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BAG, Ur­teil vom 05.12.2019, 2 AZR 107/19

   
Schlagworte: Kündigung: Sittenwidrig, Kündigung, Kündigung: Außerordentlich, Kündigung: Fristlos, Kündigung: Treuwidrig
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 2 AZR 107/19
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 05.12.2019
   
Leitsätze:
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 08.08.2017, 8 Ca 2025/17,
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.01.2019, 10 Sa 1631/18
   

BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

2 AZR 107/19
10 Sa 1631/18
Lan­des­ar­beits­ge­richt
Ber­lin-Bran­den­burg

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am
5. De­zem­ber 2019

UR­TEIL

Rad­t­ke, Ur­kunds­be­am­tin
der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

 

Kläge­rin, Wi­der­be­klag­te, Be­ru­fungskläge­rin und Re­vi­si­onskläge­rin,

 

pp.

 

Be­klag­te, Wi­derkläge­rin, Be­ru­fungs­be­klag­te und Re­vi­si­ons­be­klag­te,

 

hat der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf­grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 5. De­zem­ber 2019 durch die Rich­te­rin am Bun­des­ar­beits­ge­richt Ra­chor als Vor­sit­zen­de, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Dr. Nie­mann und Dr. Schlünder so­wie die eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dr. Grim­berg und Wolf für Recht er­kannt:

 

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Die Re­vi­si­on der Kläge­rin ge­gen das Ur­teil des Lan­des­ar­beits­ge­richts Ber­lin-Bran­den­burg vom 17. Ja­nu­ar 2019 - 10 Sa 1631/18 - wird auf ih­re Kos­ten zurück­ge­wie­sen.

 

Von Rechts we­gen!

 

Tat­be­stand

 

 

Die Par­tei­en strei­ten noch über die Wirk­sam­keit ei­ner or­dent­li­chen Kündi­gung.

Die Kläge­rin war bei der Be­klag­ten, die nicht mehr als zehn Ar­beit­neh­mer beschäftigt, seit dem 1. Ju­ni 2016 als Nan­ny/Kin­der­frau tätig. Das Ar­beits­verhält­nis war bis zum 31. Mai 2017 be­fris­tet und mit der ge­setz­li­chen Frist or­dent­lich künd­bar.

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Ne­ben der Kläge­rin war bei der Be­klag­ten ei­ne zwei­te Kin­der­frau an­ge­stellt. Die­se kündig­te ihr Ar­beits­verhält­nis zum 31. Ja­nu­ar 2017. Die Be­klag­te be­ab­sich­tig­te, als Er­satz die Zeu­gin B ein­zu­stel­len. Frau B war in der zwei­ten Hälf­te des Mo­nats Ja­nu­ar 2017 zu­sam­men mit der Kläge­rin in der Woh­nung der Be­klag­ten tätig.

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Mit Schrei­ben vom 2. Fe­bru­ar 2017, das der Kläge­rin spätes­tens am 14. Fe­bru­ar 2017 zu­ging, kündig­te die Be­klag­te das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en außer­or­dent­lich frist­los, hilfs­wei­se or­dent­lich zum 15. März 2017.

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Da­ge­gen hat die Kläge­rin recht­zei­tig die vor­lie­gen­de Kla­ge er­ho­ben, der hin­sicht­lich der außer­or­dent­li­chen Kündi­gung rechts­kräftig statt­ge­ge­ben wur­de. Die noch streit­be­fan­ge­ne or­dent­li­che Kündi­gung hat die Kläge­rin für sit-ten- und treu­wid­rig ge­hal­ten. Zu den Kündi­gun­gen sei es ge­kom­men, weil die Zeu­gin B der Be­klag­ten wahr­heits­wid­rig mit­ge­teilt ha­be, dass die Kläge­rin be­haup­tet ha­be, die Be­klag­te sei nie zu Hau­se, schließe sich im­mer in ih­rem

 

