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LAG Nie­der­sach­sen, Ur­teil vom 22.01.2009, 5 Sa 985/08 E

   
Schlagworte: Eingruppierung, Oberarzt: Eingruppierung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Aktenzeichen: 5 Sa 985/08 E
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 22.01.2009
   
Leitsätze: Die Problematik, ob dem Arzt die medizinische Verantwortung "ausdrücklich" übertragen worden ist, ist der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zugänglich. Auf das Bewusstsein der Arbeitgeberin, eine Aufgabenzuweisung könne die Grundlage für eine zukünftige Eingruppierung bilden, kommt es nicht an.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Wilhelmshaven, Urteil vom 19.05.2008, 2 Ca 425/07
   

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT

NIE­DERSACHSEN

 

Verkündet am:

22.01.2009

Ge­richts­an­ge­stell­te als Ur­kunds­be­am­tin der Geschäfts­stel­le

 

IM NA­MEN DES VOL­KES

UR­TEIL

5 Sa 985/08 E

2 Ca 425/07 ArbG Wil­helms­ha­ven

In dem Rechts­streit

Kläger und Be­ru­fungskläger,

ge­gen

Be­klag­te und Be­ru­fungs­be­klag­te,

hat die 5. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Nie­der­sach­sen auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 22. Ja­nu­ar 2009 durch

den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt Ku­bi­cki,
den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herr Prof. Bertrand,
den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Herr Bleck­mann

für Recht er­kannt:

Das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Wil­helms­ha­ven vom 19.05.2008 – 2 Ca 425/07 – wird auf die Be­ru­fung des Klägers teil­wei­se ab­geändert.

Es wird fest­ge­stellt, dass die Be­klag­te ver­pflich­tet ist, dem Kläger seit dem 01.10.2006 Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe 3 des Ta­rif­ver­tra­ges für Ärz­tin­nen und Ärz­te an kom­mu­na­len Kran­kenhäusern (TV-Ärz­te/VKA) vom 17.08.2006 zu zah­len.

Im Übri­gen wird die Kla­ge ab­ge­wie­sen.

Die wei­ter­ge­hen­de Be­ru­fung wird zurück­ge­wie­sen.

 

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Die Kos­ten des Rechts­streits ins­ge­samt hat die Be­klag­te zu tra­gen.

Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten um die ta­rif­ge­rech­te Ein­grup­pie­rung des Klägers.

Der 1985 ge­bo­re­ne Kläger ist auf­grund des Ar­beits­ver­tra­ges vom 30.10.1990 seit dem 01.01.1991 als Ober­arzt in der Kin­der­kli­nik des Kran­ken­hau­ses in A-Stadt für die Be­klag­te tätig.

Der schrift­li­che Ar­beits­ver­trag der Par­tei­en nimmt in § 2 auf den BAT und den die­sen ändern­den oder er­set­zen­den Ta­rif­verträgen in der für den Ar­beit­ge­ber gel­ten­den Fas­sung Be­zug. We­gen wei­te­rer Ein­zel­hei­ten wird auf eben die­sen Ar­beits­ver­trag, An­la­ge 1 zur Kla­ge­schrift, Bl. 8 – 10 der Ge­richts­ak­te, ver­wie­sen.

Die Be­klag­te zahl­te zunächst an den Kläger Vergütung gemäß Vergütungs­grup­pe I b BAT. Mit Schrei­ben vom 31.03.1992 ord­ne­te sie an, er wer­de ab dem 01.01.1992 wi­der­ruf­lich als ers­ter Ober­arzt und Ab­we­sen­heits­ver­tre­ter des lei­ten­den Arz­tes der Kin­der­kli­nik ein­ge­setzt. Auf­grund des­sen gewähr­te sie Vergütung nach Vergütungs­grup­pe I a BAT.

Die Kin­der­kli­nik im Kran­ken­haus be­steht aus 3 Sta­tio­nen für 3 ver­schie­de­ne Al­ters­grup­pen; ei­ne Un­ter­tei­lung nach Krank­heits­bil­dern exis­tiert nicht. Das Kran­ken­haus führt die Be­zeich­nung „Pe­ri­na­ta­l­zen­trum Le­vel 2“.

Mehr als 50 % sei­ner Tätig­keit ver­rich­tet der Kläger in der Sta­ti­on „Früh- und Neu­ge­bo­re­ne“. Die von ihm in An­spruch ge­nom­me­ne Ver­tre­tertätig­keit des Chef­arz­tes weist die­sen ho­hen Zeit­an­teil von 50 % al­ler­dings nicht aus.

