HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Hamm, Ur­teil vom 03.11.2011, 15 Sa 708/11

   
Schlagworte: Kündigung: Fristlos
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Aktenzeichen: 15 Sa 708/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 03.11.2011
   
Leitsätze: Zeigt ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber bei der Strafverfolgungsbehörde an, kann die darin liegende Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte nur dann zu einer kündigungsrelevanten Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten führen, wenn sich die Anzeige als unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers (oder seiner Repräsentanten) erweist.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Siegen, Urteil vom 22.03.2011, 1 Ca 1345/10
   

15 Sa 708/11

1 Ca 1345/10 ArbG Sie­gen

 

Verkündet am 03.11.2011

Neu­ge­bau­er als Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

Lan­des­ar­beits­ge­richt Hamm

Im Na­men des Vol­kes

Ur­teil

In Sa­chen

hat die 15. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Hamm
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 03.11.2011
durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt Dr. Wes­sel
so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Prof. Dr. Rem­mel und Kor­te

für Recht er­kannt:

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Sie­gen vom 22.03.2011 – 1 Ca 1345/10 – wird un­ter Klar­stel­lung des Ur­teils­aus­spruchs in Zif­fer 1. wie folgt zurück­ge­wie­sen:

Es wird fest­ge­stellt, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 09.06.2009 nicht sein En­de ge­fun­den hat.

Die Kos­ten des Be­ru­fungs­ver­fah­rens trägt die Be­klag­te.

Die Re­vi­si­on wird nicht zu­ge­las­sen.

 

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Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten um die Rechts­wirk­sam­keit ei­ner außer­or­dent­li­chen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses des Klägers.

Der 63-jähri­ge ver­hei­ra­te­te Kläger ist seit Sep­tem­ber 1992 als Meis­ter im Werk­zeug­bau/Kunst­stoff bei der Be­klag­ten, die mit et­wa 1400/1500 Ar­beit­neh­mern F1 für La­ger-, Be­triebs-, Büro­ein­rich­tun­gen, Ab­fall­tech­nik und Re­cy­cling be­treibt, zu ei­nem mo­nat­li­chen Brut­to­ent­gelt von zu­letzt 4.669,83 € beschäftigt.

Der Kläger ge­nießt ta­rif­li­chen Son­derkündi­gungs­schutz vor or­dent­li­chen Kündi­gun­gen.

Seit 2003 ver­such­te die Be­klag­te mehr­fach, das Ar­beits­verhält­nis zu dem Kläger durch Kündi­gung zu be­en­den. Die Par­tei­en führ­ten seit­her ins­ge­samt 6 Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren, die rechts­kräftig ab­ge­schlos­sen sind und in de­nen der Kläger je­weils er­folg­reich war.

Mit Schrei­ben vom 13.02.2009 be­an­trag­te der Kläger bei der Staats­an­walt­schaft Sie­gen die Ein­lei­tung ei­nes staats­an­walt­schaft­li­chen Er­mitt­lungs­ver­fah­rens ge­gen den Geschäftsführer so­wie wei­te­re Mit­ar­bei­ter der Be­klag­ten im Hin­blick auf Vorwürfe des Pro­zess­be­trugs und der Ur­kun­denfälschung. Für die wei­te­ren Ein­zel­hei­ten des Schrei­bens vom 13.02.2009 wird ver­wie­sen auf Blatt 61 – 63 d. A.

Die Staats­an­walt­schaft Sie­gen teil­te dem Kläger un­ter dem 24.02.2009 schrift­lich mit, sie ha­be das Ver­fah­ren ein­ge­stellt.

Mit Schrift­satz vom 06.03.2009 leg­te der Pro­zess­be­vollmäch­tig­te des Klägers Be­schwer­de ein ge­gen die Ein­stel­lungs­ent­schei­dung der Staats­an­walt­schaft. We­gen der Ein­zel­hei­ten der Be­schwer­de­schrift wird auf Blatt 71 – 73 d. A. ver­wie­sen.