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Zim­mer ein und es­se, wenn sie ein­mal da­heim sei, nur Scho­ko­la­de mit ih­rer Toch­ter. Die Be­klag­te ha­be sich des­halb von der Kläge­rin in ih­rer Mut­ter­rol­le kri­ti­siert und in ih­rer Ei­tel­keit ver­letzt gefühlt, ob­wohl sie ge­wusst ha­be, dass die­se Be­haup­tun­gen im Kern wahr und des­halb von der Mei­nungs­frei­heit ge­deckt sei­en. Die Be­klag­te ha­be sich aus Rach­sucht und um Mit­tel für ei­ne An­stel­lung von Frau B frei­zu­ma­chen nicht mit ei­ner or­dent­li­chen Kündi­gung be­gnügen, son­dern sich frist­los von der Kläge­rin tren­nen wol­len. Da ihr be­wusst ge­we­sen sei, dass die ver­meint­li­chen Äußerun­gen der Kläge­rin kei­nen wich­ti­gen Grund für ei­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung bil­de­ten, ha­be die Be­klag­te wei­te­re - wahr­heits­wid­ri­ge und die Ver­trau­lich­keit ver­let­zen­de - Äußerun­gen der Kläge­rin ge­genüber Frau B so­wie Kin­des­miss­brauch durch die Kläge­rin er­son­nen und zum Be­weis die­ser frei er­fun­de­nen Kündi­gungs­gründe im Pro­zess Frau B als Zeu­gin be­nannt. Da­mit sei das „Kündi­gungs­ver­hal­ten“ der Be­klag­ten mit der Fol­ge sit­ten­wid­rig, dass „die ge­sam­te Kündi­gung“ nich­tig sei. Das Er­fin­den von Gründen, um die außer­or­dent­li­che Kündi­gung zu stützen, schla­ge auf die hilfs­wei­se erklärte or­dent­li­che Kündi­gung durch. Da be­reits das „Kündi­gungs­ver­hal­ten“ sit­ten­wid­rig ge­we­sen sei, könne da­hin­ste­hen, wel­che Mo­ti­va­ti­on die­sem in­ak­zep­ta­blen Ver­hal­ten zu­grun­de ge­le­gen ha­be. Al­ler­dings in­di­zie­re das Er­fin­den von Kündi­gungs­gründen die sit­ten­wid­ri­ge Ge­sin­nung. Über­dies ha­be die Kläge­rin vor Aus­spruch der Kündi­gung an­gehört wer­den müssen und stel­le sich die Kündi­gung als selbst­wi­dersprüchlich dar, weil die Be­klag­te ihr - der Kläge­rin - noch am 24. Ja­nu­ar 2017 ei­ne un­be­fris­te­te Beschäfti­gung an­ge­bo­ten ha­be.

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Die Kläge­rin hat - so­weit für das Re­vi­si­ons­ver­fah­ren von In­ter­es­se - sinn­gemäß be­an­tragt

fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en auch durch die or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 2. Fe­bru­ar 2017 nicht auf­gelöst wor­den ist.

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Die Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen. Frau B ha­be in der drit­ten Ka­len­der­wo­che 2017 mehr­fa­ches, er­heb­li­ches Fehl­ver­hal­ten der Kläge­rin ge­genüber ih­rer Toch­ter fest­ge­stellt. En­de Ja­nu­ar 2017 ha­be die Zeu­gin B

 

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sich ein Herz ge­fasst und die Be­klag­te nicht nur über zahl­rei­che In­dis­kre­tio­nen der Kläge­rin, son­dern auch über die be­ob­ach­te­ten Missstände so­wie die von der Kläge­rin aus­ge­hen­de Ge­fahr für das Kin­des­wohl in Kennt­nis ge­setzt.

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Die Vor­in­stan­zen ha­ben die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Mit der Re­vi­si­on ver­folgt die Kläge­rin ihr Be­geh­ren wei­ter.

 

Ent­schei­dungs­gründe

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Die Re­vi­si­on ist un­be­gründet. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Be­ru­fung der Kläge­rin ge­gen das die Kla­ge ab­wei­sen­de erst­in­stanz­li­che Ur­teil zu Recht zurück­ge­wie­sen.

