HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

LAG Düs­sel­dorf, Be­schluss vom 21.11.2007, 12 Sa 1311/07

   
Schlagworte: Kündigungsfrist: Diskriminierung, Diskriminierung: Alter, Altersdiskriminierung
   
Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Aktenzeichen: 12 Sa 1311/07
Typ: Beschluss
Entscheidungsdatum: 21.11.2007
   
Leitsätze:

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art 234 EGV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. a) Verstößt eine nationale Gesetzesregelung, nach der sich die vom Arbeitgeber einzuhaltenden Kündigungsfristen mit zunehmender Dauer der Beschäftigung stufenweise verlängern, jedoch hierbei vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers unberücksichtigt bleiben, gegen das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung, namentlich gegen Primärrecht der EG oder gegen die Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000? (Rn.101)

b) Kann ein Rechtfertigungsgrund dafür, dass der Arbeitgeber bei der Kündigung von jüngeren Arbeitnehmern nur eine Grundkündigungsfrist einzuhalten hat, darin gesehen werden, dass dem Arbeitgeber ein - durch längere Kündigungsfristen beeinträchtigtes - betriebliches Interesse an personalwirtschaftlicher Flexibilität zugestanden wird und jüngeren Arbeitnehmern nicht der (durch längere Kündigungsfristen den älteren Arbeitnehmern vermittelte) Bestands- und Dispositionsschutz zugestanden wird, z.B. weil ihnen im Hinblick auf ihr Alter und/oder geringere soziale, familiäre und private Verpflichtungen eine höhere berufliche und persönliche Flexibilität und Mobilität zugemutet wird?

2. Wenn die Frage zu 1. a) bejaht und die Frage zu 1. b) verneint wird: Hat das Gericht eines Mitgliedsstaats in einem Rechtsstreit unter Privaten die dem Gemeinschaftsrecht explizit entgegenstehende Gesetzesregelung unangewendet zu lassen oder ist dem Vertrauen, das die Normunterworfenen in die Anwendung geltender innerstaatlicher Gesetze setzen, dahingehend Rechnung zu tragen, dass die Unanwendbarkeitsfolge erst nach Vorliegen einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die inkriminierte oder eine im Wesentlichen ähnliche Regelung eintritt?

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Mönchengladbach, Urteil vom 15.06.2007, 7 Ca 84/07
Nachgehend Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 19.01.2010, C-555/07
   

12 Sa 1311/07

7 Ca 84/07
Ar­beits­ge­richt Mönchen­glad­bach

 

LAN­DES­AR­BEITS­GERICHT DÜSSEL­DORF

BESCHLUSS

In dem Rechts­streit

der Frau T. L., F. Str. 4, O.,

- Kläge­rin und Be­ru­fungs­be­klag­te -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­te: Rechts­anwältin L. u. a.,
C. Str. 65, O.,

g e g e n

die T. GmbH & Co. KG, ver­tre­ten durch die persönlich haf­ten­de Ge­sell­schaf­te­rin T. Ver­wal­tungs GmbH, die­se ver­tre­ten durch die Geschäftsführer T. W. und S. L., T. I. 1,
F.,

- Be­klag­te und Be­ru­fungskläge­rin -

Pro­zess­be­vollmäch­tig­te: Rechts­anwälte C. & C.,
D.-U.-Str. 6, E.,

hat die 12. Kam­mer des Lan­des­ar­beits­ge­richts Düssel­dorf
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 21.11.2007 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt Dr. Plüm als Vor­sit­zen­den so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dipl.-Ing. Gra­vi­us und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter En­ne­per

b e s c h l o s s e n :

I. Das Ver­fah­ren wird aus­ge­setzt.

II. Dem Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Ge­mein­schaf­ten wer­den gemäß Art. 234 EGV fol­gen­de Fra­gen zur Vor­ab­ent­schei­dung vor­ge­legt:

 

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1. a) Verstößt ei­ne na­tio­na­le Ge­set­zes­re­ge­lung, nach der sich die vom Ar­beit­ge­ber ein­zu­hal­ten­den Kündi­gungs­fris­ten mit zu­neh­men­der Dau­er der Beschäfti­gung stu­fen­wei­se verlängern, je­doch hier­bei vor Voll­endung des 25. Le­bens­jah­res lie­gen­de Beschäfti­gungs­zei­ten des Ar­beit­neh­mers un­berück­sich­tigt blei­ben, ge­gen das ge­mein­schafts­recht­li­che Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung, na­ment­lich ge­gen Primärrecht der EG oder ge­gen die Richt­li­nie 2000/78/EG vom 27. No­vem­ber 2000 ?

b) Kann ein Recht­fer­ti­gungs­grund dafür, dass der Ar­beit­ge­ber bei der Kündi­gung von jünge­ren Ar­beit­neh­mern nur ei­ne Grundkündi­gungs­frist ein­zu­hal­ten hat, dar­in ge­se­hen wer­den, dass dem Ar­beit­ge­ber ein – durch länge­re Kündi­gungs­fris­ten be­ein­träch­tig­tes – be­trieb­li­ches In­ter­es­se an per­so­nal­wirt­schaft­li­cher Fle­xi­bi­lität zu­ge­stan­den wird und jünge­ren Ar­beit­neh­mern nicht der (durch länge­re Kündi­gungs­fris­ten den älte­ren Ar­beit­neh­mern ver­mit­tel­te) Be­stands- und Dis­po­si­ti­ons­schutz zu­ge­stan­den wird, z.B. weil ih­nen im Hin­blick auf ihr Al­ter und/oder ge­rin­ge­re so­zia­le, fa­mi­liäre und pri­va­te Ver­pflich­tun­gen ei­ne höhe­re be­ruf­li­che und persönli­che Fle­xi­bi­lität und Mo­bi­lität zu­ge­mu­tet wird?

2. Wenn die Fra­ge zu 1 a be­jaht und die Fra­ge zu 1 b ver­neint wird:

Hat das Ge­richt ei­nes Mit­glieds­staats in ei­nem Rechts­streit un­ter Pri­va­ten die dem Ge­mein­schafts­recht ex­pli­zit ent­ge­gen­ste­hen­de Ge­set­zes­re­ge­lung un­an­ge­wen­det zu las­sen oder ist dem Ver­trau­en, das die Nor­mun­ter­wor­fe­nen in die An­wen­dung gel­ten­der in­ner­staat­li­cher Ge­set­ze set­zen, da­hin­ge­hend Rech­nung zu tra­gen, dass die Un­an­wend­bar­keits­fol­ge erst nach Vor­lie­gen ei­ner Ent­schei­dung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs über die in­kri­mi­nier­te oder ei­ne im we­sent­li­chen ähn­li­che Re­ge­lung ein­tritt?

 

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G R Ü N D E :

A. Sach­ver­halt

Die Kläge­rin, am 12.02.1978 ge­bo­ren, war seit dem 04.06.1996 als Ver­sand­ar­bei­te­rin bei der Be­klag­ten beschäftigt. Auf das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en fan­den die ge­setz­li­chen Kündi­gungs­fris­ten An­wen­dung.

Mit Schrei­ben vom 19.12.2006, am sel­ben Tag zu­ge­gan­gen, erklärte die Be­klag­te die or­dent­li­che Kündi­gung zum 31.01.2007, hilfs­wei­se zum nächst-mögli­chen Ter­min.

Am 09.01.2007 hat die Kläge­rin beim Ar­beits­ge­richt Mönchen­glad­bach Kündi­gungs­schutz­kla­ge ein­ge­reicht. Sie hat u.a. gel­tend ge­macht, dass die Kündi­gung erst zum 30.04.2007 wir­ke, weil § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 BGB die Kündi­gungs­frist nach 10-jähri­ger Be­triebs­zu­gehörig­keit auf vier Mo­na­te zum Mo­nats­en­de verlänge­re. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, der be­stim­me, dass vor Voll­endung des 25. Le­bens­jah­res lie­gen­de Be­triebs­zu­gehörig­keits­zei­ten un­berück­sich­tigt blei­ben, ver­s­toße ge­gen das ge­mein­schafts­recht­li­che Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung und ha­be da­her un­be­ach­tet zu blei­ben.