Die Be­klag­te er­hielt am 28.05.2009 Ein­sicht in die staats­an­walt­schaft­li­che Er­mitt­lungs­ak­te.

 

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Mit Schrei­ben vom 03.06.2009 (Bl. 79 – 82 d. A.) hörte die Be­klag­te den bei ihr be­ste­hen­den Be­triebs­rat zur be­ab­sich­tig­ten frist­lo­sen Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses des Klägers an. Der Be­triebs­rat nahm mit Schrei­ben vom 08.06.2009 (Bl. 5 d. A.) Stel­lung und äußer­te dar­in „größtmögli­che Be­den­ken ge­gen die­se frist­lo­se Kündi­gung".

Mit Schrei­ben vom 09.06.2009 (Bl. 4 d. A.) kündig­te die Be­klag­te das An­stel­lungs­verhält­nis „außer­or­dent­lich aus wich­ti­gem Grund zum heu­ti­gen Tag".

Die Staats­an­walt­schaft Sie­gen stell­te das durch den Kläger ein­ge­lei­te­te Er­mitt­lungs­ver­fah­ren am 12.10.2009 gemäß § 170 Abs. 2 St­PO ein.

Nach­dem der Kündi­gungs­rechts­streit um die sechs­te Kündi­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses des Klägers, in dem es um den im Rah­men ei­ner Straf­an­zei­ge von dem Kläger ge­genüber der Be­klag­ten er­ho­be­nen Vor­wurf ei­nes pro­zess­betrüge­ri­schen Sach­vor­trags so­wie ei­ner Ur­kun­denfälschung ging, durch Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts vom 30.09.2010 (17 Sa 261/10) ab­ge­schlos­sen war, er­stat­te­te die Vor­sit­zen­de der 17. Kam­mer über den V1 des Lan­des­ar­beits­ge­richts Hamm bei der Staats­an­walt­schaft Sie­gen Straf­an­zei­ge ge­gen die Be­klag­te we­gen ver­such­ten Pro­zess­be­trugs.

Mit sei­ner beim Ar­beits­ge­richt am 17.06.2009 ein­ge­reich­ten Kla­ge hat sich der Kläger ge­gen die außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 09.06.2009 ge­wandt. Darüber hin­aus hat er die Zah­lung ver­schie­de­ner Zins­ansprüche aus ti­tu­lier­ten Ent­gelt­ansprüchen von der Be­klag­ten ge­for­dert.

Der Kläger hat be­an­tragt,

1. fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en we­der durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung aus wich­ti­gem Grund vom 09.06.2009 noch durch die hilfs­wei­se or­dent­li­che Kündi­gung zum so­for­ti­gen Zeit­punkt sein En­de fin­det,

 

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2. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, den Kläger zu un­veränder­ten Be­din­gun­gen über den 09.06.2009 hin­aus als Meis­ter wei­ter zu beschäfti­gen bis zum rechts­kräfti­gen Ab­schluss des vor­lie­gen­den Kündi­gungs­schutz­ver­fah­rens,

3. die Be­klag­te zu ver­ur­tei­len, an den Kläger 2.118,42 € net­to nebst 5 % über dem Ba­sis­zins­satz lie­gen­der Zin­sen zu zah­len.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Sie hat die aus­ge­spro­che­ne Kündi­gung als wirk­sam ver­tei­digt. Auf­grund der von dem Kläger er­stat­te­ten Straf­an­zei­ge und der an­sch­ließen­den Durchführung des Be­schwer­de­ver­fah­rens sei ihr ei­ne Wei­ter­beschäfti­gung des Klägers nicht zu­mut­bar.

