HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/041

Das Eu­ro­pa­recht schreibt ei­nen Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen vor - oh­ne jähr­li­che Min­dest­ar­beits­zeit

Eu­ro­pa­rechts­wid­ri­ge Ge­set­ze der Mit­glied­staa­ten blei­ben aber trotz­dem für pri­va­te Ar­beit­ge­ber gül­tig: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 24.01.2012, C-282/10 (Do­m­in­guez)
Europafahne

25.01.2012. Das Eu­ro­pa­recht schreibt den EU-Mit­glieds­staa­ten vor, da­für zu sor­gen, dass Ar­beit­neh­mer ei­nen jähr­li­chen Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen be­an­spru­chen kön­nen. Dies folgt aus Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments und des Ra­tes vom 04.11.2003 über be­stimm­te As­pek­te der Ar­beits­zeit­ge­stal­tung (Richt­li­nie 2003/88/EG).

Da­bei ist auf­grund ei­nes An­fang 2009 er­gan­ge­nen Grund­satz­ur­teils des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs (EuGH) klar, dass der Min­des­t­ur­laubs­an­spruch von vier Wo­chen fort­be­ste­hen blei­ben muss, wenn der Ar­beit­neh­mer im ge­samtn Ur­laubs­jahr (Ja­nu­ar bis De­zem­ber) krank­heits­be­dingt nicht ge­ar­bei­tet hat (Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff). In ei­nem aus Frank­reich stam­men­den Fall ver­lang­te ei­ne Ar­beit­neh­me­rin Ur­laub, ob­wohl sie auf­grund ei­nes Un­falls mehr als ein Ka­len­der­jahr durch­ge­hend krank war. Nach dem fran­zö­si­schem Ge­set­zes­recht be­steht dann kein Ur­laubs­an­spruch, und das ist da­her mit dem Eu­ro­pa­recht nicht ver­ein­bar.

So weit so klar - aber wie geht die Ge­schich­te wei­ter? Muss auch ein pri­va­ter fran­zö­si­scher Ar­beit­ge­ber auf­grund von Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG und/oder auf­grund wei­te­rer Prin­zi­pi­en des EU-Rechts sei­nen Ar­beit­neh­mern vier Wo­chen Ur­laub ge­wäh­ren, auch wenn das fran­zö­si­sche Ge­set­zes­recht ei­nen sol­chen An­spruch bei mehr als ein­jäh­ri­ger Krank­heit ein­deu­tig nicht ent­hält? Die­se Fra­ge hat der EuGH ges­tern mit "Nein" be­ant­wor­tet (EuGH, Ur­teil vom 24.01.2012, C-282/10 - Do­m­in­guez).

Frank­reichs Ar­beits­ge­setz­buch verstößt ge­gen das EU-Recht - und nun?

Das franzöische Ar­beits­ge­setz­buch sieht vor, dass Ar­beit­neh­mer nur dann Ur­laub be­an­spru­chen können, wenn sie min­des­tens zehn Ta­ge im Jahr ef­fek­tiv ge­ar­bei­tet ha­ben. Sind Ar­beit­neh­mer länger als ein Jahr oh­ne Un­ter­bre­chung ar­beits­unfähig, ha­ben sie da­her kei­nen An­spruch auf Jah­res­ur­laub. Die­se Ge­set­zes­la­ge wi­der­spricht der Richt­li­nie 2003/88/EG und der da­zu er­gan­ge­nen Recht­spre­chung des EuGH, v.a. dem Schultz-Hoff-Ur­teil. Da­nach darf der Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen nicht von ei­ner Min­dest­ar­beits­zeit im Ur­laubs­jahr abhängig sein.

Al­ler­dings sind EU-Richt­li­ni­en nicht di­rekt an die Bürger der EU-Staa­ten ge­rich­tet, son­dern an die Staa­ten selbst. Das un­ter­schei­det Richt­li­ni­en von Rechts­ver­ord­nun­gen der EU, die un­mit­tel­bar in den Mit­glieds­staa­ten gel­ten und von de­ren Bürgern zu be­ach­ten sind. Richt­li­ni­en ver­pflich­ten da­ge­gen die EU-Mit­glieds­staa­ten zum Er­lass be­stimm­ter Rechts­re­geln. Ver­s­toßen die Staa­ten da­ge­gen, droht ein ih­nen Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren. Die eu­ro­pa­rechts­wid­ri­gen Ge­set­ze blei­ben aber erst ein­mal wei­ter in Kraft.

Von die­ser Li­nie ist der EuGH in ei­ni­gen Fällen ab­ge­wi­chen, in de­nen es um das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung ging. Hier hat der EuGH be­haup­tet, das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung sei Teil der all­ge­mei­nen "Grundsätze des Eu­ro­pa­rechts", und als ein sol­cher Grund­satz ge­he er den Ge­set­zen der EU-Mit­glieds­staa­ten vor (so zu­letzt mit Ur­teil vom 19.01.2010, C-555/07, Kücükde­ve­ci, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 10/018 Dis­kri­mi­nie­rung jünge­rer Ar­beit­neh­mer).

