HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

EuGH, Ur­teil vom 27.04.2017, C-680/15 C-681/15 - As­kle­pios

   
Schlagworte: Betriebsübergang, Tarifvertrag, Bezugnahmeklausel, Betriebsübergang: Tarifvertrag
   
Gericht: Europäischer Gerichtshof
Aktenzeichen: C-680/15
C-681/15
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 27.04.2017
   
Leitsätze: Art.3 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen in Verbindung mit Art.16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass sich im Fall eines Betriebsübergangs die Fortgeltung der sich für den Veräußerer aus einem Arbeitsvertrag ergebenden Rechte und Pflichten auf die zwischen dem Veräußerer und dem Arbeitnehmer privatautonom vereinbarte Klausel erstreckt, wonach sich ihr Arbeitsverhältnis nicht nur nach dem zum Zeitpunkt des Übergangs geltenden Kollektivvertrag, sondern auch nach den diesen nach dem Übergang ergänzenden, ändernden und ersetzenden Kollektivverträgen richtet, sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsieht.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Offenbach, Urteil vom 12.03.2013, , 12. März 2013, Az:
Hessisches LAG, Urteil vom 10.12.2013, 8 Sa 538/13
BAG, Beschluss vom 17.06.2015, 4 AZR 61/14 (A)
   

UR­TEIL DES GERICH­TSHOFS (Drit­te Kam­mer)

27. April 2017(*)

„Vor­la­ge zur Vor­ab­ent­schei­dung - Un­ter­neh­mensüber­gang - Wah­rung von Ansprüchen der Ar­beit­neh­mer - Richt­li­nie 2001/23/EG - Art.3 - Ar­beits­ver­trag - Rechts­vor­schrif­ten ei­nes Mit­glied­staats, die die Ver­ein­ba­rung von Klau­seln ge­stat­ten, die auf Ta­rif­verträge nach dem Zeit­punkt des Über­gangs ver­wei­sen - Wirk­sam­keit ge­genüber dem Er­wer­ber“

In den ver­bun­de­nen Rechts­sa­chen C-680/15 und C-681/15

be­tref­fend zwei Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen nach Art. 267 AEUV, ein­ge­reicht vom Bun­des­ar­beits­ge­richt (Deutsch­land) mit Ent­schei­dun­gen vom 17. Ju­ni 2015, beim Ge­richts­hof ein­ge­gan­gen am 17. De­zem­ber 2015, in den Ver­fah­ren

As­kle­pios Kli­ni­ken Lan­gen-Se­li­gen­stadt GmbH

ge­gen

Ivan Fel­ja (C-680/15)

und

As­kle­pios Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft mbH

ge­gen

Vit­to­ria Graf (C-681/15)

erlässt


DER GERICH­TSHOF (Drit­te Kam­mer)

un­ter Mit­wir­kung des Kam­mer­präsi­den­ten L. Bay Lar­sen so­wie der Rich­ter M. Vil­a­ras, J. Ma­le­n­ovský (Be­richt­er­stat­ter), M. Saf­jan und D. Šváby,

Ge­ne­ral­an­walt: Y. Bot,

Kanz­ler: K. Ma­lacek, Ver­wal­tungs­rat,

auf­grund des schrift­li­chen Ver­fah­rens und auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 23. No­vem­ber 2016,

un­ter Berück­sich­ti­gung der Erklärun­gen

- der As­kle­pios Kli­ni­ken Lan­gen-Se­li­gen­stadt GmbH und der As­kle­pios Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft mbH, ver­tre­ten durch Rechts­anwältin A. Dzi­uba und Rechts­an­walt W. Li­pin­ski,

- von Ivan Fel­ja und Vit­to­ria Graf, ver­tre­ten durch R. Busch­mann als Rechts­bei­stand,

- des König­reichs Nor­we­gen, ver­tre­ten durch C. An­ker, C. Ryd­ning und P. Wen­nerås als Be­vollmäch­tig­te,