Durch Teil­ur­teil vom 20.11.2007 hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt un­ent­schie­den ge­las­sen, ob die Kündi­gung zum 31.01.2007 oder erst zum 30.04.2007 wirkt und im übri­gen die Kla­ge ab­ge­wie­sen. Mit Be­schluss vom sel­ben Tag hat es den noch rechtshängi­gen Teil des Ver­fah­rens aus­ge­setzt und den Ge­richts­hof der Eu­ropäischen Ge­mein­schaf­ten um Vor­ab­ent­schei­dung er­sucht.

 

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B. Recht­li­cher Rah­men

Bürger­li­ches Ge­setz­buch [BGB]

§ 622 Kündi­gungs­fris­ten bei Ar­beits­verhält­nis­sen

(1) Das Ar­beits­verhält­nis ei­nes Ar­bei­ters oder ei­nes An­ge­stell­ten (Ar­beit­neh­mers) kann mit ei­ner Frist von vier Wo­chen zum Fünf­zehn­ten oder zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats gekündigt wer­den.

(2) Für ei­ne Kündi­gung durch den Ar­beit­ge­ber beträgt die Kündi­gungs­frist, wenn das Ar­beits­verhält­nis in dem Be­trieb oder Un­ter­neh­men

1. zwei Jah­re be­stan­den hat, ei­nen Mo­nat zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
2. fünf Jah­re be­stan­den hat, zwei Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
3. acht Jah­re be­stan­den hat, drei Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
4. zehn Jah­re be­stan­den hat, vier Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
5. zwölf Jah­re be­stan­den hat, fünf Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
6. 15 Jah­re be­stan­den hat, sechs Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats,
7. 20 Jah­re be­stan­den hat, sie­ben Mo­na­te zum En­de ei­nes Ka­len­der­mo­nats.

Bei der Be­rech­nung der Beschäfti­gungs­dau­er wer­den Zei­ten, die vor der Voll­endung des 25. Le­bens­jahrs des Ar­beit­neh­mers lie­gen, nicht berück­sich­tigt.

Ge­setz über die Fris­ten für die Kündi­gung von An­ge­stell­ten vom 9. Ju­li 1926 [auf­ge­ho­ben]

§ 2 (1) Ein Ar­beit­ge­ber, der in der Re­gel mehr als zwei An­ge­stell­te, aus­sch­ließlich der Lehr­lin­ge, beschäftigt, darf ei­nem An­ge­stell­ten, den er oder, im Fall ei­ner Rechts­nach­fol­ge, er und sei­ne Rechts­vorgänger min­des­tens fünf Jah­re beschäftigt ha­ben, nur mit min­des­tens drei Mo­na­ten Frist für den Schluss ei­nes Ka­len­der­vier­tel­jahrs kündi­gen. Die Kündi­gungs­frist erhöht sich nach ei­ner Beschäfti­gungs­dau­er von acht Jah­ren auf vier Mo­na­te, nach ei­ner Beschäfti­gungs­dau­er von zehn Jah­ren auf fünf Mo­na­te und nach ei­ner Beschäfti­gungs­dau­er von zwölf Jah­ren auf sechs Mo­na­te. Bei der Be­rech­nung der Beschäfti­gungs­dau­er wer­den Dienst­jah­re, die vor Voll­endung des fünf­und­zwan­zigs­ten Le­bens­jahrs lie­gen, nicht berück­sich­tigt.

 

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All­ge­mei­nes Gleich­be­hand­lungs­ge­setz [AGG]

§ 2 An­wen­dungs­be­reich

...

4) Für Kündi­gun­gen gel­ten aus­sch­ließlich die Be­stim­mun­gen zum all­ge­mei­nen und be­son­de­ren Kündi­gungs­schutz.

Grund­ge­setz für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land

Ar­ti­kel 3

(1) Al­le Men­schen sind vor dem Ge­setz gleich.

(2) Männer und Frau­en sind gleich­be­rech­tigt. Der Staat fördert die tatsächli­che Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung von Frau­en und Männern und wirkt auf die Be­sei­ti­gung be­ste­hen­der Nach­tei­le hin.

(3) Nie­mand darf we­gen sei­nes Ge­schlech­tes, sei­ner Ab­stam­mung, sei­ner Ras­se, sei­ner Spra­che, sei­ner Hei­mat und Her­kunft, sei­nes Glau­bens, sei­ner re­li­giösen oder po­li­ti­schen An­schau­un­gen be­nach­tei­ligt oder be­vor­zugt wer­den. Nie­mand darf we­gen sei­ner Be­hin­de­rung be­nach­tei­ligt wer­den.

Ar­ti­kel 20

....

(3) Die Ge­setz­ge­bung ist an die ver­fas­sungsmäßige Ord­nung, die voll­zie­hen­de Ge­walt und die Recht­spre­chung sind an Ge­setz und Recht ge­bun­den.

Ar­ti­kel 100

(1) Hält ein Ge­richt ein Ge­setz, auf des­sen Gültig­keit es bei der Ent­schei­dung an­kommt, für ver­fas­sungs­wid­rig, so ist das Ver­fah­ren aus­zu­set­zen ...

(2) Ist in ei­nem Rechts­strei­te zwei­fel­haft, ob ei­ne Re­gel des Völker­rech­tes Be­stand­teil des
Bun­des­rech­tes ist und ob sie un­mit­tel­bar Rech­te und Pflich­ten für den Ein­zel­nen er­zeugt (Ar­ti­kel 25), so hat das Ge­richt die Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes ein­zu­ho­len.

 

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Richt­li­nie 2000/78/EG des Ra­tes vom 27. No­vem­ber 2000 zur Fest­le­gung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens für die Ver­wirk­li­chung der Gleich­be­hand­lung in Beschäfti­gung und Be­ruf

Ar­ti­kel

1 Zweck

Zweck die­ser Richt­li­nie ist die Schaf­fung ei­nes all­ge­mei­nen Rah­mens zur Bekämp­fung der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen der Re­li­gi­on oder der Welt­an­schau­ung, ei­ner Be­hin­de­rung, des Al­ters oder der se­xu­el­len Aus­rich­tung in Beschäfti­gung und Be­ruf im Hin­blick auf die Ver­wirk­li­chung des Grund­sat­zes der Gleich­be­hand­lung in den Mit­glied­staa­ten.

Ar­ti­kel 2

Der Be­griff "Dis­kri­mi­nie­rung"

(1) Im Sin­ne die­ser Richt­li­nie be­deu­tet "Gleich­be­hand­lungs­grund­satz", dass es kei­ne un­mit­tel­ba­re oder mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­nes der in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Gründe ge­ben darf.

(2) Im Sin­ne des Ab­sat­zes 1

a) liegt ei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung vor, wenn ei­ne Per­son we­gen ei­nes der in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Gründe in ei­ner ver­gleich­ba­ren Si­tua­ti­on ei­ne we­ni­ger güns­ti­ge Be­hand­lung erfährt, als ei­ne an­de­re Per­son erfährt, er­fah­ren hat oder er­fah­ren würde;

b) liegt ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung vor, wenn dem An­schein nach neu­tra­le Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren Per­so­nen mit ei­ner be­stimm­ten Re­li­gi­on oder Welt­an­schau­ung, ei­ner be­stimm­ten Be­hin­de­rung, ei­nes be­stimm­ten Al­ters oder mit ei­ner be­stimm­ten se­xu­el­len Aus-rich­tung ge­genüber an­de­ren Per­so­nen in be­son­de­rer Wei­se be­nach­tei­li­gen können, es sei denn:

i) die­se Vor­schrif­ten, Kri­te­ri­en oder Ver­fah­ren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt, und die Mit­tel sind zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich, ....

Ar­ti­kel 6

Ge­recht­fer­tig­te Un­gleich­be­hand­lung we­gen des Al­ters

 

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(1) Un­ge­ach­tet des Ar­ti­kels 2 Ab­satz 2 können die Mit­glied­staa­ten vor­se­hen, dass Un­gleich­be­hand­lun­gen we­gen des Al­ters kei­ne Dis­kri­mi­nie­rung dar­stel­len, so­fern sie ob­jek­tiv und an­ge­mes­sen sind und im Rah­men des na­tio­na­len Rechts durch ein le­gi­ti­mes Ziel, wor­un­ter ins­be­son­de­re rechtmäßige Zie­le aus den Be­rei­chen Beschäfti­gungs­po­li­tik, Ar­beits­markt und be­ruf­li­che Bil­dung zu ver­ste­hen sind, ge­recht­fer­tigt sind und die Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich sind.

