei der Fin­dung der an­ge­mes­se­nen Vergütung für schwer­be­hin­der­te Men­schen in Werkstätten berück­sich­tigt wer­den. Hierfür sind die Re­geln für ei­ne zwei­po­li­ge Be­wer­tung (Ar­beit ge­gen Vergütung) nicht ge­eig­net.

 

- 10 -

34 b) Der Kläger steht dem­nach wie be­reits un­ter 1. aus­geführt in ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Werk­statt­verhält­nis mit dem be­klag­ten Hilfs­werk und ist kein Ar­beit­neh­mer iSd. § 22 Abs. 1 Satz 1 Mi­LoG.
35 B. Die Kos­ten­ent­schei­dung be­ruht auf § 91 ZPO, die Streit­wer­tent­schei­dung auf §§ 3 ff. ZPO. An­ge­sichts der in Li­te­ra­tur und Recht­spre­chung völlig un­strei­ti­gen Ein­ord­nung des Werk­statt­verhält­nis­ses von schwer­be­hin­der­ten Men­schen als in der Re­gel ar­beit­neh­merähn­li­ches Rechts­verhält­nis war die Be­ru­fung nicht ge­son­dert zu­zu­las­sen. Ei­ne grundsätz­li­che Be­deu­tung der Rechts­sa­che iSv. § 64 Abs. 3 Ziff. 1 ArbGG ist nicht ge­ge­ben. Das Ge­richt folgt un­ein­ge­schränkt der ein­heit­li­chen Recht­spre­chung und Li­te­ra­tur.

 

gez. …

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