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Min­dest­lohn für Schwer­be­hin­der­te

Be­hin­der­te Men­schen, die in ei­ner Be­hin­der­ten­werk­statt ar­bei­ten, ha­ben in der Re­gel kei­nen An­spruch auf den Min­dest­lohn: Ar­beits­ge­richt Kiel, Ur­teil vom 19.06.2015, 2 Ca 165a/15
Hunderteuroscheine Sind 1,49 EUR ge­nug für ei­nen be­hin­der­ten Werk­statt­mit­ar­bei­ter?

26.10.2015. Seit Ja­nu­ar 2015 gilt in Deutsch­land der all­ge­mei­ne Min­dest­lohn nach dem Min­dest­l­ohn­ge­setz (Mi­LoG).

Nach § 1 Abs.1 Mi­LoG ha­ben al­le Ar­beit­neh­mer ei­nen An­spruch auf ein Ar­beits­ent­gelt in Hö­he des Min­dest­lohns. Die­ser be­trägt, so § 1 Abs.2 Mi­LoG, ab An­fang 2015 pro St­un­de 8,50 EUR brut­to.

Von dem Min­dest­lohn gibt es al­ler­dings ei­ni­ge Aus­nah­men. So kön­nen un­ter an­de­rem Lang­zeit­ar­beits­lo­se und Aus­zu­bil­den­de kei­nen Min­dest­lohn ver­lan­gen.

Das Ar­beits­ge­richt Kiel hat jetzt ent­schie­den, dass auch Be­hin­der­te, die in Be­hin­der­ten­werk­stät­ten tä­tig wer­den, kei­nen An­spruch auf den all­ge­mei­nen Min­dest­lohn ha­ben: Ar­beits­ge­richt Kiel, Ur­teil vom 19.06.2015, 2 Ca 165a/15.

 

 

Wer erhält den all­ge­mei­nen Min­dest­lohn?

Gemäß §§ 1 Abs.1 und 2, 22 Min­dest­l­ohn­ge­setz (Mi­LoG) können al­le Ar­beit­neh­mer, die in Deutsch­land ar­bei­ten, ei­nen ge­setz­li­chen Min­dest­lohn von 8,50 EUR brut­to pro St­un­de ver­lan­gen.  

Nach der Recht­sp­re­chung ist ei­ne Per­son ein Ar­beit­neh­mer, wenn auf ihn drei Merk­ma­le zu­tref­fen:

  • er wird auf­grund ei­nes pri­vat­recht­li­chen Ver­trags tätig,
  • er ver­pflich­tet sich zur Leis­tung von Diens­ten,
  • er ist von sei­nem Auf­trag­ge­ber so­zi­al abhängig. Ei­ne sol­che so­zia­le Abhängig­keit liegt vor, wenn er in den Be­trieb des Auf­trag­ge­bers ein­ge­glie­dert ist, die An­wei­sun­gen sei­nes Auf­trag­ge­bers be­fol­gen muss (so­ge­nann­te Wei­sungs­ge­bun­den­heit) und kein un­ter­neh­me­ri­sches Ri­si­ko trägt.

Kei­nen An­spruch auf den Min­dest­lohn ha­ben hin­ge­gen freie Dienst­ver­trags­neh­mer und für Werk­un­ter­neh­mer. Grund dafür ist, dass sie selbständig und da­mit auf ih­re ei­ge­ne Ver­ant­wor­tung ar­bei­ten. Aus dem glei­chen Grund ha­ben auch so­ge­nann­te "ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen" kei­nen An­spruch auf den Min­dest­lohn.

Ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen neh­men ei­ne Zwi­schen­stel­lung zwi­schen Un­ter­neh­mer und Ar­beit­neh­mer ein. Sie kenn­zeich­nen zwei Merk­ma­le:

  • an­ders als Ar­beit­neh­mer sind sie nicht wei­sungs­ge­bun­den,
  • wie­der­um an­ders als Un­ter­neh­mer sind sie wirt­schaft­lich von ei­nem (oder zwei) Auf­trag­ge­ber(n) abhängig.