Die Früh- und Neu­ge­bo­re­nen-Sta­ti­on ist räum­lich selbstständig und be­fin­det sich im Erd­ge­schoss der Kli­nik. Sie hat ei­nen ei­ge­nen as­sis­tenzärzt­li­chen Dienst seit 2006, es gibt dort ei­ge­nes Pfle­ge­per­so­nal, wel­ches aus­sch­ließlich für die­se Sta­ti­on tätig ist. Sie verfügt fer­ner über ei­ne ei­ge­ne Kos­ten­stel­le.

 

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Von den 7 Bet­ten die­ser Sta­ti­on sind 4 Bet­ten­plätze mit ei­ner be­son­de­ren Be­at­mungsmöglich­keit aus­ge­stat­tet, so­dass hier die Früh- und Neu­ge­bo­re­nen in­ten­siv be­treut wer­den können.

Der Kläger ist Fach­arzt für Kin­der- und Ju­gend­me­di­zin. Er verfügte bis En­de 2007 als ein­zi­ger Arzt der Kin­der­kli­nik über die Wei­ter­bil­dung zum Neo­na­to­lo­gen.

In Be­zug auf die ihm über­tra­ge­nen Auf­ga­ben hat er die Wei­sungs­be­fug­nis über ärzt­li­ches und nichtärzt­li­ches Per­so­nal. Er gibt den an­de­ren Ärz­ten An­lei­tung für In­ten­siv­be­hand­lun­gen, zeigt spe­zi­el­le Tech­ni­ken und über­wacht Be­at­mungsände­run­gen. Er wird während sei­nes Hin­ter­grund­diens­tes von As­sis­tenzärz­ten und Ober­arzt­kol­le­gen um Rat ge­fragt und weist die­se an. Er ist wei­sungs­be­fugt ge­genüber den bei­den an­de­ren Oberärz­ten so­wie di­ver­sen As­sis­tenzärz­ten. Le­dig­lich dem Chef­arzt ge­genüber ist er un­ter­ge­ord­net.

Seit dem 01.08.2006 fin­det auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en der TV-Ärz­te/VKA An­wen­dung. Die Be­klag­te gewährt dem Kläger Vergütung der Ent­gelt­grup­pe II, der Kläger be­gehrt Vergütung aus der Ent­gelt­grup­pe III und hat dies erst­mals mit ei­nem auf den 26.03.2007 da­tier­ten Schrei­ben ge­genüber der Be­klag­ten schrift­lich gel­tend ge­macht.

Nach Ab­leh­nung die­ses Be­geh­rens hat er sein Be­geh­ren im We­ge ei­ner Ein­grup­pie­rungs­fest­stel­lungs­kla­ge vor dem Ar­beits­ge­richt Wil­helms­ha­ven wei­ter­ver­folgt und die Fest­stel­lung der Vergütungs­pflicht durch die Be­klag­te aus der Ent­gelt­grup­pe III gemäß § 16 TV-Ärz­te/VKA wei­ter­ver­folgt. Er hat Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Vor­aus­set­zun­gen un­ter de­nen der Ta­rif­ver­trag ei­ne Höher­grup­pie­rung gewähre, sei­en ge­ge­ben.

Er hat be­an­tragt,

fest­zu­stel­len, dass die Be­klag­te ver­pflich­tet ist, ihm seit dem 01.08.2006 Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe III des Ta­rif­ver­tra­ges für Ärz­tin­nen und Ärz­te an kom­mu­na­len Kran­kenhäusern (TV-Ärz­te/VKA) vom 17.08.2006 zu zah­len.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

 

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Sie ist dem Ein­grup­pie­rungs­be­geh­ren ent­ge­gen­ge­tre­ten.

Mit Ur­teil vom 19.05.2008 hat das Ar­beits­ge­richt Wil­helms­ha­ven die Kla­ge ab­ge­wie­sen. We­gen der nähe­ren Ein­zel­hei­ten der recht­li­chen Würdi­gung wird auf die Ent­schei­dungs­gründe die­ses Ur­teils, Bl. 162 – 164 d. A., ver­wie­sen.