Der­ar­ti­ge Un­gleich­be­hand­lun­gen können ins­be­son­de­re Fol­gen­des ein­sch­ließen:

a) die Fest­le­gung be­son­de­rer Be­din­gun­gen für den Zu­gang zur Beschäfti­gung und zur be­ruf­li­chen Bil­dung so­wie be­son­de­rer Beschäfti­gungs- und Ar­beits­be­din­gun­gen, ein­sch­ließlich der Be­din­gun­gen für Ent­las­sung und Ent­loh­nung, um die be­ruf­li­che Ein­glie­de­rung von Ju­gend­li­chen, älte­ren Ar­beit­neh­mern und Per­so­nen mit Fürsor­ge­pflich­ten zu fördern oder ih­ren Schutz si­cher­zu­stel­len;

b) die Fest­le­gung von Min­dest­an­for­de­run­gen an das Al­ter, die Be­rufs­er­fah­rung oder das Dienst­al­ter für den Zu­gang zur Beschäfti­gung oder für be­stimm­te mit der Beschäfti­gung ver­bun­de­ne Vor­tei­le;

....

Ar­ti­kel 7

Po­si­ti­ve und spe­zi­fi­sche Maßnah­men

(1) Der Gleich­be­hand­lungs­grund­satz hin­dert die Mit­glied­staa­ten nicht dar­an, zur Gewähr­leis­tung der völli­gen Gleich­stel­lung im Be­rufs­le­ben spe­zi­fi­sche Maßnah­men bei­zu­be­hal­ten oder ein­zuführen, mit de­nen Be­nach­tei­li­gun­gen we­gen ei­nes in Ar­ti­kel 1 ge­nann­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­grunds ver­hin­dert oder aus­ge­gli­chen wer­den.

....

C . Recht­li­che Be­ur­tei­lung

I. An­wen­dung des deut­schen Ge­set­zes­rechts

1. Nach na­tio­na­lem Recht wäre die Kla­ge ab­zu­wei­sen. Die Be­klag­te hat die Kündi­gungs­frist des § 622 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB von ei­nem Mo­nat zum Mo­nats­en­de ein­ge­hal­ten. Die vor Voll­endung des 25. Le­bens­jah­res lie­gen­den

 

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Beschäfti­gungs­zei­ten der Kläge­rin blei­ben nach § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB un­berück­sich­tigt. Die in Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 bei zehnjähri­gem Be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses vor­ge­schrie­be­ne Kündi­gungs­frist von vier Mo­na­ten zum Mo­nats­en­de kommt da­her nicht zum Tra­gen.

2. § 622 Abs. 2 BGB ist der Aus­le­gung, dass sich der Er­werb länge­rer Kündi­gungs­fris­ten aus­sch­ließlich nach der Dau­er des Ar­beits­verhält­nis­ses rich­tet, nicht zugäng­lich. Der Wort­laut des Sat­zes 2 ist un­miss­verständ­lich. Er ent­spricht, wie die ge­setz­li­che Vor­ge­schich­te be­legt, der par­la­men­ta­ri­schen The­ma­ti­sie­rung der Al­ters­schwel­le und dem Wil­len des Ge­setz­ge­bers, den älte­ren Ar­beit­neh­mer vor Ar­beits­lo­sig­keit zu schützen, weil ihn „je­de Ar­beits­lo­sig­keit un­gleich härter als jünge­re Ar­beits­kräfte trifft; er hat in der Re­gel ei­ne Fa­mi­lie zu ver­sor­gen, ein Be­rufs- oder Wohn­ort­wech­sel wird ihm be­son­ders schwer“ (RArbBl. 1926, Nr.28, 488). Anläss­lich der Ände­run­gen des § 622 BGB ist die Fra­ge, ob Beschäfti­gungs­zei­ten un­abhängig vom Le­bens­al­ter oder erst ab dem 25. Le­bens­jahr kündi­gungs­frist­verlängernd wir­ken soll­ten, eben­falls dis­ku­tiert und im Sinn der vor­lie­gen­den Ge­set­zes­fas­sung ent­schie­den wor­den (BT-Drucks. 12/4907 S.6, BT-Drucks. 12/4902, S.7, BT-Drucks. 12/5228). § 622 Abs. 2 BGB hat nach sei­nem auf den Schutz länger beschäftig­ter, älte­rer Ar­beit­neh­mer aus­ge­rich­te­ten Zweck da­her un­zwei­fel­haft zum Re­ge­lungs­in­halt, dass bis zum voll­ende­ten 25. Le­bens­jahr zurück­ge­leg­te Beschäfti­gungs­zei­ten un­be­acht­lich blei­ben und erst ab die­sem Al­ter Ar­beit­neh­mer suk­zes­si­ve nach der Dau­er ih­rer Be­triebs­zu­gehörig­keit in den Be­sitz­stand länge­rer Kündi­gungs­fris­ten hin­ein­wach­sen sol­len.

Auch wenn man über § 622 Abs. 2 BGB hin­aus das ge­sam­te deut­sche Recht berück­sich­tigt, er­gibt sich der­sel­be Be­fund. So hat der Ge­setz­ge­ber in § 2 Abs. 4 AGG be­stimmt, dass „für Kündi­gun­gen aus­sch­ließlich die Be­stim­mun­gen zum all­ge­mei­nen und be­son­de­ren Kündi­gungs­schutz gel­ten“ sol­len (vgl. BT-Drucks. 16/2022, Sei­te 12: „Die we­sent­li­chen Be­stim­mun­gen des all­ge­mei­nen Kündi­gungs­schut­zes fin­den sich im Bürger­li­chen Ge­setz­buch ...“). § 2 Abs. 4

 

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AGG mag eu­ro­pa­rechts­wid­rig sein. An der Ein­deu­tig­keit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ändert sich da­durch nichts.

3. Die na­tio­na­len Ge­rich­te sind nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Ge­setz ge­bun­den. Das be­deu­tet, dass sie gel­ten­de Ge­set­ze an­wen­den, ei­ne of­fen­sicht­lich ein­schlägi­ge Norm berück­sich­ti­gen müssen (BVerfG vom 03.11.1992, AP Nr. 5 zu § 31 BRA­GO, Sachs, GG, 4. Aufl., Art. 20 Rz. 119). § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist gel­ten­des Recht und of­fen­sicht­lich ein­schlägig. Die Fest­stel­lung der Nich­tig­keit ei­ner Ge­set­zes­norm, die dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt vor­be­hal­ten ist (§ 31 BVerfGG), liegt – be­zo­gen auf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB – nicht vor. Eben­so we­nig ist die Kam­mer ver­an­lasst ge­we­sen, vor dem Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren nach Art. 234 EG oder an des­sen Stel­le ei­ne Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes gemäß Art. 100 GG ein­zu­ho­len (vgl. auch BVerfG vom 11.07.2006, BverfGE 116, 202, 214). Da die Nor­men der Eu­ropäischen Ge­mein­schaft kei­ne all­ge­mei­nen Re­geln i. S. des Art. 25 GG sind (BVerfG vom 26.03.1986, BB 1986, 1070), entfällt ei­ne Vor­la­ge­pflicht nach Art. 100 Abs. 2 GG. Die Rich­ter­vor­la­ge nach Art. 100 Abs. 1 schei­det gleich­falls aus. Im ein­zel­nen:

a) Nach der ständi­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (BVerfG vom 29.11.1967, BVerfGE 22, 373, 377, vom 05.04.1989, BVerfGE 80, 54, 58) ist ei­ne Vor­la­ge un­zulässig, wenn das Ge­richt le­dig­lich Zwei­fel an der Ver­fas­sungsmäßig­keit ei­ner Norm hat und nicht von de­ren Ver­fas­sungs­wid­rig­keit über­zeugt ist. Das ist hier der Fall. Die Kam­mer ist nicht von der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB über­zeugt.

