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ARBEITSRECHT AKTUELL // 19/088

Ar­beit­ge­ber müs­sen Schwer­be­hin­der­te zum Zu­satz­ur­laub auf­for­dern

Die EuGH-Recht­spre­chung, nach der Ar­beit­ge­ber zum Ur­laubs­an­tritt auf­for­dern müs­sen, gilt auch für den Zu­satz­ur­laub Schwer­be­hin­der­ter: Lan­des­ar­beits­ge­richt Nie­der­sach­sen, Ur­teil vom 16.01.2019, 2 Sa 567/18
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08.04.2019. Vor kur­zem erst hat­te der eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) die Re­ge­lun­gen des deut­schen Ur­laubs­rechts be­an­stan­det, de­nen zu­fol­ge der Ur­laubs­an­spruch zum Jah­res­en­de ver­fällt, wenn er nicht recht­zei­tig vom Ar­beit­neh­mer in An­spruch ge­nom­men wird.

Laut EuGH trifft näm­lich den Ar­beit­ge­ber die Pflicht, den Ar­beit­neh­mer recht­zei­tig durch ent­spre­chen­de Hin­wei­se in die La­ge zu ver­set­zen, sei­nen Ur­laub zu neh­men.

Nun hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Nie­der­sach­sen nach­ge­zo­gen und ent­schie­den, dass die Hin­weis­pflicht auch für den fünf­tä­gi­gen Zu­satz­ur­laub gilt, der schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mer zu­steht: LAG Nie­der­sach­sen, Ur­teil vom 16.01.2019, 2 Sa 567/18.

Müssen Ar­beit­ge­ber von sich aus ak­tiv wer­den, da­mit Schwer­be­hin­der­te ih­ren Zu­satz­ur­laub recht­zei­tig in An­spruch neh­men?

Gemäß § 7 Abs.3 Bun­des­ur­laubs­ge­setz (BUrlG) liegt die Ver­ant­wor­tung für die Erfüllung des Ur­laubs­an­spruchs beim Ar­beit­neh­mer. Denn im All­ge­mei­nen verfällt der Ur­laubs­an­spruch zum Jah­res­en­de, wenn er bis da­hin nicht ge­nom­men wur­de. In § 7 Abs.3 Sätze 1 bis 3 BUrlG heißt es nämlich:

"Der Ur­laub muss im lau­fen­den Ka­len­der­jahr gewährt und ge­nom­men wer­den. Ei­ne Über­tra­gung des Ur­laubs auf das nächs­te Ka­len­der­jahr ist nur statt­haft, wenn drin­gen­de be­trieb­li­che oder in der Per­son des Ar­beit­neh­mers lie­gen­de Gründe dies recht­fer­ti­gen. Im Fall der Über­tra­gung muss der Ur­laub in den ers­ten drei Mo­na­ten des fol­gen­den Ka­len­der­jahrs gewährt und ge­nom­men wer­den."

Die­se Re­ge­lung und die dar­auf be­ru­hen­de langjähri­ge Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) sind mit Art.7 Abs.1 der Ar­beits­zeit-Richt­li­nie (Richt­li­nie 2003/88/EG) nur schwer ver­ein­bar. Denn da­nach müssen die Mit­glieds­staa­ten der Eu­ropäischen Uni­on (EU) si­cher­stel­len, dass je­der Ar­beit­neh­mer ei­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub pro Jahr ef­fek­tiv "erhält".

Auf der Grund­la­ge von Art.7 Abs.1 Richt­li­nie 2003/88/EG hat der EuGH En­de 2018 ent­schie­den, dass der eu­ro­pa­recht­li­che Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen am Jah­res­en­de nicht ein­fach des­halb ver­fal­len darf, weil der Ar­beit­neh­mer kei­nen Ur­laub be­an­tragt hat (EuGH, Ur­teil vom 06.11.2018, C-684/16 - Shi­mi­zu, und EuGH, Ur­teil vom 06.11.2018, C-619/16 - Kreu­zi­ger, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 18/270 Ur­laubsüber­tra­gung ins neue Jahr ist künf­tig die Re­gel).

Die­se Vor­ga­ben des EuGH hat das BAG mitt­ler­wei­le um­ge­setzt und ent­schie­den, dass der Ur­laub nur dann am Jah­res­en­de verfällt,

Frag­lich ist, ob die­se Ver­pflich­tung des Ar­beit­ge­bers, an der Erfüllung des Ur­laubs­an­spruchs ak­tiv mit­zu­wir­ken, auch für den einwöchi­gen Zu­satz­ur­laub gilt, der schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern gemäß § 208 Abs.1 Neun­tes Buch So­zi­al­ge­setz­buch (SGB IX) zu­steht.

Im Streit: Ansprüche auf Ur­laubs­ab­gel­tung nach Ent­las­sung ei­ner schwer­be­hin­der­ten Ar­beit­neh­me­rin

Im Streit­fall hat­te ei­ne langjährig beschäftig­te schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­me­rin ih­ren Ex-Ar­beit­ge­ber ver­klagt, nach­dem die­ser sei­nen Be­trieb ge­schlos­sen und die Ar­beit­neh­me­rin be­triebs­be­dingt gekündigt hat­te.