Auf­grund ih­rer wirt­schaft­li­chen Abhängig­keit sind ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen so­zi­al schutzwürdig, wes­halb sie sich auf ei­ni­ge ar­beits- und so­zi­al­recht­li­chen Vor­schrif­ten be­ru­fen können (z.B. das Bun­des­ur­laubs­ge­setz, das Ar­beits­ge­richts­ge­setz). Auf das Mi­LoG können sie sich hin­ge­gen nicht be­ru­fen.

Be­hin­der­te, die in Be­hin­der­ten­werkstätten ar­bei­ten, sind nach dem Ge­setz eben­falls ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen (§ 138 Abs. 1 Neun­tes So­zi­al­ge­setz­buch (SGB IX)). Doch sie sind in der Re­gel -an­ders als für ar­beit­neh­merähn­li­che Per­so­nen ty­pisch- in den Werk­statt­be­trieb ein­ge­glie­dert, tra­gen kein wirt­schaft­li­ches Ri­si­ko und un­ter­lie­gen Wei­sun­gen. Das Ar­beits­ge­richt Kiel ent­schied nun, dass Be­hin­der­te, die in Be­hin­der­ten­werkstätten ar­bei­ten, trotz­dem kei­nen An­spruch auf den all­ge­mei­nen Min­dest­lohn ha­ben: Ar­beits­ge­richt Kiel, Ur­teil vom 19.06.2015, 2 Ca 165a/15.

Im Streit: Be­hin­der­ter Werk­statt­mit­ar­bei­ter ver­langt Min­dest­lohn für ge­leis­te­te Ar­beit

Der schwer­be­hin­der­te Kläger (Grad der Be­hin­de­rung 70 %) ar­bei­te­te seit 1994 in ei­ner Werk­statt für Be­hin­der­te (§ 136 Abs. 1 SGB IX). Dort war er 38,5 St­un­den pro Wo­che für den Gemüse­an­bau und die Aus­lie­fe­rung der Gemüse­kis­ten an die Kun­den zuständig. Er be­kam für sei­ne Tätig­keit ei­ne Net­to­vergütung von 216,75 EUR, was ei­nem St­un­den­lohn von 1,49 EUR ent­spricht. Zusätz­lich hat­te er ei­nen An­spruch auf ei­ne Ren­te we­gen vol­ler Er­werbs­min­de­rung.

Nach dem Ent­wick­lungs­be­richt der Ein­glie­de­rungs­hil­fe für be­hin­der­te Men­schen wur­de sei­ne Ar­beits­leis­tung als ver­gleich­bar hoch ein­ge­stuft. Ei­ne außer­gewöhn­li­che Pfle­ge­bedürf­tig­keit wur­de ihm nicht at­tes­tiert. 

Der schwer­be­hin­der­te Werk­statt­mit­ar­bei­ter hielt die Vergütung von 1,49 EUR für sit­ten­wid­rig nied­rig und for­der­te von dem Hilfs­werk ei­ne an­ge­mes­se­ne Vergütung für sei­ne Ar­beits­leis­tung in Höhe von 6,00 EUR für das Jahr 2014 und ab Ja­nu­ar 2015 den Min­dest­lohn von 8,50 EUR pro St­un­de. Ins­ge­samt for­der­te er von dem Hilfs­werk ei­ne Lohn­nach­zah­lung von 10.159,58 EUR.

Ar­beits­ge­richt Kiel: Be­hin­der­te Men­schen, die in ei­ner Be­hin­der­ten­werk­statt ar­bei­ten, ha­ben in der Re­gel kei­nen An­spruch auf den Min­dest­lohn

Das Ar­beits­ge­richt Kiel wies die Kla­ge des Werk­statt­mit­ar­bei­ters ab. Er hat­te laut Ar­beits­ge­richt we­der ei­nen An­spruch auf ei­ne an­ge­mes­se­ne Vergütung für das Jahr 2014 noch ei­nen An­spruch auf den Min­dest­lohn für die Zeit ab Ja­nu­ar 2015.

