HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 11/181

Eu­ro­pa­recht und Ur­laubs­an­spruch: Ur­laubs­an­spruch darf nicht von Min­dest­ar­beits­zeit ab­hän­gen

Ha­ben Ar­beit­neh­mer in ei­nem EU-Land kei­nen Ur­laubs­an­spruch, wenn sie nicht min­des­tens zehn Ta­ge im Jahr ge­ar­bei­tet ha­ben, ver­stößt das ge­gen das Eu­ro­pa­recht, das aber zwi­schen Pri­va­ten nicht un­mit­tel­bar gilt: Ge­ne­ral­wäl­tin beim EuGH Trs­ten­jak, Schluss­an­trä­ge vom 08.09.2011, C-282/10 („Do­m­in­guez“)
Europafahne Das fran­zö­si­sche Ur­laubs­recht ver­stößt ge­gen EU-Richt­li­ni­en
16.09.2011. Ein wich­ti­ges so­zia­les Recht der Ar­beit­neh­mer in der Eu­ro­päi­schen Uni­on (EU) ist der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub. Die EU-Mit­glieds­staa­ten müs­sen des­halb da­für sor­gen, dass je­der Ar­beit­neh­mer min­des­tens vier Wo­chen Ur­laub pro Jahr er­hält. Dies er­gibt sich aus Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments und des Ra­tes vom 04.11.2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (Richt­li­nie 2003/88/EG).

An­fang 2009 hat­te der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) ent­schie­den, dass der Ur­laubs­an­spruch auch be­steht bzw. fort­be­steht, wenn Ar­beit­neh­mer lan­ge krank sind und da­her im gan­zen Ur­laubs­jahr (Ja­nu­ar bis De­zem­ber) nicht ge­ar­bei­tet ha­ben (Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff). In ei­nem fran­zö­si­schen Rechts­streit, der dem EuGH der­zeit vor­liegt, geht es u.a. dar­um, ob ei­ne Ar­beit­neh­me­rin Ur­laub ver­lan­gen kann, ob­wohl sie un­fall­be­dingt ein gan­zes Ka­len­der­jahr krank war. Nach fran­zö­si­schem Ge­set­zes­recht be­steht der An­spruch nicht, und das fran­zö­si­sche Ge­set­zes­recht ver­stößt da­her (ziem­lich klar) ge­gen das Eu­ro­pa­recht.

Aber was folgt dar­aus? Müs­sen die fran­zö­si­schen Ge­rich­te jetzt der Ar­beit­neh­me­rin recht ge­ben, d.h. de­ren pri­va­ten Ar­beit­ge­ber zur Ur­laubs­ge­wäh­rung ver­ur­tei­len, auch wenn die fran­zö­si­schen Ge­set­ze das gar nicht vor­se­hen? Geht das Eu­ro­pa­recht bzw. Art.7 Abs.1 der Richt­li­nie 2003/88/EG dem fran­zö­si­schen Ge­set­zes­recht vor oder muss die­ses Ge­set­zes­recht "nur" ge­än­dert wer­den, weil es ge­gen das Eu­ro­pa­recht ver­stößt? Zu die­sen Fra­gen hat sich die Ge­ne­ral­an­wäl­tin beim Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof (EuGH) Ve­ri­ca Trs­ten­jak jetzt ge­äu­ßert (Schluss­an­trä­ge vom 08.09.2011, Rs C-282/10 - Do­m­in­guez).

Frank­reichs Ur­laubs­recht verstößt ge­gen Uni­ons­recht - und nun?

In Frank­reich ent­steht ein An­spruch auf Ur­laub nur, wenn der Ar­beit­neh­mer ei­ne ge­wis­se „ef­fek­ti­ve Ar­beits­zeit“ ge­leis­tet hat. Sind Ar­beit­neh­mer länger als ein Jahr ar­beits­unfähig, ha­ben sie kei­nen An­spruch auf Jah­res­ur­laub.

Das wi­der­spricht der Richt­li­nie 2003/88/EG und der da­zu er­gan­ge­nen Recht­spre­chung des EuGH, v.a. dem Schultz-Hoff-Ur­teil. Da­nach darf der Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen nicht von ei­ner Min­dest­ar­beits­zeit im Ur­laubs­jahr abhängig sein. Aber können sich lan­ge er­krank­te Ar­beit­neh­mer ge­genüber ih­ren Ar­beit­ge­bern auf das Eu­ro­pa­recht be­ru­fen? Die EuGH-Ge­ne­ral­anwältin Trs­ten­jak meint nein (Schluss­anträge vom 08.09.2011, Rs. C-282/10, Do­m­in­guez).