Die­ses Ur­teil ist dem Kläger am 24.06.2008 zu­ge­stellt wor­den. Hier­ge­gen hat er mit ei­nem am 09.07.2008 beim Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz Be­ru­fung ein­ge­legt und die­se mit ei­nem am 25.08.2008 (Mon­tag) ein­ge­gan­ge­nen Schrift­satz be­gründet. Mit sei­ner Be­ru­fung ver­folgt der Kläger das erst­in­stanz­li­che Kla­ge­ziel wei­ter.

Er be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Wil­helms­ha­ven vom 19.05.2008, Az.: 2 Ca 425/07, ab­zuändern und fest­zu­stel­len, dass die Be­klag­te ver­pflich­tet ist, ihm seit dem 01.08.2006 Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe III des Ta­rif­ver­tra­ges für Ärz­tin­nen und Ärz­te an kom­mu­na­len Kran­kenhäusern (TV-Ärz­te/VKA) vom 17.08.2006 zu zah­len.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

Sie ver­tei­digt das an­ge­foch­te­ne Ur­teil als sach­lich rich­tig und die von ihr vor­ge­nom­me­ne Ein­grup­pie­rung als ta­rif­ge­recht.

We­gen wei­te­rer Ein­zel­hei­ten des Vor­brin­gens der Par­tei­en in der Be­ru­fung wird Be­zug ge­nom­men auf ih­re Schriftsätze vom 25.08. und 29.09.2008 so­wie das Sit­zungs­pro­to­koll vom 22.01.2009.

 

Ent­schei­dungs­gründe

A.
Die Be­ru­fung ist zulässig. Sie ist statt­haft so­wie form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und be­gründet wor­den (§§ 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO). Ins­be­son­de­re ist die am Mon­tag, den 25.08.2008 ein­ge­gan­ge­ne Be­ru­fungs­be­gründung gemäß §§ 193 BGB, 222 ZPO frist­wah­rend.

 

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B.
Die Be­ru­fung ist im We­sent­li­chen be­gründet. Der Kläger kann be­gin­nend mit dem 01.10.2006 die Fest­stel­lung der Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe III des Ta­rif­ver­tra­ges für Ärz­tin­nen und Ärz­te an kom­mu­na­len Kran­kenhäusern ver­lan­gen. Ihm steht die Vergütung gemäß § 16 des zu­vor ge­nann­ten Ta­rif­ver­tra­ges zu.

I.
Die Kla­ge ist als Ein­grup­pie­rungs­fest­stel­lungs­kla­ge gemäß § 256 ZPO zulässig. Es han­delt sich vor­lie­gend um ei­ne im Ar­beits­recht übli­che Ein­grup­pie­rungs­fest­stel­lungs­kla­ge, de­ren Zulässig­keit so­wohl in der Pri­vat­wirt­schaft als auch im öffent­li­chen Dienst all­ge­mein an­er­kannt ist.

II.
Die Kla­ge ist im We­sent­li­chen be­gründet. Le­dig­lich so­weit es die Mo­na­te Au­gust und Sep­tem­ber 2006 an­be­langt, hat der Kläger kei­nen An­spruch auf die von ihm be­gehr­te Fest­stel­lung, weil die­ser we­gen Nicht­ein­hal­tung der 6-mo­na­ti­gen Aus­schluss­frist des § 37 Abs. 1 TV-Ärz­te/VKA ver­fal­len ist. Die erst­ma­li­ge Gel­tend­ma­chung des Höher­grup­pie­rungs­be­geh­rens wahrt le­dig­lich die Ansprüche des Klägers ab dem 01.10.2006.

Da­von ab­ge­se­hen hat der Kläger un­ein­ge­schränkt An­spruch auf Vergütung nach der Ent­gelt­grup­pe III des § 16 des Ta­rif­ver­tra­ges TV-Ärz­te/VKA.

1.
Auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en fin­det der TV-Ärz­te/VKA An­wen­dung. Nach §§ 15, 16 die­ses Ta­rif­ver­tra­ges hängt der Rechts­streit da­von ab, ob der Kläger mit min­des­tens der Hälf­te sei­ner Ar­beits­zeit Ar­beits­vorgänge zu be­ar­bei­ten hat, die den ta­rif­li­chen An­for­de­run­gen der be­gehr­ten Ent­gelt­grup­pe III ent­spre­chen. Die Ent­gelt­grup­pe III enthält fol­gen­den Wort­laut:

„Oberärz­tin/Ober­arzt“.