Denn nur Ar­beit­neh­mer können den Min­dest­lohn ver­lan­gen, nicht hin­ge­gen ar­beit­neh­merähn­li­chen Per­so­nen, wie der Werk­statt­mit­ar­bei­ter. Bei der Un­ter­schei­dung zwi­schen ei­nem ar­beit­neh­merähn­li­chen Rechts­verhält­nis im Sin­ne des § 138 Abs. 1 SGB IX und ei­nem Ar­beits­verhält­nis kommt es nicht, wie sonst üblich, auf das Feh­len von Wei­sungs­ge­bun­den­heit an. Viel­mehr kenn­zeich­net ein Ar­beits­verhält­nis ein an­ge­mes­se­nes Aus­tausch­verhält­nis zwi­schen wei­sungs­ge­bun­de­ner Ar­beit und Vergütung. Haupt­zweck ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses ist da­nach das Er­brin­gen ei­ner wirt­schaft­lich ver­wert­ba­ren Leis­tung.

Bei ei­nem Werk­statt­verhält­nis hin­ge­gen steht nicht die Er­brin­gung von wirt­schaft­lich ver­wert­ba­rer Ar­beit im Mit­tel­punkt, son­dern die Be­treu­ung und An­lei­tung der schwer­be­hin­der­ten Men­schen so­wie die Er­hal­tung und Ent­wick­lung ih­rer persönli­chen Leis­tungs- und Er­werbsfähig­keit.

Ein Ar­beits­verhält­nis liegt laut Ar­beits­ge­richt Kiel erst dann vor, wenn schwer­be­hin­der­te Men­schen wie Ar­beit­neh­mer auch in quan­ti­ta­ti­ver Sicht wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Leis­tun­gen er­bringt. Trotz der Wei­sungs­ge­bun­den­heit des Werk­statt­mit­ar­bei­ters ist er da­her kein Ar­beit­neh­mer.

Auch aus sys­te­ma­ti­schen Gründen schei­det ein An­spruch des Werk­statt­mit­ar­bei­ters auf den Min­dest­lohn laut Ar­beits­ge­richt Kiel aus. Denn § 138 Abs. 2 SGB IX be­inhal­tet ei­ne ei­genständi­ge Vergütungs­re­ge­lung für be­hin­der­te Men­schen, die in Werkstätten beschäftigt wer­den. Die­se Re­ge­lung wär überflüssig, wenn Werk­statt­verhält­nis­se un­ter das Mi­LoG fal­len.

Das Ar­beits­ge­richt Kiel ar­gu­men­tiert zu­dem mit dem Zweck des Min­dest­lohns. Die­ser soll Ar­beit­neh­mer vor Nied­riglöhnen schützen und exis­tenz­si­chern­de Ar­beits­ent­gel­te si­chern. Um den Min­dest­lohn ver­lan­gen zu können muss laut Ar­beits­ge­richt ein an­ge­mes­se­nes Aus­tausch­verhält­nis zwi­schen Ar­beits­leis­tung und Ent­gelt be­ste­hen. Da je­doch für Werk­statt­verhält­nis­se die so­zia­le Be­treu­ung im Fo­kus steht, können die Re­geln Ar­beit ge­gen Vergütung auf sie nicht an­ge­wen­det wer­den.

Fa­zit: Das Ar­beits­ge­richt Kiel ver­neint ei­nen An­spruch be­hin­der­ter Werk­statt­mit­ar­bei­ter auf den Min­dest­lohn. Grund dafür ist, dass sie nicht wie "rich­ti­ge" Ar­beit­neh­mer wirt­schaft­lich ver­wert­ba­re Leis­tun­gen er­brin­gen. Die Kopp­lung des Min­dest­lohns an die wirt­schaft­li­che Leis­tungsfähig­keit ei­nes Men­schen ist je­doch be­denk­lich. Denn durch den Min­dest­lohn soll nur ei­ne Un­ter­gren­ze ge­schaf­fen wer­den, da­mit Men­schen von ih­rer Ar­beit le­ben können. Es geht bei dem Min­dest­lohn nicht dar­um ei­nen an­ge­mes­se­nen Aus­gleich von Ar­beits­leis­tung und Vergütung zu schaf­fen.

Das Ar­beits­ge­richt Kiel über­sieht zu­dem völlig ei­nen mögli­chen Ver­s­toß ge­gen das All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­setz (AGG). Da­nach sind Be­nach­tei­li­gun­gen aus Gründen ei­ner Be­hin­de­rung grundsätz­lich un­zulässig. Und da­zu gehört auch ei­ne Be­nach­tei­li­gung in Be­zug auf das Ar­beits­ent­gelt.

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Letzte Überarbeitung: 22. Februar 2021

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