Die Ver­fas­sungs­wid­rig­keit könn­te, weil die Ver­fas­sung, ins­bes. in Art. 3 GG, nicht die Be­nach­tei­li­gung we­gen des Al­ters her­vor­hebt, sich nur aus dem all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz des Art. 3 Abs. 1 GG er­ge­ben und an­ge­nom­men wer­den, wenn sich ein vernünf­ti­ger, aus der Na­tur der Sa­che er­ge­ben­der oder sonst wie sach­lich ein­leuch­ten­der Grund für die ge­setz­li­che Dif­fe­ren­zie­rung

 

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oder Gleich­be­hand­lung nicht fin­den lässt (BVerfG vom 20.09.2007, DVBl 2007, 143 ff.).

b) Ge­genüber der Grundkündi­gungs­frist des § 622 Abs. 1 BGB, die für al­le jun­gen so­wie für je­ne Ar­beit­neh­mer gilt, de­ren Ar­beits­verhält­nis noch nicht länger als zwei Jah­re be­steht, be­deu­tet die stu­fen­wei­se Frist­verlänge­rung nach Abs. 2 für die länger beschäftig­ten, älte­ren Ar­beit­neh­mer ei­ne Vergüns­ti­gung. Da­mit wirkt sie sich für die jun­gen Ar­beit­neh­mer als Be­nach­tei­li­gung aus, de­ren Be­triebs­treue nicht die Ex­spek­tanz auf länge­re Kündi­gungs­fris­ten be­gründet.

c) Ein Sach­grund für die „Al­ters­schwel­le 25“ lässt sich nicht un­mit­tel­bar aus ar­beits­markt- und beschäfti­gungs­po­li­ti­schen Zie­len ab­lei­ten. Die Aus­wir­kun­gen von Be­stands­schutz­be­stim­mun­gen auf dem Ge­biet der Ar­beits­markt- und Beschäfti­gungs­po­li­tik sind, wenn es ins­bes. um die Ver­rin­ge­rung von all­ge­mei­ner Ar­beits­lo­sig­keit geht, um­strit­ten und em­pi­risch un­zu­rei­chend be­legt. Die Ge­stal­tung des Be­stands­schut­zes mag mit­tel­bar das Ein­stel­lungs­ver­hal­ten der Ar­beit­ge­ber und die Aus­wahl der Stand­or­te ih­rer be­trieb­li­chen Tätig­keit be­ein­flus­sen: Ge­rin­ge­rer Kündi­gungs­schutz und da­mit auch kürze­re Kündi­gungs­fris­ten erhöhen die per­so­nal­wirt­schaft­li­che Fle­xi­bi­lität und ver­rin­gern das Ri­si­ko der wirt­schaft­li­chen Be­las­tung, die aus der Vergütungs­pflicht ge­genüber ei­nem Ar­beit­neh­mer, für des­sen Beschäfti­gung in der Kündi­gungs­frist kein Be­darf mehr ge­se­hen wird, re­sul­tiert. Die­se As­pek­te können na­he le­gen, dass zur Bekämp­fung der ho­hen Ar­beits­lo­sig­keit jun­ger Men­schen Ar­beit­ge­bern da­durch, dass sie le­dig­lich die Grundkündi­gungs­frist ein­hal­ten müssen, ein An­reiz ge­ge­ben wer­den wird, jun­ge Men­schen ein­zu­stel­len (vgl. auch Mit­tei­lung der Kom­mis­si­on vom 20.11.2007 - Kern­aus­sa­gen des Be­richts über die Beschäfti­gung in Eu­ro­pa 2007), und um­ge­kehrt verlänger­te Kündi­gungs­fris­ten sich ih­nen als Hemm­nis dar­stel­len, älte­re Ar­beit­neh­mer ein­zu­stel­len. Gleich­wohl ist die beschäfti­gungs­po­li­ti­sche Wir­kung von Kündi­gungs­fris­ten nicht be­legt. Je­den­falls lässt sich zu der „Al­ters­schwel­le 25“ nicht fest­stel­len, dass sie Zie­le aus den Be­rei­chen Beschäfti­gungs­po­li­tik und Ar­beits­markt kon­kret ver­folgt und ver­wirk-licht. So feh­len Un­ter­su­chun­gen, die zu der Er­kennt­nis be­rech­ti­gen könn­ten,

 

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dass we­gen ei­ner ty­pi­schen und ge­ne­rel­len Be­trof­fen­heit der Ar­beit­neh­mer ab dem voll­ende­ten 25. bzw. 27. Le­bens­jahr (wenn man auf die erst­ma­lig auf­grund der ver­brach­ten Beschäfti­gung mögli­che Verlänge­rung der Kündi­gungs­frist ab-stellt) die Verlänge­rung der Kündi­gungs­frist ei­ne an­ge­mes­se­ne und er­for­der­li­che Re­ak­ti­on in der Ver­fol­gung beschäfti­gungs- und ar­beits­markt­po­li­ti­scher Zie­le sein könn­te. Die in­kri­mi­nier­te Ge­set­zes­re­ge­lung ori­en­tiert sich, was für die strin­gen­te Ver­fol­gung ei­ner beschäfti­gungs- und ar­beits­markt­po­li­ti­schen Ziel­set­zung un­erläss­lich wäre, über­dies nicht an Ein­fluss­fak­to­ren wie Qua­li­fi­ka­ti­on, Bran­che, Be­rufs­grup­pe, Ge­sund­heits­zu­stand, Ge­schlecht, re­gio­na­le La­ge und kon­junk­tu­rel­le Ge­samt­si­tua­ti­on.

d) Die Ver­knüpfung der Kündi­gungs­frist­verlänge­rung mit ei­nem Min­dest­al­ter be­ruht we­sent­lich auf so­zi­al-, ge­sell­schafts- und fa­mi­li­en­po­li­ti­schen Ge­stal­tungs­vor­stel­lun­gen des Ge­setz­ge­bers und auf der Einschätzung, dass älte­re Ar­beit­neh­mer von Ar­beits­lo­sig­keit stärker be­trof­fen sind, dies we­gen ih­rer fa­mi­liären und wirt­schaft­li­chen Ver­pflich­tun­gen und ab­neh­men­der be­ruf­li­cher Fle­xi­bi­lität und Mo­bi­lität (zum Ver­lust an An­pas­sungs­elas­ti­zität und zur schwe­re­ren Ver­mit­tel­bar­keit ge­ra­de älte­rer und lan­ge in ei­nem Un­ter­neh­men beschäftig­ter Ar­beit­neh­mer: BVerfG vom 16.11.1982, AP Nr. 16 zu § 622 BGB, zu B II 5 b) . So ge­schah die Einführung der Al­ters­schwel­le (25/30) durch das Ang­KSchG im Jahr 1926 vor dem Hin­ter­grund, dass noch ins be­gin­nen­de 20. Jahr­hun­dert hin­ein die An­ge­stell­ten, über­wie­gend männ­li­chen Ge­schlechts, im Durch­schnitts­al­ter von ca. 30 ei­ne Fa­mi­lie zu gründen pfleg­ten. Auf die­ser Li­nie liegt es, wenn man auch heu­te für ei­ne Begüns­ti­gung der älte­ren Ar­beit­neh­mer durch länge­re Kündi­gungs­fris­ten – ne­ben ei­ner mit dem Al­ter ver­bun­de­nen Erhöhung des Le­bens­stan­dards und da­mit des fi­nan­zi­el­len Be­darfs – auf das im Re­gel­fall höhe­re Kündi­gungs­ri­si­ko und die ge­rin­ge­ren Chan­cen ei­ner Wie­der­ein­glie­de­rung in den Ar­beits­markt ver­weist (Münch­KommBGB/Thüsing, 5. Aufl., § 10 AGG Rz. 14, 41). Mit den länge­ren Kündi­gungs­fris­ten soll „die An­pas­sung an ei­ne veränder­te be­ruf­li­che Si­tua­ti­on, die Su­che ei­ner an­de­ren Ar­beits­stel­le er­leich­tert wer­den“ (BVerfG vom 16.11.1982, a.aO., zu B I).