Mit Ur­teil vom 22.03.2011 hat das Ar­beits­ge­richt u. a. der Fest­stel­lungs­kla­ge statt­ge­ge­ben und die Be­klag­te zur Wei­ter­beschäfti­gung des Klägers ver­ur­teilt. Zur Be­gründung sei­ner Ent­schei­dung hat das erst­in­stanz­li­che Ge­richt we­sent­lich aus­geführt, ein wich­ti­ger Grund i. S. d. Ge­set­zes sei we­der in der Er­stat­tung der Straf­an­zei­ge durch den Kläger am 13.02.2009 noch in der an­sch­ließen­den Be­schwer­de­ein­le­gung ge­gen die zunächst er­folg­te Ein­stel­lungs­ent­schei­dung der Staats­an­walt­schaft zu er­ken­nen. Das er­ge­be sich für die Kam­mer be­reits dar­aus, dass be­zo­gen auf den­sel­ben pro­zes­sua­len Vor­trag im An­schluss an die rechts­kräfti­ge Be­en­di­gung des Ver­fah­rens so­gar ei­ne Straf­an­zei­ge ge­gen die Be­klag­te durch den V1 des Lan­des­ar­beits­ge­richts er­stat­tet wur­de. Ei­ne schwer­wie­gen­de ar­beits­ver­trag­li­che Pflicht­ver­let­zung des Klägers sei des­halb nicht ge­ge­ben.

Die Be­klag­te hat ge­gen das ihr am 15.04.2011 zu­ge­stell­te Ur­teil am 03.05.2011 bei dem Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­hend Be­ru­fung ein­ge­legt und die­se – nach be­wil­lig­ter Verlänge­rung der Be­ru­fungs­be­gründungs­frist bis zum 11.07.2011 – am 07.07.2011 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­hend be­gründet.

Die Be­klag­te trägt un­ter Be­zug­nah­me auf ihr erst­in­stanz­li­ches Vor­brin­gen vor, es sei recht­lich nicht halt­bar, dass das Ar­beits­ge­richt das Vor­lie­gen ei­nes wich­ti­gen

 

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Grun­des mit der Be­gründung ver­nei­ne, die Straf­an­zei­ge des Klägers nebst an­sch­ließen­der Be­schwer­de­ein­le­gung stel­le be­reits des­halb kei­ne schwer­wie­gen­de Ar­beits­ver­trags­pflicht­ver­let­zung dar, weil be­zo­gen auf den­sel­ben pro­zes­sua­len Vor­trag im An­schluss des Ver­fah­rens 17 Sa 261/10 so­gar die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin am Lan­des­ar­beits­ge­richt bzw. der V2 des Lan­des­ar­beits­ge­richts Hamm bei der Staats­an­walt­schaft Sie­gen Straf­an­zei­ge ge­gen sie – die Be­klag­te – er­stat­tet ha­be. Sie könne die zwei­te Straf­an­zei­ge und das zwei­te Be­schwer­de­ver­fah­ren – aus ih­rer Sicht ein er­neut schädi­gen­des Ver­hal­ten des Klägers – nicht hin­neh­men. Das Ar­beits­verhält­nis sei zerrüttet, dass Ver­trau­ens­verhält­nis zerstört; ei­ne Fort­set­zung des An­stel­lungs­verhält­nis­ses ihr nicht zu­mut­bar.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Sie­gen vom 22.03.2011, Az.: 1 Ca 1345/10, ab­zuändern und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Der Kläger be­an­tragt,

die Be­ru­fung auf Kos­ten der Be­klag­te zurück­zu­wei­sen.

Er ist der An­sicht, die streit­ge­genständ­li­che Kündi­gung Nr. 7 können man­gels Pflicht­ver­let­zung i. S. d. § 626 BGB das Ar­beits­verhält­nis nicht be­en­den.
Hier­zu trägt er vor, er ha­be bei der Aus­wer­tung des je­wei­li­gen Sach­ver­halts und des Vor­trags­ver­hal­tens der Be­klag­ten die Er­kennt­nis ge­won­nen, die­se stel­le über das pro­zesstak­ti­sche Vor­trags­ver­hal­ten hin­aus­ge­hend Sach­ver­hal­te un­rich­tig dar. Ihm sei zur Kennt­nis ge­langt, die von der Be­klag­ten be­haup­te­ten Um­struk­tu­rie­run­gen sei­en zum strei­ti­gen Zeit­punkt tatsächlich nicht vor­ge­nom­men wor­den. Des­halb ha­be er sich zum wie­der­hol­ten Ma­le ent­schlos­sen, ein Er­mitt­lungs­ver­fah­ren we­gen des Ver­dachts des ver­such­ten Pro­zess­be­trugs ein­zu­lei­ten. Was das Rechts­mit­tel der Be­schwer­de an­be­tref­fe, ha­be die Ge­ne­ral­staats­an­walt­schaft Hamm of­fen­sicht­lich wei­te­ren Er­mitt­lungs­be­darf er­kannt. Die Straf­an­zei­ge der Vor­sit­zen­den Rich­te­rin ma­che zu­dem deut­lich, dass er mit sei­nen Ein­drücken in Be­zug auf das Vor­trags­ver­hal­ten der Be­klag­ten nicht al­lein ste­he.