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A. Die außer­halb des be­trieb­li­chen Gel­tungs­be­reichs des Kündi­gungs­schutz­ge­set­zes (§ 23 Abs. 1) erklärte, der Kläge­rin spätes­tens am 14. Fe­bru­ar 2017 zu­ge­gan­ge­ne or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 2. Fe­bru­ar 2017 hat das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en gemäß § 622 Abs. 1 BGB mit Ab­lauf des 15. März 2017 auf­gelöst. Die Kündi­gung ist we­der sit­ten­wid­rig (§ 138 Abs. 1 BGB) noch treu­wid­rig (§ 242 BGB).

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I. Ein Rechts­geschäft ist sit­ten­wid­rig iSv. § 138 Abs. 1 BGB, wenn es nach sei­nem In­halt oder Ge­samt­cha­rak­ter, der durch um­fas­sen­de Würdi­gung von In­halt, Be­weg­grund und Zweck zu er­mit­teln ist, dem An­stands­gefühl al­ler bil­lig und ge­recht Den­ken­den wi­der­spricht. Verstößt das Rechts­geschäft - wie ei­ne an sich neu­tra­le Kündi­gung (BAG 21. März 1980 - 7 AZR 314/78 - zu II 3 der Gründe) - nicht be­reits sei­nem In­halt nach ge­gen die grund­le­gen­den Wer­tun­gen der Rechts- oder Sit­ten­ord­nung, muss ein persönli­ches Ver­hal­ten des Han­deln­den hin­zu­kom­men, wel­ches die­sem zum Vor­wurf ge­macht wer­den kann. Hierfür genügt es im All­ge­mei­nen nicht, dass ver­trag­li­che Pflich­ten ver­letzt wer­den. Viel­mehr muss ei­ne be­son­de­re Ver­werf­lich­keit des Ver­hal­tens hin­zu­tre­ten, die sich aus dem ver­folg­ten Ziel, den ein­ge­setz­ten Mit­teln oder der

 

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zu­ta­ge tre­ten­den Ge­sin­nung er­ge­ben kann (BGH 16. Ju­li 2019 - II ZR 426/17 - Rn. 24).

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II. Der Grund­satz von Treu und Glau­ben in § 242 BGB bil­det ei­ne al­len Rech­ten, Rechts­la­gen und Rechts­nor­men im­ma­nen­te In­halts­be­gren­zung. Ei­ne ge­gen die­sen Grund­satz ver­s­toßen­de Rechts­ausübung oder Aus­nut­zung ei­ner Rechts­la­ge ist we­gen der dar­in lie­gen­den Rechtsüber­schrei­tung als un­zulässig an­zu­se­hen. Die Vor­schrift des § 242 BGB ist aber auf Kündi­gun­gen ne­ben § 1 KSchG nur in be­schränk­tem Um­fang an­wend­bar. Das Kündi­gungs­schutz­ge­setz hat die Vor­aus­set­zun­gen und Wir­kun­gen des Grund­sat­zes von Treu und Glau­ben kon­kre­ti­siert und ab­sch­ließend ge­re­gelt, so­weit es um den Be­stands­schutz und das In­ter­es­se des Ar­beit­neh­mers an der Er­hal­tung sei­nes Ar­beits­plat­zes geht. Ei­ne Kündi­gung verstößt des­halb nur dann ge­gen § 242 BGB, wenn sie Treu und Glau­ben aus Gründen ver­letzt, die von § 1 KSchG nicht er­fasst sind (BAG 22. April 2010 - 6 AZR 828/08 - Rn. 41).