Dem­ge­genüber hat die Ge­ne­ral­anwältin Trs­ten­jak in der Rechts­sa­che Do­m­in­guez dafür plädiert, die­se Recht­spre­chung nicht wei­ter aus­zu­bau­en und je­den­falls nicht auf das Ur­laubs­recht zu über­tra­gen (Schluss­anträge vom 08.09.2011, C-282/10 - wir be­rich­te­ten in: Ar­beits­recht ak­tu­ell: 11/181 Eu­ro­pa­recht und Ur­laubs­an­spruch: Ur­laubs­an­spruch darf nicht von Min­dest­ar­beits­zeit abhängen). Die­sen Ent­schei­dungs­vor­schlägen hat sich der EuGH ges­tern im we­sent­li­chen an­ge­schlos­sen.

EuGH: Lässt sich das französche Ge­set­zes­recht nicht "richt­li­ni­en­kon­form" aus­le­gen, zwingt das EU-Recht nicht da­zu, Pri­vat­un­ter­neh­men zu ei­ner über das französche Ge­setz hin­aus­ge­hen­den Ur­laubs­gewährung zu ver­ur­tei­len

Im Streit­fall war ei­ne Ar­beit­neh­me­rin, Frau Do­m­in­guez, un­fall­be­dingt über ein Jahr lang ar­beits­unfähig. Des­halb kam es mit ih­rem Ar­beit­ge­ber, ei­nem pri­va­ten Un­ter­neh­men, zum Streit über den ihr zu­ste­hen­den Ur­laub. Die französi­schen Ge­rich­te lehn­ten den Ur­laubs­an­spruch un­ter Hin­weis auf die Ge­set­zes­la­ge ab. Der Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof leg­te dem EuGH schließlich die Fra­ge vor, ob es das ge­gen Uni­ons­recht ver­s­toßen­de französi­sche Recht nicht an­wen­den soll.

Der EuGH stellt klar, dass das französi­sche Ur­laubs­recht ge­gen das Eu­ro­pa­recht verstößt und weist dar­auf hin, dass der An­spruch auf be­zahl­ten Jah­res­ur­laub ein wich­ti­ges so­zi­al­po­li­ti­sches Recht­s­prin­zip ist. Trotz­dem ist Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG bzw. der dar­in fest­ge­schrie­be­ne vierwöchi­ge Min­des­t­ur­laub kein all­ge­mei­ner Grund­satz des Eu­ro­pa­rechts, je­den­falls kein Grund­satz in dem Sin­ne, dass die Ge­rich­te der EU-Staa­ten da­zu ver­pflich­tet wären, ei­nen sol­chen Grund­satz bei der Ent­schei­dung von Pro­zes­sen höher zu ge­wich­ten als die Ge­set­ze ih­rer Länder.

Da­her gibt der EuGH dem französi­schen Kas­sa­ti­ons­ge­richts­hof le­dig­lich vor, noch­mals ge­nau zu prüfen, ob sich das französi­sche Ge­set­zes­recht nicht viel­leicht doch in ei­ner Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG ent­spre­chen­den Wei­se aus­le­gen las­sen könn­te. Und viel­leicht könn­te es sich ja bei noch­ma­li­ger gründ­li­cher Prüfung her­aus­stel­len, dass der ver­klag­te Ar­beit­ge­ber mehr dem Staat und sei­nen Ein­rich­tun­gen zu­zu­rech­nen ist als den Pri­vat­un­ter­neh­men (denn dann müss­te er sich als "öffent­lich-recht­li­cher" Ar­beit­ge­ber an die Richt­li­nie hal­ten).

Falls aber al­le ju­ris­ti­schen Aus­le­gungs­klimmzüge nicht hel­fen, bleibt es da­bei, dass Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG für pri­va­te Ar­beit­ge­ber nicht höher steht als das Ge­set­zes­recht ih­rer Staa­ten. Dann hätte die kla­gen­de Ar­beit­neh­me­rin Pech ge­habt, je­den­falls in ih­rem ge­gen ih­ren pri­va­ten Ar­beit­ge­ber ge­rich­te­ten Ver­fah­ren. In die­sem Fall könn­te sie al­ler­dings den französi­schen Staat auf Scha­dens­er­satz be­lan­gen, weil die­ser die Richt­li­nie nicht aus­rei­chend um­ge­setzt hat und sie da­mit recht­lich "im Re­gen ste­hen" ließ.

Fa­zit: Der EuGH folgt den Schluss­anträgen der Ge­ne­ral­anwältin Trs­ten­jak vom 08.09.2011 in al­len we­sent­li­chen Punk­ten, wenn auch wi­der­wil­lig. Für die Um­set­zung von so­zi­al­recht­li­chen Re­ge­lungs­aufträgen, die in EU-Richt­li­ni­en ent­hal­ten sind, und spe­zi­ell für die Um­set­zung von Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG ist das ein Si­gnal dafür, dass der EuGH künf­tig nicht mehr so stark in die Rechts­ord­nun­gen der EU-Länder hin­ein­re­gie­ren wird wie er das in ei­ni­gen um­strit­te­nen Ur­tei­len der letz­ten Jah­re ge­tan hat.

Ei­ne sol­che Kurs­kor­rek­tur käme der Rechts­si­cher­heit zu­gu­te. Denn vie­le in den EU-Staa­ten gel­ten­de Ge­set­ze wi­der­spre­chen der ei­nen oder an­de­ren EU-Richt­li­nie, aber wor­an sol­len sich die EU-Bürger hal­ten wenn nicht an die Ge­set­ze ih­rer Länder? Wenn die­se Ge­set­ze dem EU-Recht hin­ter­her­hin­ken, müssen sie geändert wer­den. Das aber ist Auf­ga­be des Ge­setz­ge­bers und nicht der Ge­rich­te.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 4. Juni 2019

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Bewertung:

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de