Nach der Pro­to­kollerklärung zu § 16 lit. c ha­ben die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en vor­ste­hen­de Be­rufs­be­zeich­nung wie folgt erläutert:
„Ober­arzt/Oberärz­tin“ ist die­je­ni­ge Ärz­tin/der­je­ni­ge Arzt

 

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- der/dem die me­di­zi­ni­sche Ver­ant­wor­tung
- für selbstständi­ge Teil- oder Funk­ti­ons­be­rei­che der Kli­nik bzw. Ab­tei­lung
- vom Ar­beit­ge­ber aus­drück­lich über­tra­gen wor­den ist.

2.
Die Tätig­keit des Klägers ist als ein ein­zi­ger großer Ar­beits­vor­gang zu wer­ten. Es gilt dies­bezüglich die all­ge­mei­ne Grund­re­gel, der­zu­fol­ge in der Re­gel die Tätig­keit bei Ärz­ten le­dig­lich ei­nen ein­zi­gen großen Ar­beits­vor­gang dar­stellt, was dem er­kenn­ba­ren Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ent­spricht (LAG Rhein­land-Pfalz, Ur­teil vom 26.08.2008, Az.: 3 Sa 768/07 – ju­ris; BAG, Ur­teil vom 25.10.1995, Az.: 4 AZR 479/94 – NZA 1996, 710 – 714). Denn die Tätig­kei­ten des Klägers wer­den als ärzt­li­che Tätig­keit die der Pa­ti­en­ten­ver­sor­gung zu­ge­rech­net, was das zen­tra­le Kri­te­ri­um ist, um ei­nen ein­heit­li­chen Ar­beits­vor­gang an­zu­neh­men (vgl. BAG, Ur­teil vom 14.08.1991, Az.: 4 AZR 25/91 – AP Nr. 159 zu §§ 22, 23 BAT 1975).

3.
Die Früh- und Neu­ge­bo­re­nen­sta­ti­on, in der der Kläger mit mehr als 50 % sei­ner Ar­beits­zeit tätig ist, ist auch ein selbstständi­ger Funk­ti­ons­be­reich im Sin­ne des Ta­rif­ver­tra­ges.

Bei die­ser Sta­ti­on han­delt es sich zunächst um ei­nen Funk­ti­ons­be­reich, nämlich um ei­ne Ein­heit, die ein wis­sen­schaft­lich an­er­kann­tes Spe­zi­al­ge­biet in­ner­halb ei­nes Fach­ge­bie­tes be­trifft. In­so­weit ist die Ter­mi­no­lo­gie des TV-Ärz­te/VKA nicht neu und es kann auf die Be­griff­lich­kei­ten des BAT zurück­ge­grif­fen wer­den.

Die Neo­na­to­lo­gie, al­so die Heil­kun­de für Früh- und Neu­ge­bo­re­ne ist ein an­er­kann­ter Schwer­punkt der Fach­rich­tung Kin­der­heil­kun­de/Ju­gend­me­di­zin.

Die­ser Funk­ti­ons­be­reich ist auch selbstständig im Sin­ne des Ta­rif­rechts. Für die­se Selbstständig­keit ist es er­for­der­lich, wenn der Funk­ti­ons­be­reich or­ga­ni­sa­to­risch ab­grenz­bar in­ner­halb der Kli­nik oder der Ab­tei­lung vor­han­den ist. Es muss ei­ne fach­li­che und weit­ge­hend auch räum­li­che und per­so­nel­le Ab­grenz­bar­keit ge­ge­ben sein (TVÖD, Kom­men­tar, 14. Lie­fe­rung, Stand Ju­li 07, TV-Ärz­te/VKA § 16 Rd­Nr. 45, An­ton, ZTR 2008, 184 – 189). Die­se Vor­aus­set­zun­gen sind im Ter­min der Be­ru­fungs­ver­hand­lung erörtert und un­strei­tig ge­stellt wor­den. Die Neu- und Frühge­bo­re­nen­sta­ti­on ent­spricht die­sem Er­for­der­nis der Selbstständig­keit, sie ist ei­ne selbstständig ab­ge­grenz­te or­ga­ni­sa­to­ri­sche Ein­heit.