- der Eu­ropäischen Kom­mis­si­on, ver­tre­ten durch T. Ma­xi­an Ru­sche und M. Kel­ler­bau­er als Be­vollmäch­tig­te,

nach Anhörung der Schluss­anträge des Ge­ne­ral­an­walts in der Sit­zung vom 19. Ja­nu­ar 2017

fol­gen­des

Ur­teil

1 Die Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chen be­tref­fen die Aus­le­gung von Art.3 der Richt­li­nie 2001/23/EG des Ra­tes vom 12. März 2001 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über die Wah­rung von Ansprüchen der Ar­beit­neh­mer beim Über­gang von Un­ter­neh­men, Be­trie­ben oder Un­ter­neh­mens- oder Be­triebs­tei­len (ABl. 2001, L 82, S. 16) so­wie von Art.16 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on (im Fol­gen­den: Char­ta).
2 Die­se Er­su­chen er­ge­hen im Rah­men zwei­er Rechts­strei­tig­kei­ten zwi­schen Ivan Fel­ja bzw. Vit­to­ria Graf (im Fol­gen­den zu­sam­men: Ar­beit­neh­mer) auf der ei­nen und der As­kle­pios Kli­ni­ken Lan­gen-Se­li­gen­stadt GmbH bzw. der As­kle­pios Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft mbH (im Fol­gen­den zu­sam­men: As­kle­pios) auf der an­de­ren Sei­te über die An­wen­dung ei­nes Kol­lek­tiv­ver­trags.

Recht­li­cher Rah­men

Uni­ons­recht

3 Die Richt­li­nie 2001/23 ko­di­fi­ziert die Richt­li­nie 77/187/EWG des Ra­tes vom 14. Fe­bru­ar 1977 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über die Wah­rung von Ansprüchen der Ar­beit­neh­mer beim Über­gang von Un­ter­neh­men, Be­trie­ben oder Un­ter­neh­mens- oder Be­triebs­tei­len (ABl. 1977, L 61, S. 26) in der durch die Richt­li­nie 98/50/EG des Ra­tes vom 29. Ju­ni 1998 (ABl. 1998, L 201, S. 88) geänder­ten Fas­sung (im Fol­gen­den: Richt­li­nie 77/187).
4 Art.1 Abs.1 Buchst.a der Richt­li­nie 2001/23 sieht vor:

„Die­se Richt­li­nie ist auf den Über­gang von Un­ter­neh­men, Be­trie­ben oder Un­ter­neh­mens- bzw. Be­triebs­tei­len auf ei­nen an­de­ren In­ha­ber durch ver­trag­li­che Über­tra­gung oder durch Ver­schmel­zung an­wend­bar.“

5 In Art. 3 der Richt­li­nie heißt es:

„(1) Die Rech­te und Pflich­ten des Veräußerers aus ei­nem zum Zeit­punkt des Über­gangs be­ste­hen­den Ar­beits­ver­trag oder Ar­beits­verhält­nis ge­hen auf­grund des Über­gangs auf den Er­wer­ber über.

(3) Nach dem Über­gang erhält der Er­wer­ber die in ei­nem Kol­lek­tiv­ver­trag ver­ein­bar­ten Ar­beits­be­din­gun­gen bis zur Kündi­gung oder zum Ab­lauf des Kol­lek­tiv­ver­trags bzw. bis zum In­kraft­tre­ten oder bis zur An­wen­dung ei­nes an­de­ren Kol­lek­tiv­ver­trags in dem glei­chen Maße auf­recht, wie sie in dem Kol­lek­tiv­ver­trag für den Veräußerer vor­ge­se­hen wa­ren.

Die Mit­glied­staa­ten können den Zeit­raum der Auf­recht­er­hal­tung der Ar­beits­be­din­gun­gen be­gren­zen, al­ler­dings darf die­ser nicht we­ni­ger als ein Jahr be­tra­gen.

