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ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/088

Ar­beits­ver­trags­richt­li­ni­en (AVR) und Ta­rif­ver­trag

Kei­ne Ab­lö­sung ar­beits­ver­trag­lich ver­ein­bar­ter AVR durch we­ni­ger güns­ti­gen Haus­ta­rif­ver­trag: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 22.02.2012, 4 AZR 24/10
Gesetzestext mit darauf liegendem Holzkreuz

28.02.2012. Ta­rif­ver­trä­ge sind da­zu da, zu­guns­ten der Ar­beit­neh­mer Min­dest­ar­beits­be­din­gun­gen fest­zu­le­gen, die durch den Ar­beits­ver­trag nicht un­ter­schrit­ten wer­den kön­nen. Was vie­le nicht wis­sen: Ta­rif­ver­trä­ge wur­den in der Ver­gan­gen­heit auch oft da­zu ein­ge­setzt, die Löh­ne und an­de­re Ar­beits­be­din­gun­gen ziel­ge­rich­tet "ab­zu­sen­ken", d.h. zu ver­schlech­tern. Da­zu wur­den Be­trie­be oder gan­ze Toch­ter­un­ter­neh­men gro­ßer Kon­zer­ne auf ei­nen neu­en Ar­beit­ge­ber über­tra­gen, der zwar auch Ta­rif­ver­trä­ge an­wand­te, aber eben we­ni­ger gu­te. Die Fol­ge war dann lan­ge Jah­re, dass die schlech­ten Er­wer­ber­ta­rif­ver­trä­ge ab dem Zeit­punkt des Be­triebs­über­gangs die bis­he­rig gel­ten­den bes­se­ren Ta­rif­ver­trä­ge ver­dräng­ten (§ 613a Abs.1 Satz 3 Bür­ger­li­ches Ge­setz­buch - BGB).

Die­se Form der Lohn­sen­kung per Ta­rif­ver­trag macht das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) aber seit 2007 zu­recht nicht mehr mit. Denn prak­tisch im­mer ent­hal­ten die Ar­beits­ver­trä­ge der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer ei­nen Ver­weis ("In­be­zug­nah­me") auf die "al­ten gu­ten" Ta­rif­ver­trä­ge, so dass hier die Re­gel gel­ten muss, dass sich güns­ti­ge­re ar­beits­ver­trag­li­che Re­ge­lun­gen ge­gen­über schlech­te­ren ta­rif­ver­trag­li­chen Re­ge­lun­gen durch­set­zen (Güns­tig­keits­prin­zip, § 4 Abs.3 Ta­rif­ver­trags­ge­setz - TVG). Denn durch die ar­beits­ver­trag­li­che In­be­zug­nah­me von Ta­rif­ver­trä­gen gel­ten die­se (auch) als Be­stand­teil des Ar­beits­ver­trags.

Vor ei­ni­gen Ta­gen hat das BAG klar­ge­stellt, dass auch kirch­li­che Ar­beits­ver­trags­richt­li­ni­en (AVR), de­ren An­wen­dung der Ar­beit­neh­mer auf­grund sei­nes Ar­beits­ver­trags ver­lan­gen kann, nicht durch schlech­te­re Er­wer­ber-Ta­rif­ver­trä­ge ver­drängt wer­den: BAG, Ur­teil vom 22.02.2012, 4 AZR 24/10.

Im Ar­beits­ver­trag ver­ein­bar­te Ar­beits­ver­trags­richt­li­ni­en (AVR) und Haus­ta­rif­ver­trag des Be­triebs­er­wer­bers - was geht vor?

Vie­le kirch­li­che Ar­beit­ge­ber re­geln ih­re Ar­beits­be­din­gun­gen mit ta­rif­ver­tragsähn­li­chen Re­ge­lungs­wer­ken, den Ar­beits­ver­trags­richt­li­ni­en (AVR). AVR sind aber kei­ne Ta­rif­verträge, denn sie sind nicht Re­sul­tat frei­er Ta­rif­ver­hand­lun­gen (in­klu­si­ve ge­werk­schaft­li­cher Streiks). AVR wer­den viel­mehr "in­tern" von kirch­li­chen Kom­mis­sio­nen nach Er­mes­sen fest­ge­setzt.

Wie ge­sagt macht das BAG seit 2007 die Lohn­sen­kung als Fol­ge schlech­te­rer Er­wer­ber-Ta­rif­verträge nicht mehr mit (wir be­rich­te­ten darüber u.a. in Ar­beits­recht ak­tu­ell 07/10 Bun­des­ar­beits­ge­richt ver­ab­schie­det „Gleich­stel­lungs­ab­re­de“ und in Ar­beits­recht ak­tu­ell 07/54 Ab­schied von der Gleich­stel­lungs­ab­re­de - Teil II). Bis­lang nicht aus­drück­lich ent­schie­den hat das BAG die Fra­ge, ob mögli­cher­wei­se dann et­was an­de­res gilt, wenn ein nicht kirch­li­cher Be­triebs­er­wer­ber ei­nen Be­trieb über­nimmt, der früher ein­mal zur Kir­che gehörte und in dem da­her bis­lang Ar­beits­ver­trags­richt­li­ni­en (AVR) an­ge­wandt wur­den.