 

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4.
Der Kläger hat auch die me­di­zi­ni­sche Ver­ant­wor­tung für die­se Sta­ti­on in­ne.

a)
Die­ses be­son­de­re Höher­grup­pie­rungs­merk­mal schei­tert nicht an der Letzt­ver­ant­wort­lich­keit des Chef­arz­tes, wel­cher im vor­lie­gen­den Streit­fall dem Kläger über­ge­ord­net ist. Die­ser Pro­blem­kreis ist in Recht­spre­chung in Li­te­ra­tur um­strit­ten: Teil­wei­se wird das Merk­mal der „me­di­zi­ni­schen Ver­ant­wor­tung“ ver­neint, wenn die Letzt­ver­ant­wort­lich­keit des Chef­arz­tes ge­ge­ben ist (An­ton, a.a.O.; LAG Rhein­land-Pfalz a.a.O.), teil­wei­se wird ver­tre­ten, dass die­ser Um­stand unschädlich sei (LAG Sach­sen, Ur­teil vom 04.06.2008, Az.: 9 Sa 658/07 – ju­ris; LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 13.08.2008, Az.: 2 Sa 329/07 ju­ris).

Das Be­ru­fungs­ge­richt folgt der zu­letzt ge­nann­ten Auf­fas­sung: We­der Wort­laut noch der ta­rif­li­che Ge­samt­zu­sam­men­hang las­sen ei­nen zwei­fels­frei­en Rück­schluss auf den wirk­li­chen Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en zu. Des­we­gen tritt der vom Bun­des­ar­beits­ge­richt zi­tier­te Ge­sichts­punkt der Prak­ti­ka­bi­lität als Hilfs­kri­te­ri­um bei der Aus­le­gung ei­nes Ta­rif­ver­tra­ges in den Vor­der­grund (BAG, Ur­teil vom 21.08.2003, Az.: 8 AZR 430/02 – AP Nr. 185 zu § 185 zu § 1 TVG Ta­rif­verträge Me­tall­in­dus­trie). Da­nach ist die Prak­ti­ka­bi­lität denk­ba­rer Aus­le­gungs­er­geb­nis­se zu berück­sich­ti­gen, im Zwei­fel gebührt der­je­ni­gen Ta­rif­aus­le­gung der Vor­zug, die zu ei­ner vernünf­ti­gen, sach­ge­rech­ten, zweck­ori­en­tier­ten und prak­tisch brauch­ba­ren Lösung führt.

Un­ter Berück­sich­ti­gung die­ses Aus­le­gungs­kri­te­ri­ums lässt sich Fol­gen­des fest­stel­len: Schlösse die Letzt­ver­ant­wor­tung des Chef­arz­tes die Zu­er­ken­nung des Ein­grup­pie­rungs­merk­ma­les „me­di­zi­ni­sche Ver­ant­wor­tung“ aus, dann könn­te kaum ein Ober­arzt die­ses Ein­grup­pie­rungs­merk­mal erfüllen. Denn in na­he­zu je­dem Kran­ken­haus gibt es ei­nen Chef­arzt, der kraft Stel­lung Vor­ge­setz­ter des Ober­arz­tes ist und be­reits des­we­gen die me­di­zi­ni­sche Letzt­ver­ant­wor­tung in­ne hat. Der An­wen­dungs­be­reich die­ser Ta­rif­norm lie­fe prak­tisch leer. Dies können die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en auf der Ba­sis ei­ner vernünf­ti­gen sach­ge­rech­ten und zweck­ori­en­tier­ten Aus­le­gung des Ta­rif­ver­tra­ges nicht ge­wollt ha­ben.

b)
Im Übri­gen lässt sich die me­di­zi­ni­sche Ver­ant­wor­tung des Klägers für den Be­reich der Früh- und Neu­ge­bo­re­nen­sta­ti­on be­ja­hen. Er ist – vom Chef­arzt ab­ge­se­hen – der me­di­zi-

 

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ni­sche Lei­ter die­ser Sta­ti­on und an­de­ren As­sis­tenz-, Fach- und Oberärz­ten ge­genüber wei­sungs­be­rech­tigt.

5.
Ihm sind die­se Kom­pe­ten­zen auch aus­drück­lich vom Ar­beit­ge­ber über­tra­gen wor­den. Das Schrei­ben der Be­klag­ten vom 31.03.1992 enthält die­se aus­drück­li­che Über­tra­gung.

a)
Die­ses Schrei­ben stammt un­pro­ble­ma­tisch von der Be­klag­ten, mit­hin vom Ar­beit­ge­ber im Sin­ne der Ta­rif­norm.

b)
Die­ses Schrei­ben enthält auch die aus­drück­li­che Kom­pe­tenzüber­tra­gung.