…“

Deut­sches Recht

6 In Deutsch­land sind die Rech­te und Pflich­ten im Fall ei­nes Be­triebsüber­gangs in § 613a des Bürger­li­chen Ge­setz­buchs (BGB) ge­re­gelt. Abs. 1 die­ser Vor­schrift lau­tet wie folgt:

„Geht ein Be­trieb oder Be­triebs­teil durch Rechts­geschäft auf ei­nen an­de­ren In­ha­ber über, so tritt die­ser in die Rech­te und Pflich­ten aus den im Zeit­punkt des Über­gangs be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis­sen ein. Sind die­se Rech­te und Pflich­ten durch Rechts­nor­men ei­nes Ta­rif­ver­trags oder durch ei­ne Be­triebs­ver­ein­ba­rung ge­re­gelt, so wer­den sie In­halt des Ar­beits­verhält­nis­ses zwi­schen dem neu­en In­ha­ber und dem Ar­beit­neh­mer und dürfen nicht vor Ab­lauf ei­nes Jah­res nach dem Zeit­punkt des Über­gangs zum Nach­teil des Ar­beit­neh­mers geändert wer­den. Satz 2 gilt nicht, wenn die Rech­te und Pflich­ten bei dem neu­en In­ha­ber durch Rechts­nor­men ei­nes an­de­ren Ta­rif­ver­trags oder durch ei­ne an­de­re Be­triebs­ver­ein­ba­rung ge­re­gelt wer­den. Vor Ab­lauf der Frist nach Satz 2 können die Rech­te und Pflich­ten geändert wer­den, wenn der Ta­rif­ver­trag oder die Be­triebs­ver­ein­ba­rung nicht mehr gilt oder bei feh­len­der bei­der­sei­ti­ger Ta­rif­ge­bun­den­heit im Gel­tungs­be­reich ei­nes an­de­ren Ta­rif­ver­trags des­sen An­wen­dung zwi­schen dem neu­en In­ha­ber und dem Ar­beit­neh­mer ver­ein­bart wird.“

Aus­gangs­ver­fah­ren und Vor­la­ge­fra­gen

7 Die Ar­beit­neh­mer wa­ren im Kran­ken­haus Drei­eich-Lan­gen (Deutsch­land) beschäftigt, das da­mals in Träger­schaft ei­ner kom­mu­na­len Ge­bietskörper­schaft stand. Herr Fel­ja ging dort seit 1978 ei­ner Beschäfti­gung als Haus­ar­bei­ter/Gärt­ner nach, Frau Graf übte dort seit 1986 die Tätig­keit ei­ner Sta­ti­ons­hel­fe­rin aus. Nach­dem die kom­mu­na­le Ge­bietskörper­schaft das Kran­ken­haus im Jahr 1995 an ei­ne Ge­sell­schaft mit be­schränk­ter Haf­tung (GmbH) veräußert hat­te, ging der Be­triebs­teil, in dem die Ar­beit­neh­mer beschäftigt wa­ren, im Jahr 1997 auf die KLS Fa­ci­li­ty Ma­nage­ment GmbH (im Fol­gen­den: KLS FM) über.
8 Die zwi­schen KLS FM, die kei­nem Ar­beit­ge­ber­ver­band an­gehörte, der an Ta­rif­ver­hand­lun­gen und der An­nah­me ei­nes Ta­rif­ver­trags be­tei­ligt war, und den Ar­beit­neh­mern ge­schlos­se­nen Ar­beits­verträge ent­hiel­ten ei­ne „dy­na­mi­sche“ Ver­wei­sungs­klau­sel, wo­nach sich ihr Ar­beits­verhält­nis - wie vor dem Über­gang - nach dem Bun­des­man­tel­ta­rif­ver­trag für Ar­bei­ter ge­meind­li­cher Ver­wal­tun­gen und Be­trie­be (im Fol­gen­den BMT-G II), aber zukünf­tig auch nach den die­sen ergänzen­den, ändern­den und er­set­zen­den Ta­rif­verträgen rich­ten soll­te.
9 Später wur­de KLS FM Teil ei­nes Kran­ken­haus-Kon­zerns.
10 Zum 1. Ju­li 2008 ging der Be­triebs­teil, in dem die Ar­beit­neh­mer beschäftigt wa­ren, auf ei­ne an­de­re Kon­zern­ge­sell­schaft, nämlich As­kle­pios, über. Wie KLS FM war und ist auch As­kle­pios bis heu­te nicht durch die Mit­glied­schaft in ei­nem Ar­beit­ge­ber­ver­band an den BMT-G II und den die­sen seit dem 1. Ok­to­ber 2005 er­set­zen­den Ta­rif­ver­trag für den öffent­li­chen Dienst (TVöD) und den Ta­rif­ver­trag zur Über­lei­tung der Beschäftig­ten der kom­mu­na­len Ar­beit­ge­ber in den TVöD und zur Re­ge­lung des Über­g­angs­rechts ge­bun­den.
11 Die Ar­beit­neh­mer be­an­trag­ten die ge­richt­li­che Fest­stel­lung, dass gemäß der in ih­ren je­wei­li­gen Ar­beits­verträgen ent­hal­te­nen „dy­na­mi­schen“ Ver­wei­sungs­klau­sel auf den BMT-G II die Be­stim­mun­gen des TVöD und der die­sen ergänzen­den Ta­rif­verträge so­wie die Be­stim­mun­gen des Ta­rif­ver­trags zur Über­lei­tung der Beschäftig­ten der kom­mu­na­len Ar­beit­ge­ber in den TVöD und zur Re­ge­lung des Über­g­angs­rechts in ih­rer zum Zeit­punkt ih­res An­trags gülti­gen Fas­sung auf ih­re je­wei­li­gen Ar­beits­verhält­nis­se An­wen­dung fin­den.