Ge­gen die Kündi­gung war nichts aus­zu­rich­ten, da die Be­triebs­sch­ließung ei­nen Klein­be­trieb mit nicht mehr als zehn Ar­beit­neh­mern be­traf, so dass sich die Ar­beit­neh­me­rin nicht auf das Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) be­ru­fen konn­te (§ 23 Abs.1 KSchG). Außer­dem hat­te der Ar­beit­ge­ber vor Aus­spruch der Kündi­gung die Zu­stim­mung des In­te­gra­ti­ons­am­tes zu der Kündi­gung ein­ge­holt. Dem­ent­spre­chend en­de­te das Ar­beits­verhält­nis auf­grund or­dent­li­cher Kündi­gung zum 31.01.2018.

Al­ler­dings hat­te die Ar­beit­neh­me­rin während der Dau­er ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses nie­mals ih­ren Schwer­be­hin­der­ten­zu­satz­ur­laub ver­langt. Auch der Ar­beit­ge­ber hat­te dar­an nicht ge­dacht, d.h. er hat­te die Ar­beit­neh­me­rin we­der auf die­sen Zu­satz­ur­laub hin­ge­wie­sen noch sie da­zu auf­ge­for­dert, ihn zu neh­men. Un­strei­tig hat­te der Ar­beit­ge­ber al­ler­dings spätes­tens seit Sep­tem­ber 2015 Kennt­nis von der Schwer­be­hin­de­rung, denn zu die­sem Zeit­punkt wur­de ihm der Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis vor­ge­legt.

Das in der ers­ten In­stanz mit der Sa­che be­fass­te Ar­beits­ge­richt Ha­meln wies die Kla­ge auf Ur­laubs­ab­gel­tung für den nicht ge­nom­me­nen Schwer­be­hin­der­ten-Zu­satz­ur­laub ab. Nach Auf­fas­sung des Ar­beits­ge­richts hätte die Ar­beit­neh­me­rin ih­ren Zu­satz­ur­laub recht­zei­tig be­an­tra­gen bzw. in An­spruch neh­men müssen. Da sie dies nicht ge­tan hat­te, war der An­spruch auf Zu­satz­ur­laub je­weils zum Jah­res­en­de gemäß § 7 Abs.1 BUrlG un­ter­ge­gan­gen (Ar­beits­recht Ha­meln, Ur­teil vom 07.06.2018, 1 Ca 409/17).

LAG Nie­der­sach­sen: Die EuGH-Recht­spre­chung, der zu­fol­ge Ar­beit­ge­ber zum Ur­laubs­an­tritt auf­for­dern müssen, gilt auch für den Schwer­be­hin­der­ten-Zu­satz­ur­laub

Das LAG Nie­der­sach­sen war in die­sem Punkt an­de­rer Mei­nung als das Ar­beits­ge­richt und ver­ur­teil­te den Ex-Ar­beit­ge­ber zur Ur­laubs­ab­gel­tung für 15 Ta­ge Zu­satz­ur­laub aus den Jah­ren 2015, 1016 und 2017.

Zur Be­gründung be­ruft sich das LAG im Aus­gangs­punkt zwar auf die o.g. bei­den EuGH-Ur­tei­le, stellt da­bei aber klar, dass die­se Ur­tei­le nur für den eu­ro­pa­recht­lich vor­ge­schrie­be­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub gel­ten.

Al­ler­dings hat das BAG be­reits vor ei­ni­gen Jah­ren ent­schie­den, dass sich der Ver­fall des Zu­satz­ur­laubs schwer­be­hin­der­ter Men­schen nach den all­ge­mei­nen Re­geln rich­tet, die für den ge­setz­li­chen Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen gel­ten. Wird da­her der vierwöchi­ge Min­des­t­ur­laub vor dem Ver­fall am Jah­res­en­de in­fol­ge ei­ner länge­ren Er­kran­kung des Ar­beit­neh­mers geschützt, d.h. wird der vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub für ei­ne ge­wis­se Wei­le auf­recht­er­hal­ten, gilt das auch für den fünftägi­gen Zu­satz­ur­laub schwer­be­hin­der­ter Men­schen (BAG, Ur­teil vom 23.03.2010, 9 AZR 128/09 - Schulz-Hoff).

Un­ter Be­ru­fung auf die­ses BAG-Ur­teil kam das LAG Nie­der­sach­sen zu dem Er­geb­nis, dass der Ar­beit­ge­ber hier im Streit­fall ab Kennt­nis der Schwer­be­hin­de­rung (Sep­tem­ber 2015) die Ar­beit­neh­me­rin von sich aus dar­auf hätte auf­merk­sam ma­chen müssen, dass ihr Son­der­ur­laub zum Jah­res­en­de verfällt. Da­her war der Zu­satz­ur­laub für die Jah­re 2015, 2016 und 2017 nicht ver­fal­len, so dass die Kläge­rin Ur­laubs­ab­gel­tung für die­se 15 Ur­laubs­ta­ge ver­lan­gen konn­te.

Fa­zit: Das LAG Re­vi­si­on zum BAG zu­ge­las­sen, auch schon ein­ge­legt wor­den ist. Da­her wird sich vor­aus­sicht­lich demnächst das BAG den Fall des LAG Nie­der­sach­sen be­fas­sen müssen. Wahr­schein­lich wird das BAG die Ent­schei­dung des LAG ab­seg­nen.

Für Ar­beit­ge­ber heißt das, dass sie nicht nur recht­zei­tig vor Ab­lauf des Ur­laubs­jah­res den Ar­beit­neh­mer da­zu auf­for­dern müssen, sei­nen vierwöchi­gen Min­des­t­ur­laub zu neh­men, son­dern dass sie darüber hin­aus ge­hal­ten sind, schwer­be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer zur In­an­spruch­nah­me Ih­res Zu­satz­ur­laubs auf­zu­for­dern.

Letzte Überarbeitung: 28. September 2021

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