Die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ha­ben das Merk­mal der „Aus­drück­lich­keit“ nicht näher de­fi­niert. Es ist da­von aus­zu­ge­hen, dass die­ses Merk­mal nach den übli­chen Aus­le­gungs­grundsätzen, die bei Ta­rif­verträgen gel­ten be­stimmt wird:

Nach ständi­ger und all­ge­mein an­er­kann­ter Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts folgt die Aus­le­gung des nor­ma­ti­ven Teils ei­nes Ta­rif­ver­tra­ges, den für die Aus­le­gung von Ge­set­zen gel­ten­den Re­geln. Da­nach ist zunächst vom Ta­rif­wort­laut aus­zu­ge­hen, wo­bei der maßgeb­li­che Sinn der Erklärung zu er­for­schen ist, oh­ne am Buch­sta­ben zu haf­ten. Bei nicht ein­deu­ti­gem Wort­laut ist der wirk­li­che Wil­le der Ta­rif­ver­trags­par­tei mit­zu­berück­sich­ti­gen, so­weit er in den ta­rif­li­chen Nor­men sei­nen Nie­der­schlag ge­fun­den hat. Ab­zu­stel­len ist fer­ner auf den ta­rif­li­chen Ge­samt­zu­sam­men­hang, weil die­ser An­halts­punk­te für den wirk­li­chen Wil­len der Ta­rif­ver­trags­par­tei­en lie­fert und nur so der Sinn und der Zweck der Ta­rif­norm zu­tref­fend er­mit­telt wer­den kann. Lässt dies zwei­fels­freie Aus­le­gungs­er­geb­nis nicht zu, dann können die Ge­rich­te für Ar­beits­sa­chen oh­ne Bin­dung an ei­ne Rei­hen­fol­ge wei­te­re Kri­te­ri­en, wie die Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Ta­rif­ver­tra­ges, ge­ge­be­nen­falls auch die prak­ti­sche Ta­rifübung ergänzend her­an­zie­hen. Auch die Prak­ti­ka­bi­lität denk­ba­rer Aus­le­gungs­er­geb­nis­se gilt es zu berück­sich­ti­gen; im Zwei­fel gebührt der­je­ni­gen Ta­rif­aus­le­gung der Vor­zug, die zu ei­ner vernünf­ti­gen, sach­ge­rech­ten, zweck­ori­en­tier­ten und prak­tisch brauch­ba­ren Re­ge­lung führt (BAG, Ur­teil vom 21.08.2003, Az.: 8 AZR 430/02 – AP Nr. 185 zu § 1 TVG Ta­rif­verträge Me­tall­in­dus­trie; BAG, Ur­teil vom 22.10.2003, Az.: 10 AZR 152/03 – BA­GE 108, 176 – 184; BAG, Ur­teil vom 24.10.2007, Az.: 10 AZR 878/06 – ju­ris).

 

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c)
Nach die­sen Aus­le­gungs­grundsätzen gel­ten für das Merk­mal der Aus­drück­lich­keit fol­gen­de Grundsätze: Be­reits sei­nem Wort­sinn nach un­ter­schei­det der Ta­rif­ver­trag die schlich­te Über­tra­gung von der im vor­lie­gen­den Zu­sam­men­hang ge­for­der­ten aus­drück­li­chen Über­tra­gung. Ei­ne aus­drück­li­che Über­tra­gung braucht nicht wortwört­lich zu er­fol­gen, sie muss je­doch hin­rei­chend und genügend deut­lich wer­den. Mit die­sem Ta­rif­merk­mal woll­ten die Ta­rif­ver­trags­par­tei­en ei­ne still­schwei­gen­de, kon­klu­den­te oder ge­ge­be­nen­falls schlei­chen­den Über­tra­gung der me­di­zi­ni­schen Ver­ant­wor­tung nicht aus­rei­chen las­sen. Rein tatsächli­che Dis­po­si­tio­nen ei­nes lei­ten­den Arz­tes genügen nicht.

d)
Die­sem Merk­mal genügt die durch Schrei­ben vom 31.03.1992 vor­ge­nom­me­ne Über­tra­gung.