12

As­kle­pios ver­tritt die Auf­fas­sung, der nach dem na­tio­na­len Recht vor­ge­se­he­nen Rechts­fol­ge ei­ner sol­chen „dy­na­mi­schen“ An­wen­dung der ar­beits­ver­trag­lich in Be­zug ge­nom­me­nen Kol­lek­tiv­re­ge­lun­gen des öffent­li­chen Diens­tes stünden die Richt­li­nie 2001/23 und Art.16 der Char­ta ent­ge­gen. Dies führe nach dem Über­gang der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer auf ei­nen an­de­ren Ar­beit­ge­ber zu ei­ner le­dig­lich „sta­ti­schen“ An­wen­dung die­ser Re­ge­lung in dem Sin­ne, dass nur die in dem mit dem Veräußerer ar­beits­ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Ar­beits­be­din­gun­gen aus den in die­sem Ar­beits­ver­trag ge­nann­ten Kol­lek­tiv­verträgen dem Er­wer­ber ent­ge­gen­ge­hal­ten wer­den könn­ten.
13 Die un­ter­in­stanz­li­chen Ge­rich­te ga­ben den Kla­gen der Ar­beit­neh­mer statt. Hier­ge­gen leg­te As­kle­pios Re­vi­si­on beim vor­le­gen­den Ge­richt ein.
14

Un­ter die­sen Umständen hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (Deutsch­land) be­schlos­sen, das Ver­fah­ren aus­zu­set­zen und dem Ge­richts­hof fol­gen­de Fra­gen zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­zu­le­gen:

1. a) Steht Art.3 der Richt­li­nie 2001/23 ei­ner na­tio­na­len Re­ge­lung ent­ge­gen, die vor­sieht, dass im Fall ei­nes Un­ter­neh­mens- oder Be­triebsüber­gangs al­le zwi­schen dem Veräußerer und dem Ar­beit­neh­mer pri­vat­au­to­nom und in­di­vi­du­ell im Ar­beits­ver­trag ver­ein­bar­ten Ar­beits­be­din­gun­gen auf den Er­wer­ber un­verändert über­ge­hen, so als hätte er sie selbst mit dem Ar­beit­neh­mer ein­zel­ver­trag­lich ver­ein­bart, wenn das na­tio­na­le Recht so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge An­pas­sungsmöglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht?

b) Wenn die Fra­ge 1 Buchst.a ins­ge­samt oder für ei­ne be­stimm­te Grup­pe in­di­vi­du­ell ver­ein­bar­ter Ar­beits­be­din­gun­gen aus dem Ar­beits­ver­trag zwi­schen Veräußerer und Ar­beit­neh­mer mit „Ja“ be­ant­wor­tet wird:

Er­gibt sich aus der An­wen­dung von Art.3 der Richt­li­nie 2001/23, dass von dem un­veränder­ten Über­gang auf den Er­wer­ber be­stimm­te pri­vat­au­to­nom ver­ein­bar­te Ar­beits­ver­trags­be­din­gun­gen zwi­schen Veräußerer und Ar­beit­neh­mer aus­zu­neh­men und al­lein auf­grund des Un­ter­neh­mens- oder Be­triebsüber­gangs an­zu­pas­sen sind?

c) Wenn nach den Maßstäben der Ant­wor­ten des Ge­richts­hofs auf die Fra­ge 1 Buchst.a und b ei­ne in­di­vi­du­el­le, ein­zel­ver­trag­lich ver­ein­bar­te Ver­wei­sung, auf­grund de­rer be­stimm­te Re­ge­lun­gen aus ei­nem Kol­lek­tiv­ver­trag in dy­na­mi­scher Wei­se pri­vat­au­to­nom zum In­halt des Ar­beits­ver­trags ge­macht wer­den, nicht in un­veränder­ter Form auf den Er­wer­ber über­geht:

i) Gilt dies auch dann, wenn we­der der Veräußerer noch der Er­wer­ber Par­tei ei­nes Kol­lek­tiv­ver­trags ist oder ei­ner sol­chen Par­tei an­gehört, d. h., wenn die Re­ge­lun­gen aus dem Kol­lek­tiv­ver­trag be­reits vor dem Un­ter­neh­mens- oder Be­triebsüber­gang oh­ne die pri­vat­au­to­no­me ar­beits­ver­trag­li­che Ver­ein­ba­rung ei­ner Ver­wei­sungs­klau­sel für das Ar­beits­verhält­nis mit dem Veräußerer kei­ne An­wen­dung ge­fun­den hätten?

ii) Wenn Fra­ge 1 Buchst.c Ziff. i be­jaht wird:

Gilt dies auch dann, wenn Veräußerer und Er­wer­ber Un­ter­neh­men des­sel­ben Kon­zerns sind?

2. Steht Art. 16 der Char­ta ei­ner in Um­set­zung der Richt­li­ni­en 77/187 oder 2001/23 er­las­se­nen na­tio­na­len Re­ge­lung ent­ge­gen, die vor­sieht, dass bei ei­nem Un­ter­neh­mens- oder Be­triebsüber­gang der Er­wer­ber an die vom Veräußerer mit dem Ar­beit­neh­mer vor dem Be­triebsüber­gang pri­vat­au­to­nom und in­di­vi­du­ell ver­ein­bar­ten Ar­beits­ver­trags­be­din­gun­gen auch dann so ge­bun­den ist, als ha­be er sie selbst ver­ein­bart, wenn die­se Be­din­gun­gen be­stimm­te Re­ge­lun­gen ei­nes an­dern­falls für das Ar­beits­verhält­nis nicht gel­ten­den Kol­lek­tiv­ver­trags in dy­na­mi­scher Wei­se zum In­halt des Ar­beits­ver­trags ma­chen, so­fern das na­tio­na­le Recht so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge An­pas­sungsmöglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht?