 

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Da­mit spie­gelt § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB gleich­zei­tig die Einschätzung des Ge­setz­ge­bers wi­der, dass es jünge­ren Ar­beit­neh­mer re­gelmäßig leich­ter fal­le und schnel­ler ge­lin­ge, auf den Ver­lust ih­res Ar­beits­plat­zes zu re­agie­ren, dass ih­nen auf­grund ih­res Al­ters größere Fle­xi­bi­lität und Mo­bi­lität und auch die Be­reit­schaft, ih­re fa­mi­liären, pri­va­ten und fi­nan­zi­el­len Dis­po­si­tio­nen an dem durch die Grundkündi­gungs­frist gewähr­ten Schutz aus­zu­rich­ten, zu­ge­mu­tet wer­den könne. Ih­re durch die Beschäfti­gungs­dau­er ent­stan­de­ne Bin­dung an den Ar­beits­platz löst nicht die Fürsor­ge aus, die der Ar­beit­ge­ber den älte­ren Ar­beit­neh­mern schul­det.

e) Im Schrift­tum wird § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB teil­wei­se als „ver­al­tet“ (Stau­din­ger/Preis, BGB [2002 ], § 622 Rz. 8) und als „sach­lich kaum zu recht­fer­ti­gen“ (ErfK/Müller-Glöge, 7. Aufl., § 622 BGB Rz. 2) be­zeich­net. Das präsu­mier­te Min­dest­al­ter trifft, was Be­den­ken ge­gen die rechts­po­li­ti­sche Aus­ge­wo­gen­heit der Re­ge­lung nährt, die jun­gen Men­schen un­gleich, nämlich je­ne Grup­pe, die oh­ne oder nach nur kur­zer Be­rufs­aus­bil­dung früh ei­ne Ar­beitstätig­keit auf­nimmt, und nicht die an­de­re Grup­pe, die nach lan­ger Aus­bil­dung erst spät in den Be­ruf ein­tritt. Auch er­scheint es stark ver­ein­facht, so­zia­len Schutz­be­darf am Min­dest­al­ter 25 fest­zu­ma­chen.
Die De­fi­zi­te der Ge­set­zes­re­ge­lung rei­chen der Kam­mer gleich­wohl nicht aus, um ih­re Über­zeu­gung von der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit der „Al­ters­schwel­le 25“ zu be­gründen. Denn dem Ge­setz­ge­ber steht bei der Ent­schei­dung, ob, auf wel­che Wei­se und ab wel­chem Al­ter (Stich­tag) er älte­ren Ar­beit­neh­mern erhöhten Be­stands­schutz gewährt, ei­ne Einschätzungs­präro­ga­ti­ve und ein wei­ter Spiel­raum po­li­ti­schen Er­mes­sens zu (vgl. BVerfG vom 04.04.2001, BVerfGE 103, 310, 318). Er muss die Kündi­gungs­frist­verlänge­rung nicht von ih­rer un­mit­tel­ba­ren Wir­kung auf dem Ar­beits­markt und in der Beschäfti­gungs­po­li­tik abhängig ma­chen, wo­bei der­ar­ti­ges ei­ne ar­beits­recht­li­che Ge­set­zes­norm an­ge­sichts der sehr un­ter­schied­li­chen und sich ständig wan­deln­den Verhält­nis­se auf dem Ar­beits­markt auch kaum leis­ten kann. Zwar ge­ben die bloße Rück­sicht­nah­me auf im Ar­beits­le­ben ver­brei­te­te, tra­dier­te „Ge­rech­tig­keits­vor­stel­lun­gen“ oder das In­ter­es­se an Re­ge­lungs­kon­stanz kei­nen Sach­grund für die durch § 622 Abs. 2

 

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Satz 2 BGB (eben­so: § 29 Abs. 4 des Heim­ar­beits­ge­set­zes [HAG]) her­bei­geführ­te Un­gleich­be­hand­lung nach dem Le­bens­al­ter ab. Das ändert je­doch nichts dar­an, dass der Ge­setz­ge­ber bei der Ge­wich­tung des Be­stands- und Dis­po­si­ti­ons­schutz­in­ter­es­se der Ar­beit­neh­mer ne­ben der Be­triebs­zu­gehörig­keit (§ 622 Abs. 2 Satz1 BGB) auch das Al­ter berück­sich­ti­gen kann, hier zu­guns­ten der Bes­ser­stel­lung der länger beschäftig­ten und älte­ren Ar­beit­neh­mer, und dar­in ein vernünf­ti­ger Grund liegt. Im Un­ter­schied zur § 14 Abs. 3 Tz­B­fG a.F. geht es in § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch nicht dar­um, ei­ne Le­bens­al­ter­grup­pe von ei­nem all­ge­mei­nen, i.c. dem durch die ge­setz­li­chen (Grund-)Kündi­gungs­fris­ten gewähr­leis­te­ten Schutz­stan­dard ab­zu­kop­peln, son­dern es soll ei­ner für schutzwürdig ge­hal­te­nen Al­ters­grup­pe ei­ne Vergüns­ti­gung ver­schafft wer­den. Da­her darf der sach­li­che Recht­fer­ti­gungs­zwang nicht über­spannt wer­den (Wie­de­mann, Anm. zu AP Nr. 1 zu Richt­li­nie 2000/78/EG, un­ter IV). Der Ge­setz­ge­ber brauch­te bei der Kündi­gungs­fris­ten­re­ge­lung den Gleich­heits­satz nicht als Ge­bot zur Gleich­ma­che­rei zu ver­ste­hen oder sich z.B. mi­ni­ma­lis­tisch auf das Kri­te­ri­um der Beschäfti­gungs­dau­er zu be­schränken, wo­bei mit der Beschäfti­gungs­dau­er in­di­rekt eben­falls das Älter­wer­den oh­ne beschäfti­gungs­po­li­ti­sche Recht­fer­ti­gung be­lohnt würde.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat sich in den Be­schlüssen vom 16.11.1982 (BVerfGE 62, 256 ff.) und vom 30.05.1990 (BVerfGE 82, 126 ff.) mit den ge­setz­li­chen Kündi­gungs­fris­ten be­fasst. Auch wenn dies un­ter ei­ner an­de­ren Fra­ge­stel­lung, nämlich der Un­gleich­be­hand­lung von Ar­bei­tern und An­ge­stell­ten, ge­schah, so ist nicht be­an­stan­det wor­den, dass die Vergüns­ti­gung verlänger­ter Kündi­gungs­fris­ten Ar­beit­neh­mern erst ab ei­nem be­stimm­ten Le­bens­al­ter gewährt wer­den kann. Viel­mehr hat­te der Ge­setz­ge­ber auch die be­trof­fe­nen Grund­rechts­po­si­tio­nen der Ar­beit­ge­ber ein­zu­be­zie­hen, na­ment­lich ihr In­ter­es­se, die Ge­samt­be­las­tung durch verlänger­te Kündi­gungs­fris­ten be­grenzt zu wis­sen und ihr Bedürf­nis nach fle­xi­bler Per­so­nal­pla­nung und da­mit nur mit der Grundkündi­gungs­frist lösba­ren Ar­beits­verhält­nis­sen.

 

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f) Nach al­lem ist die Kam­mer nicht von der Ver­fas­sungs­wid­rig­keit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB über­zeugt, so dass ei­ne Vor­la­ge nach § 100 Abs. 1 GG aus­schei­det. Es kann so­mit auch auf sich be­ru­hen, ob ver­fas­sungs­ge­richt­lich ei­ne Gleich­heits­wid­rig­keit der Kündi­gungs­fris­ten­re­ge­lung zur Fest­stel­lung der Nich­tig­keit nur der „Al­ters­schwel­le 25“ oder zu ei­ner An­pas­sung der Ge­samt­re­ge­lung durch den Ge­setz­ge­ber führen würde.

g) Der bis­he­ri­gen Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist nicht zu ent­neh­men, dass die für Art. 3 Abs. 1 GG gel­ten­den Aus­le­gungs­kri­te­ri­en ins­be­son­de­re nach dem Ur­teil des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs vom 22. 11.2005 (Rs. C-144/04 Man­gold, AP Nr. 1 zu Richt­li­nie 2000/78/EG) zu mo­di­fi­zie­ren und dem ge­mein­schafts­recht­li­chen Gleich­be­hand­lungs­grund­satz, dem dar­aus fol­gen­den Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung und den ge­mein­schafts­recht­li­chen Maßstäben, nach de­nen Un­gleich­be­hand­lun­gen auf­grund des Al­ters ge­recht­fer­tigt sein können (vgl. Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 EGRL 2000/78), an­zu­pas­sen sind.
Im übri­gen würde der Vor­rang von Ge­mein­schafts­recht, auch EG-Primärrecht, nicht zwangsläufig die Ver­fas­sungs­wid­rig­keit in­ner­staat­li­cher Ge­set­ze be­gründen.

II. An­wen­dung des Ge­mein­schafts­rechts

1. Die Kam­mer neigt in An­se­hung der Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs zu der Auf­fas­sung, dass die EGRL 2000/78 kei­ne un­mit­tel­ba­re Wir­kung ent­fal­tet.