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III. Im Rah­men der Ge­ne­ral­klau­seln der §§ 138, 242 BGB ist der ob­jek­ti­ve Ge­halt der Grund­rech­te zu berück­sich­ti­gen (BAG 19. Ok­to­ber 2017 - 8 AZR 845/15 - Rn. 20, BA­GE 160, 337). Der durch die zi­vil­recht­li­chen Ge­ne­ral­klau­seln ver­mit­tel­te ver­fas­sungs­recht­li­che Schutz ist al­ler­dings um­so schwächer, je stärker die mit der Klein­be­triebs­klau­sel des § 23 Abs. 1 KSchG geschütz­ten Grund­rechts­po­si­tio­nen des Ar­beit­ge­bers im Ein­zel­fall be­trof­fen sind. Es geht vor al­lem dar­um, Ar­beit­neh­mer vor willkürli­chen oder auf sach­frem­den Mo­ti­ven be­ru­hen­den Kündi­gun­gen zu schützen (BVerfG 27. Ja­nu­ar 1998 - 1 BvL 15/87 - zu B I 3 b cc der Gründe, BVerfGE 97, 169; BAG 5. No­vem­ber 2009 - 2 AZR 383/08 - Rn. 24).

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IV. Dar­an ge­mes­sen stellt sich die al­lein noch streit­be­fan­ge­ne or­dent­li­che Kündi­gung we­der als sit­ten- noch als treu­wid­rig dar.

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1. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, wenn ei­ner Ar­beit­ge­be­rin zu­ge­tra­gen wer­de, ei­ne Ar­beit­neh­me­rin ver­brei­te ne­ga­ti­ve Tat­sa­chen über sie, sei es nach­voll­zieh­bar, dass die Ar­beit­ge­be­rin das Ar­beits­verhält­nis nicht fort­set­zen möch­te. Das gel­te um­so mehr, als hier die als Nan­ny/Kin­der­frau ein­ge-

 

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stell­te Kläge­rin im ab­so­lu­ten Nähe­be­reich der Be­klag­ten qua­si wie ein Fa­mi­li­en­mit­glied tätig war. Ei­ne all­ge­mei­ne Pflicht zur Aufklärung des „wah­ren Sach­ver­halts“ ge­be es nicht. Die Be­klag­te ha­be sich auch nicht treu­wid­rig selbst­wi­dersprüchlich ver­hal­ten. Sch­ließlich könne zu­guns­ten der Kläge­rin un­ter­stellt wer­den, dass die Be­klag­te Gründe für die außer­or­dent­li­che Kündi­gung „nach­träglich er­dich­tet“ ha­be. Späte­res pro­zes­sua­les Ver­hal­ten ma­che die Kündi-gung(en) nicht un­wirk­sam.

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2. Die­se Würdi­gung ist frei von Rechts­feh­lern. 16

a) Der Willkürvor­wurf schei­det aus, wenn ein ir­gend­wie ein­leuch­ten­der Grund für die Rechts­ausübung vor­liegt (BAG 28. Au­gust 2003 - 2 AZR 333/02 - zu B III 1 b der Gründe). Ein sol­cher ist bei ei­nem auf kon­kre­ten Umständen be­ru­hen­den Ver­trau­ens­ver­lust grundsätz­lich auch dann ge­ge­ben, wenn die Tat­sa­chen ob­jek­tiv nicht ve­ri­fi­zier­bar sind (vgl. BAG 25. April 2001 - 5 AZR 360/99 - zu II 4 b der Gründe). Un­strei­tig hat die Zeu­gin B der Be­klag­ten mit­ge­teilt, dass die Kläge­rin be­haup­te, sie - die Be­klag­te - sei nie zu Hau­se, schließe sich an­dern­falls im­mer in ih­rem Zim­mer ein und es­se, wenn sie doch ein­mal da­heim sei, nur Scho­ko­la­de mit ih­rer Toch­ter. Dass die Be­klag­te nicht wei­ter - ver­meint­li­cher - Kri­tik be­tref­fend ih­re Mut­ter­rol­le durch ei­ne in ih­rem Haus­halt beschäftig­te Ar­beit­neh­me­rin aus­ge­setzt sein woll­te, ist verständ­lich und hat mit Rach­sucht oder Ver­gel­tung (vgl. da­zu BAG 9. Mai 1996 - 2 AZR 128/95 - zu II 6 der Gründe) nichts zu tun.