Zu den Vor­la­ge­fra­gen

15 Mit sei­nen Fra­gen, die zu­sam­men zu prüfen sind, möch­te das vor­le­gen­de Ge­richt wis­sen, ob Art. 3 der Richt­li­nie 2001/23 in Ver­bin­dung mit Art. 16 der Char­ta da­hin aus­zu­le­gen ist, dass sich im Fall ei­nes Be­triebsüber­gangs die Fort­gel­tung der sich für den Veräußerer aus ei­nem Ar­beits­ver­trag er­ge­ben­den Rech­te und Pflich­ten auf die zwi­schen dem Veräußerer und dem Ar­beit­neh­mer pri­vat­au­to­nom ver­ein­bar­te Klau­sel er­streckt, wo­nach sich ihr Ar­beits­verhält­nis nicht nur nach dem zum Zeit­punkt des Über­gangs gel­ten­den Kol­lek­tiv­ver­trag, son­dern auch nach den die­sen nach dem Über­gang ergänzen­den, ändern­den und er­set­zen­den Kol­lek­tiv­verträgen rich­tet, so­fern das na­tio­na­le Recht so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge An­pas­sungsmöglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht.
16 Vor­ab ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass ein Ar­beits­ver­trag durch Ver­trags­klau­seln auf an­de­re recht­li­che In­stru­men­te, ins­be­son­de­re auf Ta­rif­verträge, ver­wei­sen kann. Sol­che Klau­seln können ent­we­der wie „sta­ti­sche“ Ver­wei­sungs­klau­seln auf al­lein die Rech­te und Pflich­ten ver­wei­sen, die in dem zum Zeit­punkt des Un­ter­neh­mensüber­gangs gel­ten­den Kol­lek­tiv­ver­trag fest­ge­legt sind, oder - wie die in den Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­den „dy­na­mi­schen“ Ver­wei­sungs­klau­seln - auch auf zukünf­ti­ge ver­trag­li­che Ent­wick­lun­gen ver­wei­sen, die ei­ne Ände­rung die­ser Rech­te und Pflich­ten nach sich zie­hen.
17 Hier­zu hat der Ge­richts­hof im Fall ei­ner „sta­ti­schen“ Ver­trags­klau­sel und im Kon­text der Richt­li­nie 77/187 aus­geführt, dass sich aus dem Wort­laut Letz­te­rer nicht er­gibt, dass der Uni­ons­ge­setz­ge­ber den Er­wer­ber durch an­de­re Kol­lek­tiv­verträge als die zum Zeit­punkt des Über­gangs gel­ten­den bin­den und dem­nach ver­pflich­ten woll­te, die Ar­beits­be­din­gun­gen später durch die An­wen­dung ei­nes neu­en, nach dem Über­gang ge­schlos­se­nen Kol­lek­tiv­ver­trags zu ändern (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 9. März 2006, Wer­hof, C-499/04, EU:C:2006:168, Rn. 29).
18 Die­se Richt­li­nie be­zweck­te nämlich nur, die am Tag des Über­gangs be­ste­hen­den Rech­te und Pflich­ten der Ar­beit­neh­mer zu wah­ren; bloße Er­war­tun­gen und so­mit hy­po­the­ti­sche Vergüns­ti­gun­gen, die sich aus zukünf­ti­gen Ent­wick­lun­gen der Kol­lek­tiv­verträge er­ge­ben könn­ten, soll­ten durch sie nicht geschützt wer­den (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 9. März 2006, Wer­hof, C-499/04, EU:C:2006:168, Rn.29).
19 Zwar er­gibt sich aus der in der vor­ste­hen­den Rand­num­mer des vor­lie­gen­den Ur­teils ge­nann­ten Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs, dass Art.3 der Richt­li­nie 2001/23 da­hin aus­zu­le­gen ist, dass er nicht da­zu ver­pflich­tet, ei­ne „sta­ti­sche“ Klau­sel „dy­na­misch“ zu ver­ste­hen, je­doch hat der Ge­richts­hof auch dar­auf hin­ge­wie­sen, dass ein Ver­trag durch das Prin­zip der Pri­vat­au­to­no­mie ge­kenn­zeich­net ist, wo­nach die Par­tei­en frei dar­in sind, ge­gen­sei­ti­ge Ver­pflich­tun­gen ein­zu­ge­hen (Ur­teil vom 9. März 2006, Wer­hof, C-499/04, EU:C:2006:168, Rn. 23).
20 Aus dem Wort­laut der Richt­li­nie 2001/23 und ins­be­son­de­re aus ih­rem Art.3 geht je­doch nicht her­vor, dass der Uni­ons­ge­setz­ge­ber von die­sem Grund­satz ab­wei­chen woll­te. Folg­lich ist die Richt­li­nie 2001/23 und ins­be­son­de­re ihr Art.3 nicht so zu ver­ste­hen, als ob sie dar­auf ab­zielt, in je­dem Fall zu ver­hin­dern, dass ei­ne „dy­na­mi­sche“ Ver­trags­klau­sel ih­re Wir­kun­gen ent­fal­tet.