Durch die wortwört­li­che Über­tra­gung der Auf­ga­ben­stel­lung ei­nes „ers­ten Ober­arz­tes“ hat die Be­klag­te ein­deu­tig und für je­der­mann nach all­ge­mei­nen Aus­le­gungs­grundsätzen gemäß §§ 133, 157 BGB er­kenn­bar dem Kläger den ers­ten Rang un­ter den Ärz­ten ein­geräumt mit Aus­nah­me des über­ge­ord­ne­ten Chef­arz­tes. Mit die­ser Zu­wei­sung ei­ner Auf­ga­ben­stel­lung und hier­ar­chisch zweithöchs­ten Po­si­ti­on war ge­wis­ser­maßen au­to­ma­tisch auch die me­di­zi­ni­sche Ver­ant­wor­tung für die Pa­ti­en­ten der Früh- und Neu­ge­bo­re­nen­sta­ti­on ver­bun­den, wo­bei wie be­reits aus­geführt, die Letzt­ver­ant­wort­lich­keit des Chef­arz­tes unschädlich ist. Kei­nes­wegs kommt es dar­auf an, dass die Be­klag­te bei Vor­nah­me der Auf­ga­ben­zu­wei­sung die Vor­stel­lung hat­te, die Grund­la­gen für ei­ne zukünf­ti­ge – und zum da­ma­li­gen Zeit­punkt noch nicht ab­seh­ba­re - Höher­grup­pie­rung zu schaf­fen. Auf ei­ne sol­che Vor­stel­lung kommt es nicht an, wie der grund­le­gen­den Sys­te­ma­tik der Rechts­geschäfts­leh­re, ins­be­son­de­re den §§ 116 – 119 BGB zu ent­neh­men ist. Der in­ne­re Wil­le ist grundsätz­lich un­be­acht­lich. Es kommt auf die Erklärung an, wie sie sich nach außen dar­stellt.

Nach Auf­fas­sung der Kam­mer ist ei­ne aus­drück­li­che Über­tra­gung der me­di­zi­ni­schen Ver­ant­wor­tung be­reits zu ei­nem Zeit­punkt möglich ge­we­sen, zu dem der TV-Ärz­te/VKA noch nicht galt. Die­ses da­mals nach all­ge­mei­nen Aus­le­gungs­grundsätzen zu un­ter­su­chen­de Über­tra­gung hat auch heu­te noch Gültig­keit und braucht nicht noch ein­mal wie­der­holt zu wer­den.

 

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Nach al­le­dem war das Höher­grup­pie­rungs­be­geh­ren des Klägers ge­recht­fer­tigt.

C.
In ent­spre­chen­der An­wen­dung des § 92 Abs. 2 ZPO hat die Be­klag­te die ge­sam­ten Pro­zess­kos­ten al­lein zu tra­gen. Denn die Zu­viel­for­de­rung des Klägers war äußerst ge­ringfügig und recht­fer­tigt kei­ne Kos­ten­quo­telung. Die Re­vi­si­on war gemäß § 72 II ArbGG we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung der ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Rechts­fra­ge zu­zu­las­sen.

Rechts­mit­tel­be­leh­rung

Ge­gen die­ses Ur­teil fin­det, wie sich aus der Ur­teils­for­mel er­gibt, die Re­vi­si­on statt.

Die Re­vi­si­ons­schrift muss in­ner­halb ei­nes Mo­nats nach Zu­stel­lung die­ses Ur­teils, die Re­vi­si­ons­be­gründung in­ner­halb von zwei Mo­na­ten nach Zu­stel­lung die­ses Ur­teils bei dem Bun­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­hen.

Die An­schrift des Bun­des­ar­beits­ge­richts lau­tet:

Post­fach, 99113 Er­furt

oder

Hu­go-Preuß-Platz 1, 99084 Er­furt.

Te­le­fax-Nr.: (0361) 26 36 – 20 00

Die Re­vi­si­ons- und die Re­vi­si­ons­be­gründungs­schrift müssen von ei­nem Rechts­an­walt un­ter­zeich­net sein.

Die Re­vi­si­ons­schrift, die Re­vi­si­ons­be­gründungs­schrift und die sons­ti­gen wech­sel­sei­ti­gen Schriftsätze im Re­vi­si­ons­ver­fah­ren sol­len 7-fach – für je­den wei­te­ren Be­tei­lig­ten ein Ex­em­plar mehr – ein­ge­reicht wer­den.

 

Ku­bi­cki 

Prof. Bertrand 

Bleck­mann

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