Der Streit­fall: He­li­os Kli­ni­ken über­nimmt das Sankt Eli­sa­beth Kran­ken­haus in Ober­hau­sen

Ge­klagt hat­ten 11 alt­ge­dien­te Ar­beit­neh­me­rin­nen und Ar­beit­nehm­ner ei­nes vor­mals zur ka­tho­li­schen Ca­ri­tas gehören­den Kran­ken­hau­ses in Ober­hau­sen. In ih­ren Ar­beits­verträgen war ver­ein­bart, dass die AVR des Deut­schen Ca­ri­tas­ver­ban­des "in der je­weils gülti­gen Fas­sung" gel­ten soll­ten. 2007 über­nahm die He­li­os Kli­ni­ken GmbH das Kran­ken­haus bzw. die Kran­ken­haus­träger-GmbH. Ei­ni­ge Mo­na­te zu­vor hat­te die He­li­os Kli­ni­ken GmbH ei­ni­ge Ta­rif­verträge mit der Ge­werk­schaft ver.di ab­ge­schlos­sen, de­nen zu­fol­ge die Ar­beit­neh­mer des Kran­ken­hau­ses künf­tig nach den im He­li­os-Kon­zern gel­ten­den Ta­ri­fen be­zahlt wer­den soll­ten. Das soll­te zwar un­ter Wah­rung des zu­letzt be­zo­ge­nen Loh­nes ge­sche­hen, doch wa­ren die Ar­beit­neh­mer da­mit von künf­ti­gen lau­fen­den Loh­nerhöhun­gen auf Ba­sis der AVR Ca­ri­tas aus­ge­schlos­sen.

Die 11 Kran­ken­haus­mit­ar­bei­ter wa­ren zwar ver.di-Mit­glie­der, woll­ten aber nicht nach den ungüns­ti­ge­ren ver-di-Ta­rif­verträgen be­zahlt wer­den. Sie klag­ten da­her auf die Fest­stel­lung, dass ih­nen auch nach dem 01.01.2008 Be­zah­lung nach ih­rer AVR-Lohn­grup­pe zu­steht, und zwar in der je­weils gel­ten­den Fas­sung der AVR. Da­mit hat­ten sie so­wohl vor dem Ar­beits­ge­richt Ober­hau­sen Er­folg (Ur­teil vom 03.04.2009, 3 Ca 2185/08) als auch vor dem Lan­des­ar­beits­ge­richt Düssel­dorf (Ur­teil vom 09.11.2009, 16 Sa 582/09). Und auch das BAG ur­teil­te, dass die Kläger trotz der für sie als ver.di-Mit­glie­der gel­ten­den He­li­os-Ta­rif­verträge künf­tig wei­ter­hin die AVR-Loh­nerhöhun­gen be­an­spru­chen können.

Zur Be­gründung heißt es in der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mit­tei­lung des BAG: Ein Ta­rif­ver­trag kann auch bei bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­ge­bun­den­heit ei­ne Ver­ein­ba­rung in ei­nem Ar­beits­ver­trag nicht ablösen. Das gilt erst recht für kirch­li­che AVR, die ja im­mer nur auf­grund ar­beits­ver­trag­li­cher Be­zug­nah­me an­wend­bar sind. Das Verhält­nis von ein­zel­ver­trag­li­chen Ansprüchen (hier: Ansprüche gemäß AVR Ca­ri­tas) zu da­ne­ben be­ste­hen­den ta­rif­ver­trag­li­chen Ansprüchen (hier: Ansprüche gemäß ver.di-Ta­rif­verträgen) ist nach dem Güns­tig­keits­prin­zip des § 4 Abs. 3 TVG zu klären, so das BAG.

Fa­zit: AVR sind aus Sicht kirch­li­cher Ar­beit­ge­ber im Ver­gleich zu Ta­rif­verträgen "smart", da sie nicht als Re­sul­tat frei­er Ta­rif­ver­hand­lun­gen zu­stan­de kom­men. An­de­rer­seits sind sie im­mer und ewig nur Be­stand­teil der Ar­beits­verträge und können da­her im Fal­le ei­nes Be­triebsüber­gangs nicht durch ab­wei­chen­de Ta­rif­verträge er­setzt wer­den. Die­ser Weg ist al­ler­dings seit 2007 auch nicht-kirch­li­chen Ar­beit­ge­bern ver­sperrt, es sei denn, sie ha­ben bei der An­wen­dung von Ta­rif­verträgen aus­nahms­wei­se ein­mal ar­beits­ver­trag­lich un­miss­verständ­lich klar­ge­stellt, dass sie die Ta­rif­verträge nur so an­wen­den wol­len, wie es Ge­werk­schafts­mit­glie­dern auf­grund ih­rer Ge­werk­schafts­mit­glied­schaft zu­steht (ein­deu­ti­ge Gleich­stel­lungs­ab­re­de).

Ar­beit­neh­mern kirch­li­cher Ein­rich­tun­gen ist da­her zu ra­ten, die An­wen­dung der ar­beits­ver­trag­lich zu­ge­si­cher­ten AVR auch von ei­nem nicht kirch­li­chen Er­wer­ber zu ver­lan­gen und not­falls ein­zu­kla­gen. Und auf gar kei­nen Fall soll­te man ei­ner Ver­tragsände­rung zu­stim­men, der zu­fol­ge die AVR durch ab­wei­chen­de ta­rif­li­che Re­ge­lun­gen er­setzt wer­den, es sei denn, dass die­se Ta­rif­verträge min­des­tens so güns­tig sind wie die AVR.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das Ge­richt sei­ne Ent­schei­dungs­gründe schrift­lich ab­ge­fasst und veröffent­licht. Die Ent­schei­dungs­gründe im Voll­text fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 31. Mai 2018

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