21 Ha­ben der Veräußerer und die Ar­beit­neh­mer ei­ne „dy­na­mi­sche“ Ver­trags­klau­sel frei ver­ein­bart und ist die­se zum Zeit­punkt des Über­gangs in Kraft, ist da­her die Richt­li­nie 2001/23 und ins­be­son­de­re ihr Art. 3 so zu ver­ste­hen, dass sie grundsätz­lich vor­se­hen, dass die­se sich aus ei­nem Ar­beits­ver­trag er­ge­ben­de Pflicht auf den Er­wer­ber über­geht.
22 Der Ge­richts­hof hat je­doch im Fall ei­ner „dy­na­mi­schen“ Ver­trags­klau­sel be­tont, dass die Richt­li­nie 2001/23 nicht nur auf die Wah­rung der In­ter­es­sen der Ar­beit­neh­mer ab­zielt, son­dern dar­auf, ei­nen ge­rech­ten Aus­gleich zwi­schen den In­ter­es­sen der Ar­beit­neh­mer und de­nen des Er­wer­bers zu gewähr­leis­ten. Hier­aus er­gibt sich ins­be­son­de­re, dass der Er­wer­ber in der La­ge sein muss, nach dem Über­gang die für die Fort­set­zung sei­ner Tätig­keit er­for­der­li­chen An­pas­sun­gen vor­zu­neh­men (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­tei­le vom 18. Ju­li 2013, Alemo-Her­ron u. a., C-426/11, EU:C:2013:521, Rn.25, und vom 11. Sep­tem­ber 2014, Öster­rei­chi­scher Ge­werk­schafts­bund, C-328/13, EU:C:2014:2197, Rn.29).
23 Ins­be­son­de­re im­pli­ziert Art.3 der Richt­li­nie 2001/23 in Zu­sam­men­schau mit der un­ter­neh­me­ri­schen Frei­heit, dass es dem Er­wer­ber möglich sein muss, im Rah­men ei­nes zum Ver­trags­ab­schluss führen­den Ver­fah­rens, an dem er be­tei­ligt ist, sei­ne In­ter­es­sen wirk­sam gel­tend zu ma­chen und die die Ent­wick­lung der Ar­beits­be­din­gun­gen sei­ner Ar­beit­neh­mer be­stim­men­den Fak­to­ren mit Blick auf sei­ne künf­ti­ge wirt­schaft­li­che Tätig­keit aus­zu­han­deln (vgl. in die­sem Sin­ne Ur­teil vom 18. Ju­li 2013, Alemo-Her­ron u. a., C-426/11, EU:C:2013:521, Rn.33). 
24 Im vor­lie­gen­den Fall er­gibt sich aus der Vor­la­ge­ent­schei­dung und ins­be­son­de­re aus dem Wort­laut der Vor­la­ge­fra­gen selbst, dass die im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­de na­tio­na­le Re­ge­lung so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge Möglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht, die zum Zeit­punkt des Über­gangs be­ste­hen­den Ar­beits­be­din­gun­gen nach dem Über­gang an­zu­pas­sen.
25 So­mit ist da­von aus­zu­ge­hen, dass die im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­de na­tio­na­le Re­ge­lung den An­for­de­run­gen der in Rn.23 des vor­lie­gen­den Ur­teils ge­nann­ten Recht­spre­chung genügt.
26 Da Art.16 der Char­ta von die­ser Recht­spre­chung be­reits berück­sich­tigt wird, ist auf die Ver­ein­bar­keit der im Aus­gangs­ver­fah­ren in Re­de ste­hen­den na­tio­na­len Re­ge­lung mit die­ser Vor­schrift nicht wei­ter ein­zu­ge­hen.
27 Zwar stellt As­kle­pios of­fen­bar das Vor­lie­gen oder die Wirk­sam­keit der be­tref­fen­den An­pas­sungsmöglich­kei­ten in Ab­re­de. Hier­zu genügt je­doch der Hin­weis, dass es nicht Sa­che des Ge­richts­hofs ist, über die­sen Ge­sichts­punkt zu ent­schei­den.
28 Für die Würdi­gung des Sach­ver­halts und die Aus­le­gung des na­tio­na­len Rechts ist nämlich das vor­le­gen­de Ge­richt al­lein zuständig (vgl. in die­sem Sin­ne u. a. Ur­teil vom 4. Fe­bru­ar 2016, In­ce, C-336/14, EU:C:2016:72, Rn. 88).
29 Nach al­le­dem ist auf die Vor­la­ge­fra­gen zu ant­wor­ten, dass Art.3 der Richt­li­nie 2001/23 in Ver­bin­dung mit Art.16 der Char­ta da­hin aus­zu­le­gen ist, dass sich im Fall ei­nes Be­triebsüber­gangs die Fort­gel­tung der sich für den Veräußerer aus ei­nem Ar­beits­ver­trag er­ge­ben­den Rech­te und Pflich­ten auf die zwi­schen dem Veräußerer und dem Ar­beit­neh­mer pri­vat­au­to­nom ver­ein­bar­te Klau­sel er­streckt, wo­nach sich ihr Ar­beits­verhält­nis nicht nur nach dem zum Zeit­punkt des Über­gangs gel­ten­den Kol­lek­tiv­ver­trag, son­dern auch nach den die­sen nach dem Über­gang ergänzen­den, ändern­den und er­set­zen­den Kol­lek­tiv­verträgen rich­tet, so­fern das na­tio­na­le Recht so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge An­pas­sungsmöglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht.