 

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We­gen der wei­te­ren Sach­vor­brin­gens der Par­tei­en wird ver­wie­sen auf die In­hal­te der zwi­schen ih­nen ge­wech­sel­ten Schriftsätze nebst An­la­gen so­wie auf das Pro­to­koll der öffent­li­chen Sit­zung vom 03.11.2011.

Ent­schei­dungs­gründe

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts vom 22.03.2011 ist zulässig, aber un­be­gründet.

I.

Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 64 Abs. 2 Buchst. c, 66 Abs. I, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO an sich statt­haft und form- und frist­ge­legt ein­ge­legt wor­den. Sie ist so­mit zulässig.

II.

In der Sa­che hat die Be­ru­fung kei­nen Er­folg. Im Er­geb­nis zu­tref­fend hat das erst­in­stanz­li­che Ge­richt die Fest­stel­lung ge­trof­fen, dass das Ar­beits­verhält­nis des Klägers durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 09.06.2009 nicht auf­gelöst ist und hat die Be­klag­te zur Wei­ter­beschäfti­gung des Klägers als Meis­ter zu un­veränder­ten Ar­beits­be­din­gun­gen ver­ur­teilt.

1. Die außer­or­dent­li­che Kündi­gung ist man­gels Vor­lie­gens ei­nes wich­ti­gen Grun­des i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB rechts­un­wirk­sam. Al­ler­dings liegt ein ver­hal­tens­be­ding­ter Kündi­gungs­grund, der auch ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung zu recht­fer­ti­gen ver­mag, ins­be­son­de­re dann vor, wenn ei­ne Ar­beit­neh­mer sei­ne ver­trag­li­chen Pflich­ten in schuld­haf­ter Wei­se er­heb­lich ver­letzt.

a) Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts, der die Be­ru­fungs­kam­mer folgt, kann ei­ne vom Ar­beit­neh­mer ge­gen sei­nen Ar­beit­ge­ber oder des­sen Re­präsen­tan­ten er­stat­te­te Straf­an­zei­ge ei­ne kündi­gungs­re­le­van­te Ver­let­zung ar­beits­ver­trag­li­cher Ne­ben­pflich­ten und da­mit ei­nen wich­ti­gen Grund zur frist­lo­sen Kündi­gung dar­stel­len (BAG v. 07.12.2006 – 2 AZR 400/05, NZA 2007, 502, BAG v.

 

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03.07.2003 – 2 AZR 235/02, NZA 2004, 427; LAG Rhein­land-Pfalz v. 02.04.2009 – 10 Sa 691/08, ju­ris; LAG Ber­lin-Bran­den­burg v. 21.12.2009 – 10 Sa 2193/09 u.a., ju­ris).