Nach der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs (EuGH, Ur­teil vom 07.09.2006, Rs. C-81/05 Cor­de­ro Alon­so, NJW 2006, 3623 ff.) kann ei­ne Richt­li­nie nicht selbst Ver­pflich­tun­gen für ei­nen Ein­zel­nen be­gründen, so dass ihm ge­genüber ei­ne Be­ru­fung auf die Richt­li­nie als sol­che nicht möglich ist, wo­hin­ge­gen sich der Staat in all sei­nem Han­deln, al­so auch als Ar­beit­ge­ber, nicht dar­auf be­ru­fen

 

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kann, ei­ne Richt­li­nie sei nicht, nicht vollständig oder nicht zu­tref­fend in das na­tio­na­le Recht um­ge­setzt wor­den. Im Streit­fall ist der Staat nicht be­tei­ligt. Die Richt­li­nie EGRL 2000/78 ent­fal­te­tet da­her kei­ne un­mit­tel­ba­re Gel­tung un­ter den Par­tei­en.

Des Wei­te­ren dürf­te un­er­heb­lich sein, dass die der Bun­des­re­pu­blik zu­ge­stan­de­ne Um­set­zungs­frist für die EGRL 2000/78 An­fang De­zem­ber 2006 ab­ge­lau­fen ist. Zwar löst spätes­tens der Ab­lauf der Um­set­zungs­frist die Pflicht zur eu­ro­pa­rechts­kon­for­men Aus­le­gung na­tio­na­len Rechts aus (Ko­kott, RdA 2006, Son­der­bei­la­ge Heft 6, 30, 32). Das Ge­richt muss das na­tio­na­le Recht so weit wie möglich im Licht des Wort­lauts und des Zwe­ckes der be­tref­fen­den Richt­li­nie aus­le­gen, um die mit ihr ver­folg­ten Er­geb­nis­se zu er­rei­chen, in­dem es die die­sem Zweck am bes­ten ent­spre­chen­de Aus­le­gung der na­tio­na­len Rechts­vor­schrif­ten wählt und da­mit zu ei­ner mit den Be­stim­mun­gen die­ser Richt­li­nie ver­ein­ba­ren Lösung ge­langt (EuGH, Ur­teil vom 04.07.2006, Rs. C-212/04 Aden­eler, NJW 2006, 2465 ff., Rz. 124), es muss in­so­weit al­les tun, was in sei­ner Zuständig­keit liegt, um das mit der Richt­li­nie ver­folg­te Ziel zu er­rei­chen (EuGH, Ur­teil vom 05.10.2004, Rs. C-397/01 Pfeif­fer, NJW 2004, 3547 ff., Rz. 119). Vor­aus­set­zung bleibt je­doch, dass die na­tio­na­le Re­ge­lung aus­le­gungsfähig ist. Bei der Aus­le­gung von Ge­set­zes- und auch Ge­mein­schafts­vor­schrif­ten ist nicht al­lein der Wort­laut zu berück­sich­ti­gen, son­dern auch die sys­te­ma­ti­sche Ein­bin­dung in den je­wei­li­gen Norm­kon­text und die Ziel­set­zung, die mit der Re­ge­lung, zu der die Vor­schrift gehört, nach er­kenn­ba­rer Ab­sicht des Norm­ge­bers ver­folgt wer­den (BVerfG vom 07.06.2005, BVerfGE 113, 88, 103 f., EuGH 07.12.2006, C-306/05 SGAE, EWS 2007, 33 ff.). In An­wen­dung die­ser Kri­te­ri­en ist, wie oben zu C I 2 aus­geführt, § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nicht aus­le­gungsfähig.

2. Nach dem Ur­teil des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs vom 22.11.2005 (a.a.O., Rz. 75 ff.) hat das na­tio­na­le Ge­richt na­tio­na­les Recht, das dem all­ge­mei­nen Ver­bot der Dis­kri­mi­nie­rung we­gen des Al­ters ent­ge­gen­steht, un­an­ge­wen­det zu las­sen. Die Nicht­berück­sich­ti­gung der bis zum voll­ende­ten 25. Le­bens­jahr ver­brach­ten Beschäfti­gungs­zei­ten wirkt sich als Schlech­ter­stel­lung der jünge­ren

 

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Ar­beit­neh­mer ge­genüber älte­ren Ar­beit­neh­mern aus. § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB wi­der­spricht da­her dem ge­mein­schafts­recht­li­chen Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung.

In der ar­beits­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung (LAG Ber­lin-Bran­den­burg, Ur­teil vom 24.07.2007, DB 2007, 2542 f.) wird in Be­zug auf den ge­mein­schafts­recht­li­chen Grund­satz der Gleich­be­hand­lung und das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung die Auf­fas­sung ver­tre­ten, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB jünge­re Ar­beit­neh­mer we­gen des Al­ters be­nach­tei­li­ge, oh­ne dass hierfür ein Recht­fer­ti­gungs­grund er­sicht­lich sei. In glei­cher Wei­se hält die ar­beits­recht­li­che Fach­li­te­ra­tur na­he­zu uni­so­no die sta­tu­ier­te Al­ters­schwel­le für eu­ro­pa­rechts­wid­rig (z.B. Löwisch, FS-Schwerdt­ner [2003], 771, Preis, NZA 2006, 401 [408], Rust/Fal­ke/ Ber­tels­mann, AGG, § 10 Rz. 163 f., u.v.a.m.). Nur We­ni­ge im Schrift­tum se­hen dies an­ders (Wie­de­mann, a.a.O., Münch­KommBGB/Thüsing, a.a.O.).

Ge­mes­sen an dem Ar­gu­men­ta­ti­ons­duk­tus der Man­gold-Ent­schei­dung und den dort her­aus­ge­stell­ten „Erwägun­gen im Zu­sam­men­hang mit der Struk­tur des je­wei­li­gen Ar­beits­mark­tes und der persönli­chen Si­tua­ti­on des Be­trof­fe­nen“ (Rz. 65) er­scheint es der Kam­mer als zwei­fel­haft, ob die Un­gleich­be­hand­lung nach den all­ge­mei­nen Grundsätzen des Ge­mein­schafts­rechts oder im Licht des Art. 6 Abs. 1 EGRL 2000/78 sach­lich zu recht­fer­ti­gen sein könn­te, zu­mal die Re­ge­lung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB es an ei­nem hin­rei­chend kon­kre­ten Be­zug zur Ar­beits­markt­si­tua­ti­on feh­len lässt. Die Kam­mer sieht zwi­schen der vor­lie­gen­den Re­ge­lung und § 14 Abs. 3 Tz­B­fG i.d.F. v. 23.12.2002 auch kei­ne We­sensähn­lich­keit, so dass sich die Ausführun­gen des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs im Ur­teil vom 22.11.2005 (a.a.O., Man­gold) im Licht des Ur­teils des Ge­richts­hofs vom 16.10.2007 (Rs. C-411/05 Pa­la­ci­os de la Vil­la, DB 2007, 2427) auf die hier zu be­ur­tei­len­de Kündi­gungs­frist­verlänge­rung nicht oh­ne wei­te­res über­tra­gen las­sen. Da­her ist zur Klärung, ob § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ge­gen das Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung als Be­stand­teil des ge­mein­schafts­recht­li­chen Primärrecht verstößt, gemäß der Vor­la­ge­fra­ge zu 1 der Ge­richts­hof um Vor­ab­ent­schei­dung zu er­su­chen.

 

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3. Nach der Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs vom 22.11.2005 (a.a.O., Man­gold) sind die na­tio­na­len Ge­rich­te für Ar­beits­sa­chen ver­pflich­tet, die in­ner­staat­li­che Be­stim­mung, de­ren Ge­mein­schafts­wid­rig­keit auf ei­ner Ver­let­zung des Gleich­be­hand­lungs­grund­sat­zes als all­ge­mei­nen Grund­satz des Ge­mein­schafts-rechts be­ruht, un­an­ge­wen­det zu las­sen.

Für § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt Ber­lin-Bran­den­burg (Ur­teil vom 24.07.2007, a.a.O.) dar­aus ge­fol­gert, dass, oh­ne den Eu­ropäischen Ge­richts­hof um Vor­ab­ent­schei­dung er­su­chen zu müssen, die Ge­set­zes­vor­schrift un­an­wend­bar zu las­sen und dem Ar­beit­ge­ber auch kein Ver­trau­ens­schutz zu­zu­bil­li­gen sei (a.A. ArbG Lörrach vom 23.01.2007, Ar­buR 2007, 184, ArbG Ber­lin vom 22.08.2007, 86 Ca 1696/07, – zu ei­ner ta­rif­li­chen Kündi­gungs­fris­ten­re­ge­lung – LAG Ba­den-Würt­tem­berg vom 30.07.2007, 15 Sa 29/07).