Kos­ten

30 Für die Par­tei­en der Aus­gangs­ver­fah­ren ist das Ver­fah­ren ein Zwi­schen­streit in dem beim vor­le­gen­den Ge­richt anhängi­gen Rechts­streit; die Kos­ten­ent­schei­dung ist da­her Sa­che die­ses Ge­richts. Die Aus­la­gen an­de­rer Be­tei­lig­ter für die Ab­ga­be von Erklärun­gen vor dem Ge­richts­hof sind nicht er­stat­tungsfähig.

Aus die­sen Gründen hat der Ge­richts­hof (Drit­te Kam­mer) für Recht er­kannt:

Art.3 der Richt­li­nie 2001/23/EG des Ra­tes vom 12. März 2001 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über die Wah­rung von Ansprüchen der Ar­beit­neh­mer beim Über­gang von Un­ter­neh­men, Be­trie­ben oder Un­ter­neh­mens- oder Be­triebs­tei­len in Ver­bin­dung mit Art.16 der Char­ta der Grund­rech­te der Eu­ropäischen Uni­on ist da­hin aus­zu­le­gen, dass sich im Fall ei­nes Be­triebsüber­gangs die Fort­gel­tung der sich für den Veräußerer aus ei­nem Ar­beits­ver­trag er­ge­ben­den Rech­te und Pflich­ten auf die zwi­schen dem Veräußerer und dem Ar­beit­neh­mer pri­vat­au­to­nom ver­ein­bar­te Klau­sel er­streckt, wo­nach sich ihr Ar­beits­verhält­nis nicht nur nach dem zum Zeit­punkt des Über­gangs gel­ten­den Kol­lek­tiv­ver­trag, son­dern auch nach den die­sen nach dem Über­gang ergänzen­den, ändern­den und er­set­zen­den Kol­lek­tiv­verträgen rich­tet, so­fern das na­tio­na­le Recht so­wohl ein­ver­nehm­li­che als auch ein­sei­ti­ge An­pas­sungsmöglich­kei­ten für den Er­wer­ber vor­sieht.


Bay Lar­sen,

Vil­a­ras

Ma­le­n­ovský

Saf­jan

Šváby

Verkündet in öffent­li­cher Sit­zung in Lu­xem­burg am 27. April 2017.

Der Kanz­ler

Der Präsi­dent der Drit­ten Kam­mer

A. Ca­lot Es­co­bar 

L. Bay Lar­sen

* Ver­fah­rens­spra­che: Deutsch.

Quel­le: Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Uni­on (EuGH), http://cu­ria.eu­ro­pa.eu

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