Ge­ne­ralwältin Trs­ten­jak: Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber sol­len sich auch auf Ge­set­ze ver­las­sen können, die ge­gen Eu­ro­pa­recht ver­s­toßen

Frau Do­min­quez, Ar­beit­neh­me­rin bei ei­nem pri­va­ten Ar­beit­ge­ber, war un­fall­be­dingt über ein Jahr lang ar­beits­unfähig. Des­halb kam es mit ih­rem Ar­beit­ge­ber zum Streit über den ihr zu­ste­hen­den Ur­laub. Die französi­schen Ge­rich­te lehn­ten den Ur­laubs­an­spruch un­ter Hin­weis auf die Ge­set­zes­la­ge ab. Der Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof leg­te dem EuGH schließlich die Fra­ge vor, ob es das ge­gen Uni­ons­recht ver­s­toßen­de französi­sche Recht nicht an­wen­den soll.

Frau Trs­ten­jak stellt klar, dass das französi­sche Ur­laubs­recht ge­gen das Eu­ro­pa­recht verstößt und weist dar­auf hin, dass der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub ein wich­ti­ger Grund­satz des Eu­ro­pa­rechts ist. Trotz­dem schlägt sie dem EuGH vor, dem französi­schen Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof nicht vor­zu­ge­ben, die französi­schen Ge­set­zes we­gen die­ses EU-Rechts-Ver­s­toßes un­an­ge­wen­det zu las­sen. Folgt der EuGH dem, stünde zwar fest, dass das franzöische Ur­laubs­recht ge­gen das Eu­ro­pa­recht verstößt, doch würde Frau Do­m­in­guez ih­ren Pro­zess trotz­dem ver­lie­ren.

Da­bei setzt sich die Ge­ne­ral­anwältin mit der be­grenz­ten Be­deu­tung von EU-Richt­li­ni­en aus­ein­an­der, die sich nur an die EU-Mit­glieds­staa­ten rich­ten, nicht aber an de­ren Bürger. Ver­s­toßen EU-Länder ge­gen Richt­li­ni­en, dro­hen Sank­tio­nen, doch blei­ben die eu­ro­pa­rechts­wid­ri­gen Ge­set­ze erst ein­mal wei­ter in Kraft.

Der EuGH hat­te zwar in ei­ni­gen Fällen, in de­nen es um das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung ging, mit all­ge­mei­nen "Grundsätzen des Eu­ro­pa­rechts" ar­gu­men­tiert und be­haup­tet, sie gin­gen den Ge­set­zen der EU-Mit­glieds­staa­ten vor (so zu­letzt mit Ur­teil vom 19.01.2010, C-555/07, Kücükde­ve­ci). Frau Trs­ten­jak plädiert aber dafür, die­se Recht­spre­chung nicht wei­ter aus­zu­bau­en und je­den­falls nicht auf das Ur­laubs­recht zu über­tra­gen.

Fa­zit: Folgt der EuGH der Ge­ne­ral­anwältin, würde er hier im Streit­fall (und künf­tig ge­ne­rell?) nicht (mehr) so stark in die Rechts­ord­nun­gen der EU-Länder hin­ein­re­gie­ren. Das käme der Rechts­si­cher­heit zu­gu­te. Denn vie­le Ge­set­ze wi­der­spre­chen der ei­nen oder an­de­ren EU-Richt­li­nie, doch wor­an sol­len sich die EU-Bürger hal­ten wenn nicht an die Ge­set­ze ih­rer Länder? Hin­ken die­se dem EU-Recht hin­ter­her, müssen Ge­set­zesände­run­gen her.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit hat sich der EuGH den Vor­schlägen der Ge­ne­ral­anwältin Trs­ten­jak an­ge­schlos­sen und klar­ge­stellt, dass das Eu­ro­pa­recht zwar ei­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub vor­schreibt, der von Min­dest­ar­beits­zei­ten nicht abhängen darf, dass aber das von die­sen An­for­de­run­gen des EU-Rechts ab­wei­chen­de französi­sche Ge­set­zes­recht in Frank­reich trotz­dem zwi­schen Pri­vat­per­so­nen an­ge­wandt wer­den muss. In­for­ma­tio­nen zu die­ser EuGH-Ent­schei­dung fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 4. Juni 2019

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Bewertung:

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de