Die Auf­fas­sung, dass die na­tio­na­len Fach­ge­rich­te bei Verstößen ge­gen ge­mein­schafts­recht­li­ches Primärrecht durch­ent­schei­den können, wird ei­ner­seits er­mu­tigt durch Ent­schei­dun­gen des Bun­des­ar­beits­ge­richts (vgl. BAG Ur­teil vom 03.04.2007, AP Nr. 14 zu § 81 SGB IX, un­ter Hin­weis auf BAG, Ur­teil 26.04.2006 (AP Nr. 23 zu § 14 Tz­B­fG [= 2 BvR 2661/06] ). An­de­rer­seits macht der Vor­la­ge­be­schluss des Bun­des­ar­beits­ge­richts vom 27.06.2003, (AP Nr. 6 zu § 1b Be­trAVG [= Rs. C-427/06 Bartsch] ) deut­lich, dass sel­ben­orts Be­darf ge­se­hen wird, die durch die Man­gold-Ent­schei­dung aus­gelösten Ir­ri­ta­tio­nen mit­tels ei­ner Klar­stel­lung sei­tens des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs zu be­ru­hi­gen.

Der Kam­mer schei­nen eben­falls die Schluss­fol­ge­run­gen, die die na­tio­na­len Ge­rich­te aus der Man­gold-Ent­schei­dung (a.a.O.) so­wie der Pa­la­ci­os-Ent­schei­dung (a.a.O.) für die An­wen­dung ent­ge­gen­ste­hen­der na­tio­na­ler Be­stim­mun­gen zu zie­hen ha­ben, noch nicht ab­sch­ließend geklärt zu sein. Da­bei hat sie fol­gen­des an­zu­mer­ken:

 

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a) An die­ser Stel­le braucht nicht die Vor­wir­kung von EG-Richt­li­ni­en pro­ble­ma­ti­siert zu wer­den. Zum ei­nen geht es vor­lie­gend um Primärrecht. Zum an­de­ren war die Um­set­zungs­frist für die EGRL 2000/78 An­fang De­zem­ber 2006 ab­ge­lau­fen. Die Kündi­gung der Kläge­rin ist nach die­sem Zeit­punkt aus­ge­spro­chen wor­den.

b) Ist der Staat sei­ner Um­set­zungs­pflicht nicht recht­zei­tig und genügend nach­ge­kom­men, so dass na­tio­na­les Recht der Richt­li­nie wi­der­spricht, kom­men als Sank­tio­nen ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren nach Art. 226 EG-Ver­trag oder ein Scha­dens­er­satz­an­spruch ge­gen den Staat in Be­tracht. Die­se Sank­tio­nen grei­fen frei­lich ent­we­der nur für die Zu­kunft oder sind le­dig­lich auf Aus­gleich des Scha­dens aus der Dis­kri­mi­nie­rung ge­rich­tet und be­wir­ken da­her nicht die be­zweck­te Gleich­be­hand­lung. Sie ver­hin­dern nicht, dass ein Rechts­gefälle ent­steht zwi­schen den ge­mein­schafts­rechtstreu­en Mit­glieds­staa­ten ei­ner­seits und sol­chen Mit­glieds­staa­ten an­der­seits, die sich nicht der Um­set­zung von Ge­mein­schafts­recht be­fleißigen. Da­her ist nach­voll­zieh­bar, wenn die Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs die na­tio­na­len Ge­rich­te anhält, dem eu­ropäischem Primärrecht im na­tio­na­len Recht Gel­tung zu ver­schaf­fen.

c) Al­ler­dings sind die deut­schen Ge­rich­te ver­fas­sungs­recht­lich ver­pflich­tet, die gel­ten­den Ge­set­zes­nor­men und al­so auch § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB an­zu­wen­den (oben zu C I 3).

(11) Die­ser An­wen­dungs­pflicht kann man nicht ent­ge­gen­hal­ten, dass die Ge­mein­schafts­rechts­wid­rig­keit ei­ner Norm des na­tio­na­len Rechts nicht zu de­ren Nich­tig­keit führe, die na­tio­na­le Norm viel­mehr fort­be­ste­he und wei­ter an­zu­wen­den sei, so­bald die Ge­mein­schafts­rechts­wid­rig­keit ent­fal­le (so aber BAG, Ur­teil vom 26.04.2006, a.a.O., ErfK/Wißmann, 7. Aufl., Vorb. EG, Rz. 21). Ei­ne sol­che Sicht­wei­se hält die Kam­mer für zu for­ma­lis­tisch. Tatsächlich würde die ge­richt­li­che Pra­xis, ei­ne Norm nicht mehr an­zu­wen­den, ei­ner Nich­tig­keits­fest-

 

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stel­lung gleich­kom­men. Das ent­spricht nicht dem ver­fas­sungs­recht­li­chen Leit­bild in Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1, Art. 100 GG (§ 31 BVerfGG).

(22) Das Rechts­staats­prin­zip des Art. 20 Abs. 3 GG wird, wenn es um die ein­heit­li­che An­wen­dung oder Nicht­an­wen­dung von Ge­set­zes­recht geht, durch die dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zu­ge­wie­se­ne Norm­ver­wer­fungs­kom­pe­tenz ge­si­chert. Auf die­ser Li­nie läge es, die Si­cher­stel­lung der Ein­heit­lich­keit der Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs zu­zu­wei­sen, wenn es um den wirk­sa­men Schutz und die Durch­set­zung ge­mein­schaft­li­cher Grund­rech­te geht. Dann ist es aber be­denk­lich, das Ur­teil vom 22.11.2005 ‚Man­gold’ so zu ver­ste­hen, dass den na­tio­na­len Ge­rich­ten die Be­fug­nis er­teilt wer­de, bei der An­nah­me von Primärrecht sich über ent­ge­gen­ste­hen­de na­tio­na­le Re­ge­lun­gen hin­weg­zu­set­zen. In und zwi­schen den ein­zel­nen Mit­glieds­staa­ten wäre mit di­ver­gie­ren­den Ge­richts­ent­schei­dun­gen zu der­sel­ben Norm oder ähn­li­chen Nor­men zu rech­nen. Es könn­te zu ei­ner Ero­si­on der Rechts­si­cher­heit kom­men, wenn Recht­spre­chung da­von ab­hin­ge, ob die je­weils an­ge­ru­fe­nen Ge­rich­te na­tio­na­les Ge­set­zes­recht an­wen­den oder, weil sie es für EG-primärrechts­wid­rig er­ach­ten, über­ge­hen. Die mögli­chen Fol­gen er­we­cken die Be­sorg­nis der Kam­mer und ver­an­las­sen sie zu der Fra­ge, ob der Ge­richts­hof im Ur­teil vom 22.11.2005 (a.a.O., Man­gold, Rz. 75) aus­sch­ließen woll­te, dass die na­tio­na­len Ge­rich­te auf­grund Na­tio­nal­rechts ver­pflich­tet sein könn­ten, vor der An­nah­me, dass ei­ne na­tio­na­le Ge­set­zes­norm we­gen Ver­s­toßes ge­gen Primärrecht der Ge­mein­schaft un­an­wend­bar sei, das Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren nach Art. 234 EG durch­zuführen.

Wenn na­tio­na­le Ge­set­zes­be­stim­mun­gen an den Ge­mein­schafts­grund­rech­ten zu mes­sen sind und mit ih­rer „Un­an­wend­bar­keit“ Grund­rechts­po­si­tio­nen der Nor­mun­ter­wor­fe­nen – hier: im Fal­le der Un­an­wend­bar­keit des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch die Be­las­tung des Ar­beit­ge­bers aus der Ein­hal­tung ei­ner länge­ren Kündi­gungs­frist – be­trof­fen sind, be­darf es der Si­cher­stel­lung des Grund­rechts­schut­zes der Be­trof­fe­nen. Die­ser kann durch die Recht­spre­chung des Eu­ropäischen Ge­richts­hof über­nom­men wer­den, in­dem die Vor­ab­ent­schei­dung nach Art. 234 EGV ef­fek­ti­ven und ge­mein­schafts­wei­ten Rechts­schutz gewährt

 

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und in die Prüfung der na­tio­na­len Ge­set­zes­re­ge­lung den ge­mein­schafts­recht­li­chen Grund­rechts­schutz ein­be­zieht. Die na­tio­na­len Fach­ge­rich­te können – an­ders als bei der Kon­trol­le von in­ner­staat­lich um­ge­setz­ten EG-Richt­li­nen (vgl. BVerfG vom 13.03.2007 WM 2007, 147) – den un­ab­ding­bar ge­bo­te­nen Grund­rechts­schutz in die­ser Form nicht her­stel­len. Auch des­halb ist zu erwägen, ob ein na­tio­na­les Ge­richt, das we­gen Primärrechts­wid­rig­keit ent­ge­gen­ste­hen­des na­tio­na­les Ge­set­zes­recht nicht an­wen­den will, der ent­spre­chen­den Ausübung sei­ner Ju­ris­dik­ti­ons­ge­walt zu­min­dest das Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­ren nach Art. 234 EGV vor­an­zu­schal­ten hat.