Dem Ar­beits­ver­trag sind zahl­rei­che Ne­ben­pflich­ten im­ma­nent. Zu die­sen rech­net ins­be­son­de­re die ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht (§ 241 Abs. 2 BGB). Der Ar­beit­neh­mer ist ver­pflich­tet, auf die geschäft­li­chen bzw. dienst­li­chen In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers Rück­sicht zu neh­men und sie in zu­mut­ba­rem Um­fang zu wah­ren. Näher aus­ge­stal­tet wird die ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht durch die Grund­rech­te. Zeigt ein Ar­beit­neh­mer sei­nen Ar­beit­ge­ber bei der Straf­ver­fol­gungs­behörde an, so kann die dar­in lie­gen­de Wahr­neh­mung staatsbürger­li­cher Rech­te im Straf­ver­fah­ren re­gelmäßig nicht zu ei­ner Ver­let­zung ar­beits­ver­trag­li­cher Pflich­ten führen und folg­lich auch kei­ne des­we­gen erklärte Kündi­gung recht­fer­ti­gen (vgl. zur Grenz­set­zung ar­beits­ver­trag­li­cher Ne­ben­pflich­ten durch das Ver­fas­sungs­recht BVerfG v. 02.07.2001 – 1 BvR 2049/00, NZA 2001, 888). Es ist mit dem Rechts­staats­prin­zip re­gelmäßig un­ver­ein­bar, wenn ei­ne Straf­an­zei­ge zu zi­vil­recht­li­chen Nach­tei­len für den an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mer führen würde.

Un­ter Berück­sich­ti­gung die­ses Rah­mens sind die ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten da­hin zu kon­kre­ti­sie­ren, dass sich die An­zei­ge des Ar­beit­neh­mers nicht als ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf ein Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers oder sei­ner Re­präsen­tan­ten er­wei­sen darf (BAG v. 04.07.1991 – 2 AZR 80/9, ju­ris; LAG Ber­lin-Bran­den­burg v. 21.12.2009 a.a.O.). Da­bei können als In­di­zi­en für ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf ein Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers so­wohl die Be­rich­ti­gung der An­zei­ge als auch die Mo­ti­va­ti­on des An­zei­gen­den oder ein feh­len­der be­trieb­li­cher Hin­weis auf die an­ge­zeig­ten Missstände spre­chen. Auch ver­die­nen die Gründe, die den Ar­beit­neh­mer da­zu be­wo­gen ha­ben, ein staats­an­walt­schaft­li­ches Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ein­zu­lei­ten, be­son­de­re Be­deu­tung. Er­folgt hin­ge­gen die An­zei­ge aus­sch­ließlich zwecks Schädi­gung des Ar­beit­ge­bers bzw. um ihn „fer­tig zu ma­chen", kann ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on vor­lie­gen, die ein rechts­miss­bräuch­li­ches Ver­hal­ten dar­stellt (vgl. BAG v. 03.07.2002, a.a.O.; LAG Rhein­land-Pfalz v. 02.04.2009 a.a.O.).

 

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b) Die­sen Grundsätzen fol­gend ist un­ter Berück­sich­ti­gung der Umstände des vor­lie­gen­den Ein­zel­falls ein frist­lo­ser Kündi­gungs­grund nicht ge­ge­ben.

Der Kläger hat in sei­nem An­trag auf Ein­lei­tung ei­nes Er­mitt­lungs­ver­fah­rens vom 13.02.2009 ge­gen den Geschäftsführer und wei­te­re Re­präsen­tan­ten der Be­klag­ten die Staats­an­walt­schaft Sie­gen er­sucht, ins­be­son­de­re in Rich­tung ei­nes Pro­zess­be­trugs zu sei­nem Scha­den und der Ur­kun­denfälschung tätig zu wer­den.

Der ge­sam­te Wort­laut der drei­sei­ti­gen Straf­an­zei­ge (Bl. 61 – 63 d. A.) recht­fer­tigt nicht die Fest­stel­lung, der Kläger ha­be ge­genüber der Staats­an­walt­schaft wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht. Er hat viel­mehr in ei­ner ausführ­lich ge­hal­te­nen Sach­ver­halts­dar­stel­lung un­ter be­son­de­rem Hin­weis auf die seit Mai 2003 von der Be­klag­ten erklärten sechs Kündi­gun­gen in ei­ner auch der Wort­wahl nach zurück­hal­ten­den, an­ge­mes­se­nen Form und, wie er meint, nach reif­li­cher Über­le­gung um Er­mitt­lung er­sucht. Im­mer­hin hat­ten bzw. ha­ben sich sämt­li­che zu­vor erklärten Kündi­gun­gen des Ar­beits­verhält­nis­ses des Klägers als rechts­un­wirk­sam her­aus­ge­stellt; die ent­spre­chen­den Ent­schei­dun­gen des Ar­beits­ge­richts und des Lan­des­ar­beits­ge­richts sind rechts­kräftig ge­wor­den. Die schrift­li­che An­zei­ge enthält auch in­halt­lich kei­ne wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­schen An­ga­ben. Kon­kret fal­sche Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen ver­moch­te die Staats­an­walt­schaft den ein­ge­reich­ten Un­ter­la­gen gleich­falls nicht zu ent­neh­men.