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b) Es kann zu­guns­ten der Kläge­rin un­ter­stellt wer­den, dass die der Be­klag­ten zu­ge­tra­ge­nen Äußerun­gen - wären sie so ge­fal­len - als wah­re Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen und/oder Mei­nungs­be­kun­dun­gen in den Schutz­be­reich von Art. 5 Abs. 1 GG fie­len. Je­den­falls könn­te - zu­mal an­ge­sichts der grund­recht­lich geschütz­ten Po­si­tio­nen der Be­klag­ten - von ei­ner un­verhält­nismäßigen Be­schränkung der Mei­nungs­frei­heit der Kläge­rin kei­ne Re­de sein. Ihr wird nicht je­de kri­ti­sche Äußerung über die Be­klag­te und de­ren Um­gang mit ih­rem Kind ver­bo­ten. Die Kläge­rin muss es le­dig­lich hin­neh­men, dass sie der­ar­ti­ge Kri­tik nicht - er­neut - aus ei­nem be­ste­hen­den Ar­beits­verhält­nis her­aus vor­brin­gen

 

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kann. Da­bei ist zu berück­sich­ti­gen, dass das Ar­beits­verhält­nis über­wie­gend in dem durch Art. 13 Abs. 1 GG be­son­ders geschütz­ten Be­reich der „räum­li­chen Pri­vat­sphäre“ der Be­klag­ten durch­geführt wer­den soll­te und die ihr über die Zeu­gin B zu­ge­tra­ge­nen - ver­meint­li­chen - Äußerun­gen der Kläge­rin das durch Art. 6 Abs. 2 GG geschütz­te el­ter­li­che Er­zie­hungs­recht be­tra­fen.

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c) Im Rah­men der Ge­ne­ral­klau­seln der §§ 138, 242 BGB kommt es hin­ge­gen nicht dar­auf an, ob die Kläge­rin durch die der Be­klag­ten zu­ge­tra­ge­nen Äußerun­gen - un­ter­stellt sie wären so ge­fal­len - ge­gen ih­re aus § 241 Abs. 2 BGB fol­gen­de Pflicht zur Rück­sicht­nah­me auf die be­rech­tig­ten Be­lan­ge der Be­klag­ten ver­stieß und ob ggf. ei­ne sol­che Pflicht­ver­let­zung ei­ne am Maßstab des § 1 Abs. 2 KSchG zu mes­sen­de ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung zu recht­fer­ti­gen vermöch­te. Im Ge­gen­teil kann die Be­rech­ti­gung von Gründen, die un­ter Gel­tung des all­ge­mei­nen Kündi­gungs­schut­zes als sol­che im Ver­hal­ten der Kläge­rin ge­wer­tet wer­den könn­ten, auf der Grund­la­ge al­lein der zi­vil­recht­li­chen Ge­ne­ral­klau­seln ge­ra­de nicht nach­ge­prüft wer­den (vgl. BAG 28. Sep­tem­ber 1972 - 2 AZR 469/71 - zu IV der Gründe, BA­GE 24, 438).

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d) Die or­dent­li­che Kündi­gung stellt sich nicht des­halb als sit­ten- oder doch treu­wid­rig dar, weil der Kläge­rin kei­ne Ge­le­gen­heit zur Stel­lung­nah­me zu den ge­gen sie er­ho­be­nen Vorwürfen ge­ge­ben wur­de. Die vor­he­ri­ge Anhörung des Ar­beit­neh­mers ist - außer bei ei­ner Ver­dachtskündi­gung im Gel­tungs­be­reich des § 1 Abs. 2 KSchG - kei­ne Wirk­sam­keits­vor­aus­set­zung (BAG 10. April 2014 - 2 AZR 647/13 - Rn. 33).