In­wie­weit der Vor­ab­ent­schei­dung durch den Eu­ropäischen Ge­richts­hof als ers­ter Schran­ke für den Un­an­wend­bar­keits­aus­spruch ei­ne na­tio­na­le ver­fas­sungs-ge­richt­li­che Kon­trol­le als zwei­te Schran­ke nach­fol­gen kann, braucht an die­ser Stel­le nicht ver­tieft zu wer­den.

2. Sch­ließlich wirft die in der Ent­schei­dung des Ge­richts­hofs vom 22.11.2005 (a.a.O. Man­gold) pos­tu­lier­te Un­an­wend­bar­keits­fol­ge die Fra­ge nach dem Ver­trau­ens­schutz der Nor­mun­ter­wor­fe­nen auf An­wen­dung der gel­ten­den Ge­set­ze auf.

a) Geht es um die Gel­tung eu­ropäischen Primärrechts mit der Kon­se­quenz der Un­an­wend­bar­keit ent­ge­gen­ste­hen­den na­tio­na­len Rechts und al­so um die “ho­ri­zon­ta­le un­mit­tel­ba­re Wir­kung” von Primärrecht, spricht nach Dafürhal­ten der Kam­mer viel dafür, dem Eu­ropäischen Ge­richts­hof die Ent­schei­dung über die Reich­wei­te des ge­mein­schafts­recht­li­chen Ver­trau­ens­schut­zes an­zu­tra­gen (vgl. Ko­kott, a.a.O., S. 37, Kreft, RdA 2006, Son­der­bei­la­ge Heft 6, S. 38, 43).

b) Die Gewährung von Ver­trau­ens­schutz ist nicht oh­ne wei­te­res nach den Maßstäben, die zur richt­li­ni­en­kon­for­men Aus­le­gung aus­le­gungsfähi­ger Re­ge­lun­gen ent­wi­ckelt wor­den sind, zu be­ur­tei­len. Denn hier lie­gen aus­le­gungsfä-

 

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hi­ge na­tio­na­le Re­ge­lun­gen und ge­schrie­be­nes, präzi­sie­ren­des Ge­mein­schafts-recht vor, so dass die Nor­mun­ter­wor­fe­nen über verläss­li­che Er­kennt­nismöglich­kei­ten verfügen. Dem­ge­genüber geht es bei der aus Primärrecht ab­ge­lei­te­ten Un­an­wend­bar­keit um un­ge­schrie­be­nes bzw. in all­ge­mei­nen Grundsätzen be­ste­hen­des Ge­mein­schafts­recht und ent­ge­gen­ste­hen­de, nicht aus­leg­ba­re na­tio­na­le Re­ge­lun­gen. Da­mit sind von vorn­her­ein die Möglich­kei­ten her­ab­ge­setzt, die ge­mein­schafts­recht­lich be­gründe­te Un­an­wend­bar­keit der na­tio­na­len Re­ge­lung zu er­ken­nen und sich auf Rechts­fol­gen ein­zu­rich­ten. Ob den durch­schnitt­lich Be­tei­lig­ten des Ar­beits­le­bens nach ih­ren Er­kennt­nis- und Verständ­nismöglich­kei­ten ab­ver­langt wer­den kann, das ak­tu­el­le ar­beits­recht­li­che Schrift­tum zu sich­ten und die Beiträge nach ih­rer Pru­denz und auch nach der Maßgeb­lich­keit der Au­to­ren zu be­wer­ten, geht der Kam­mer et­was weit (vgl. ei­ner­seits BAG, Ur­teil vom 26.04.2006, a.a.O., an­de­rer­seits BAG, Ur­teil vom 01.02.2007, 2 AZR 15/06, n.v.).

D. Zu den Vor­la­ge­fra­gen

Die Fra­gen erklären sich aus den vor­nehm­lich in der Man­gold-Ent­schei­dung (a.a.O.) so­wie der Pa­la­ci­os-Ent­schei­dung (a.a.O.) des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs her­aus­ge­stell­ten Grundsätzen und Prüfungs­maßstäben.

I. Vor­la­ge­fra­ge zu 1 a

Die Kam­mer nimmt auf­grund der Recht­spre­chung des Ge­richts­hofs an, dass die in­kri­mi­nier­te Re­ge­lung an dem EG-primärrecht­li­chen Ver­bot der Al­ters­dis­kri­mi­nie­rung nach­zu­prüfen ist. Al­ler­dings wird im Schrift­tum dar­auf auf­merk­sam ge­macht, dass der Eu­ropäische Ge­richts­hof ein ka­te­go­ri­sches Ver­bot der ho­ri­zon­ta­len Di­rekt­wir­kung von Richt­li­ni­en nie ex­pli­zit aus­ge­spro­chen ha­be (Ko­kott, a.a.O., 35, St­reinz/Hoff­mann, RdA 2007, 165 [167 f.]). Die For­mu­lie­rung der Vor­la­ge­fra­ge zu 1 a) soll dem Rech­nung tra­gen. Der Klar­stel­lung, wie

 

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sich das primärrecht­li­che Al­ters­dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bot zu den po­li­ti­schen Ge­stal­tungs­spielräum­en des na­tio­na­len Ge­setz­ge­bers und sei­ner Einschätzungs­präro­ga­ti­ve verhält, wird gleich­zei­tig die für die na­tio­na­len Ge­rich­te zu be­ach­ten­de Ab­gren­zung zu dem in der EGRL 2000/78 präzi­sier­ten Prüfungs­ras­ter zu ent­neh­men sein.

II. Vor­la­ge­fra­ge zu 1 b

Die Fra­ge fo­kus­siert das Spek­trum der (primärrecht­lich) zulässi­gen Gründe, aus de­nen ei­ne Un­gleich­be­hand­lung we­gen Al­ters sach­lich ge­recht­fer­tigt sein kann, auf die ge­genständ­li­che Kon­stel­la­ti­on, die da­durch ge­kenn­zeich­net ist, dass der Norm­zweck we­ni­ger durch ar­beits­markt- und beschäfti­gungs­po­li­ti­sche und mehr durch so­zi­al­po­li­ti­sche Ziel­vor­stel­lun­gen des Ge­setz­ge­bers ge­prägt ist.

III. Vor­la­ge­fra­ge zu 2

Un­ter der Prämis­se, dass § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB eu­ro­pa­rechts­wid­rig ist, wird um Klärung nach­ge­sucht, wie na­tio­na­le Ge­rich­te, i.c. deut­sche Ge­rich­te, die „Un­an­wend­bar­keits­fol­ge“ hand­ha­ben sol­len, wenn sie ei­ner­seits nach na­tio­na­lem Ver­fas­sungs­recht gel­ten­de Ge­set­ze an­wen­den müssen und an­de­rer­seits ei­ne (nicht aus­leg­ba­re) Ge­set­zes­be­stim­mung im Wi­der­spruch zu primärrecht­li­chen Grundsätzen der Ge­mein­schaft steht, ins­bes. ob die Ge­rich­te aus Gründen des Na­tio­nal­rechts ge­hal­ten sein können, die Un­an­wend­bar­keit der Ge­set­zes­be­stim­mung erst nach ei­ner Vor­ab­ent­schei­dung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs zu ju­di­zie­ren.
Die Kam­mer ver­bin­det hier­mit die Fra­ge nach dem Ver­trau­ens­schutz, so­lan­ge es an ei­ner Ent­schei­dung des Eu­ropäischen Ge­richts­hofs über die in­kri­mi­nier­te oder ei­ne im we­sent­li­chen ähn­li­che Re­ge­lung fehlt.

 

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