Die Gründe, die den Kläger da­zu be­wo­gen ha­ben, ge­genüber sei­nem Ar­beit­ge­ber ein zwei­tes Mal Straf­an­zei­ge zu er­stat­ten, müssen nach Auf­fas­sung der Be­ru­fungs­kam­mer in ei­nem Zu­sam­men­hang mit der un­gewöhn­lich ho­hen Zahl von Kündi­gun­gen ge­stellt wer­den. Wenn ein Ar­beits­verhält­nis in­ner­halb von gut fünf Jah­ren sechs Mal gekündigt wird und sich sämt­li­che Kündi­gun­gen als un­wirk­sam er­wei­sen, kann es kaum mehr ver­wun­dern, dass die gekündig­te Per­son ob der rechts­grund­los erklärten Kündi­gun­gen ge­genüber ih­rem Ar­beit­ge­ber miss­trau­isch wird, in ihr der Ver­dacht ei­nes Pro­zess­be­trugs erwächst und sie Hil­fe bei den staat­li­chen Er­mitt­lungs­behörden sucht. Es wird ins­be­son­de­re für den Kläger nicht eben un­be­las­tend ge­we­sen sein, im­mer wie­der Ar­beits­ge­richts­ver­fah­ren durch­ste­hen zu müssen. Da die­se sämt­lich zu ei­nem Ob­sie­gen sei­ner­seits geführt hat­ten – le­dig­lich der Kündi­gungs­recht­streit hin­sicht­lich der sechs­ten Kündi­gung war

 

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noch nicht rechts­kräftig ent­schie­den –, konn­te bei dem Kläger in nach­voll­zieh­ba­rer Wei­se der Ein­druck ent­ste­hen, dass die Be­klag­te - vor­sich­tig for­mu­liert – bei der Be­gründung der Kündi­gungs­sach­ver­hal­te nicht mit der ge­bo­te­nen Sorg­falt und Ob­jek­ti­vität vor­ge­gan­gen sei. Die Er­stat­tung der Straf­an­zei­ge stellt des­halb kei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des Klägers auf das Ver­hal­ten der Be­klag­ten dar. Das gilt eben­so für die Durchführung des Be­schwer­de­ver­fah­rens. Zu­tref­fend weist der Kläger in­so­weit dar­auf­hin, dass die Ge­ne­ral­staats­an­walt­schaft Hamm of­fen­sicht­lich wei­te­ren Er­mitt­lungs­be­darf ge­se­hen hat.

Dem Kläger kann nicht un­ter­stellt wer­den, er ha­be die Straf­an­zei­ge aus­sch­ließlich er­stat­tet, um den Geschäftsführer und/oder die wei­te­ren Re­präsen­tan­ten der Be­klag­ten zu schädi­gen bzw. um die­se „fer­tig zu ma­chen". Hierfür fehlt es an jeg­li­chen An­halts­punk­ten. Auch die Be­klag­te ver­moch­te sol­che nicht sub­stan­ti­iert dar­zu­tun. Dem Kläger ging es er­sicht­lich dar­um, nach fünf bzw. sechs sich als rechts­un­wirk­sam her­aus­ge­stell­ten Kündi­gun­gen sei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses klären zu las­sen, in­wie­weit die Be­klag­te die erklärten Kündi­gun­gen auf sach­lich zu­tref­fen­de Be­gründun­gen gestützt hat­te.