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e) Die Be­klag­te hat sich mit dem Aus­spruch der or­dent­li­chen Kündi­gung nicht iSv. § 242 BGB rechts­miss­bräuch­lich selbst­wi­dersprüchlich ver­hal­ten (zu den An­for­de­run­gen vgl. BAG 23. Ja­nu­ar 2018 - 3 AZR 448/16 - Rn. 38, BA­GE 161, 335). Durch das In­aus­sicht­stel­len ei­nes un­be­fris­te­ten Ar­beits­ver­trags ist schon kein ent­spre­chen­der Ver­trau­en­stat­be­stand ge­schaf­fen wor­den. Die Be­klag­te hätte auch ein un­be­fris­te­tes Ar­beits­verhält­nis auf­grund der Klein­be­triebs­klau­sel des § 23 Abs. 1 KSchG oh­ne das Er­for­der­nis ei­ner be­son­de­ren Recht­fer­ti­gung or­dent­lich kündi­gen können.

 

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f) Es be­darf kei­ner Ent­schei­dung, ob der aus­sch­ließlich ge­gen ei­ne vor­ran­gig erklärte außer­or­dent­li­che frist­lo­se Kündi­gung er­ho­be­ne Vor­wurf der Sit­ten­wid­rig­keit auf ei­ne aus­drück­lich hilfs­wei­se zu die­ser aus­ge­spro­che­ne or­dent­li­che Kündi­gung - und da­mit auf ein an­de­res Rechts­geschäft - „durch­schla­gen“ kann.

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aa) Nach den we­der mit ei­nem er­folg­rei­chen Tat­be­stands­be­rich­ti­gungs­an­trag gemäß § 320 ZPO noch ei­ner (zulässi­gen) Ver­fah­rensrüge iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO an­ge­grif­fe­nen Fest­stel­lun­gen des Lan­de­sar­beits­ge­richts hat die Kläge­rin in den Tat­sa­chen­in­stan­zen nur be­haup­tet, die Be­klag­te ha­be die außer­or­dent­li­che frist­lo­se Kündi­gung im Pro­zess durch selbst er­fun­de­ne Vorwürfe und im Zu­sam­men­wir­ken mit ei­ner „lügen­den“ Zeu­gin zu ver­tei­di­gen ver­sucht. Hin­ge­gen ist nicht fest­ge­stellt, dass die Be­klag­te nach sub­stan­ti­ier­ter Be­haup­tung der Kläge­rin ei­nen ent­spre­chen­den Be­schluss be­reits bei Aus­spruch der Kündi­gun­gen für den Fall ei­nes mögli­chen Rechts­streits ge­fasst hat­te. Dem­ent­spre­chend hat die Kläge­rin auf Nach­fra­ge des Se­nats in der Re­vi­si­ons­ver­hand­lung bestätigt, in­so­fern han­de­le es sich um ei­ne bloße „Mut­maßung“.

23

bb) Der erst nach Vor­nah­me ei­nes Rechts­geschäfts ge­fass­te Vor­satz, die­ses im Rah­men ei­nes zwi­schen­zeit­lich anhängi­gen Rechts­streits un­ter Ver­let­zung der pro­zes­sua­len Wahr­heits­pflicht aus § 138 Abs. 1 ZPO zu ver­tei­di­gen, kann sich ggf. als vorsätz­li­che sit­ten­wid­ri­ge Schädi­gung iSv. § 826 BGB dar­s­tel­len (vgl. Pa­landt/Sprau 78. Aufl. § 826 Rn. 50), zu der es hier im Übri­gen nicht ge­kom­men wäre, weil die außer­or­dent­li­che Kündi­gung be­reits erst­in­stanz­lich rechts­kräftig für un­wirk­sam be­fun­den wur­de. Er kann aber nicht ei­ne Kündi­gung rück­wir­kend nich­tig ma­chen, de­ren Wirk­sam­keit als Ge­stal­tungs­recht sich im Zeit­punkt ih­res Zu­gangs be­stimmt (BAG 18. Ok­to­ber 2012 - 6 AZR 41/11 - Rn. 66). Das gilt auch für die Be­ur­tei­lung ih­rer Sit­ten­wid­rig­keit (vgl. Pa­landt/ El­len­ber­ger 78. Aufl. § 138 Rn. 9).

 

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B. Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. 25

 

Ra­chor

Schlünder 

Nie­mann

Grim­berg 

Wolf

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