Dass in­so­weit auch die Vor­sit­zen­de Rich­te­rin in dem Be­ru­fungs­ver­fah­ren um die 6. Kündi­gung of­fen­sicht­lich den Ein­druck ge­won­nen hat­te, der Vor­trag der Be­klag­ten könne un­ter Umständen als ver­such­ter Pro­zess­be­trug zu wer­ten sein, zeigt über­dies, dass die Straf­an­zei­ge vom 13.02.2009 kei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des Klägers dar­stellt.

c) So­weit in dem Ver­hal­ten des Klägers gleich­wohl ein Grund zu se­hen wäre, der an sich ge­eig­net wäre, die strei­ti­ge außer­or­dent­li­che Kündi­gung zu recht­fer­ti­gen, führ­te je­den­falls die gemäß § 626 Abs. 1 BGB stets vor­zu­neh­men­de In­ter­es­sen­abwägung zum Ver­nei­nen ei­ner Un­zu­mut­bar­keit der Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses mit dem Kläger.

Für das Be­en­di­gungs­in­ter­es­se der Be­klag­ten spricht de­ren recht­lich geschütz­tes In­ter­es­se, nur sol­che Ar­beit­neh­mer zu beschäfti­gen, die sie nicht mit un­be­gründe­ten Straf­an­zei­gen über­zie­hen. Die­ses Be­en­di­gungs­in­ter­es­se über­wiegt in­des letzt­lich nicht das In­ter­es­se des Klägers, den Ar­beits­platz bei der Be­klag­ten zu er­hal­ten.

 

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Umstände, die ei­ne so­zia­le Schutz­bedürf­tig­keit des Klägers be­gründen, sind zum ei­nen die langjähri­ge, nämlich seit Sep­tem­ber 1992 be­ste­hen­de Be­triebs­zu­gehörig­keit und zum an­de­ren das Le­bens­al­ter des am 08.07.1948 ge­bo­re­nen Klägers. Die­se las­sen die frist­lo­se Kündi­gung nicht mehr bil­li­gens­wert und an­ge­mes­sen i. S. d. ein­schlägi­gen Prüfungs­maßstabs der höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung er­schei­nen. Das Ar­beits­verhält­nis ist da­mit nicht durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung vom 09.06.2009 mit so­for­ti­ger Wir­kung auf­gelöst.
2. Ei­ne Um­deu­tung der außer­or­dent­li­chen Kündi­gung gemäß § 140 BGB in ei­ne or­dent­li­che

Kündi­gung schei­tert dar­an, dass der Kläger – un­strei­tig - ta­rif­li­chen Son­derkündi­gungs­schutz vor or­dent­li­chen Kündi­gun­gen ge­nießt.

3. Der Wei­ter­beschäfti­gungs­an­spruch des Klägers er­gibt sich aus der Un­wirk­sam­keit der außer­or­dent­li­chen Kündi­gung. Ent­ge­gen­ste­hen­de über­wie­gend schutz­wer­te In­ter­es­se der Be­klag­ten wa­ren nicht er­sicht­lich. Die Wei­ter­beschäfti­gung hat zu un­veränder­ten ar­beits­ver­trag­li­chen Be­din­gun­gen als Meis­ter zu er­fol­gen.

III.

Die Kos­ten­ent­schei­dung zu Las­ten der im Be­ru­fungs­rechts­zug un­ter­le­gen­den Be­klag­ten be­ruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ein Grund, der nach den hierfür maßgeb­li­chen ge­setz­li­chen Kri­te­ri­en des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zu­las­sung der Re­vi­si­on recht­fer­ti­gen könn­te, be­steht nicht.

RECH­TSMIT­TEL­BE­LEH­RUNG

Ge­gen die­ses Ur­teil ist ein Rechts­mit­tel nicht ge­ge­ben.
We­gen der Möglich­keit der Nicht­zu­las­sungs­be­schwer­de wird auf § 72a ArbGG ver­wie­sen.

 

Dr. Wes­sel 

Prof. Dr. Rem­mel 

Kor­te
/Ne/WR.

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