HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

Hes­si­sches LAG, Ur­teil vom 10.01.2012, 12 Sa 673/11

   
Schlagworte: Kündigungsschutzklage, Kündigungsschutzklage: Klagefrist
   
Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 12 Sa 673/11
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 10.01.2012
   
Leitsätze:

1. Wenn dem klagenden Arbeitnehmer gleichzeitig, in separaten Briefumschlägen, eine a. o. fristlose Kündigung und eine a. o. Kündigung mit sozialer Auslauffrist zugehen, von denen der Kläger nur das Kündigungsschreiben mit der a. o. K. mit sozialer Auslauffrist seinem Rechtsanwalt zur Einreichung einer Kündigungsschutzklage übergibt, kann er seinen Antrag auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage (§ 5 Abs. 1 KSchG) gegen die a. o. fristlose Kündigung nicht mit Erfolg darauf stützen, er habe seinem Anwalt nur eines der Schreiben übergeben, weil er - wenn auch fehlerhaft - davon ausgegangen sei, beide Schreiben seien inhaltlich gleich. Es hätte vom Kläger im Rahmen der ihm zuzumutenden Sorgfalt erwartet werden können, dass er dem Rechtsanwalt zur vollständigen Information - ohne eigene rechtliche Wertungen zu treffen - beide ihm zugegangenen Schreiben übergibt.

2. Der Kläger konnte jedoch gemäß § 6 KSchG analog die Kündigungsschutzklage gegen die a. o. fristlose Kündigung ohne den Eintritt der Wirkung des § 7 KSchG auch noch Ablauf der Klagefrist einreichen, weil er innerhalb der Klagefrist - mit einer weiteren Kündigungsschutzklage - die Wirksamkeit der a. o. Kündigung mit sozialer Auslauffrist angegriffen hat und das Verfahren noch in erster Instanz andauert. Da das Arbeitsgericht weder in jenem noch in diesem Kündigungsschutzverfahren einen Hinweis auf § 6 KSchG gegeben hat, eine Zurückverweisung an die erste Instanz in diesem Verfahren dem Kläger nicht die Möglichkeit der Nachholung des Klageantrags in dem anderen verfahren eröffnen würde, und weil die fristlose Kündigung offensichtlich unwirksam ist, erscheint es in analoger Anwendung des § 6 KSchG aus Gründen der Prozessökonomie als vertretbar, dem Kläger die Klagemöglichkeit in der verlängerten Klagefrist im vorliegenden Verfahren zu eröffnen.

Vorinstanzen: Arbeitsgericht Marburg, Urteil vom 14.04.2011, 1 Ca 39/11
   

Hes­si­sches Lan­des­ar­beits­ge­richt

 

Verkündet am:

10. Ja­nu­ar 2012

Ak­ten­zei­chen: 12 Sa 673/11
(Ar­beits­ge­richt Mar­burg: 1 Ca 39/11)

gez.
An­ge­stell­te

 

Im Na­men des Vol­kes

Ur­teil

In dem Be­ru­fungs­ver­fah­ren

Be­klag­te und
Be­ru­fungskläge­rin

Pro­zess­be­vollmäch­tigt.:

ge­gen

Kläger und
Be­ru­fungs­be­klag­ter

Pro­zess­be­vollmäch­tigt.:

hat das Hes­si­sche Lan­des­ar­beits­ge­richt, Kam­mer 12,
auf die münd­li­che Ver­hand­lung vom 13. De­zem­ber 2011

durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Lan­des­ar­beits­ge­richt als Vor­sit­zen­den
und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter
und den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter

für Recht er­kannt:

Die Be­ru­fung ge­gen das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Mar­burg vom 14. April 2011 – 1 Ca 39/11 – wird kos­ten­pflich­tig zurück­ge­wie­sen.

Die Re­vi­si­on wird zu­ge­las­sen.

 

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TAT­BESTAND

Die Par­tei­en strei­ten um die Wirk­sam­keit ei­ner von der Be­klag­ten aus­ge­spro­che­nen außer­or­dent­li­chen Kündi­gung, ins­be­son­de­re um die nachträgli­che Zu­las­sung der Kündi­gungs­schutz­kla­ge.

Der am A ge­bo­re­ne Kläger ist auf der Grund­la­ge des Ar­beits­ver­tra­ges vom 2.01.1989 (Bl. 5-6 d.A.) seit dem 1.01.1989 bei der Be­klag­ten bzw. ih­rer Rechts­vorgänge­rin als Kran­ken­pfle­ger beschäftigt. Auf das Ar­beits­verhält­nis fin­det der TVöD An­wen­dung. Der Kläger ist seit dem 29.03.2007 un­un­ter­bro­chen ar­beits­unfähig er­krankt.

Am 9.12.2010 fand der Kläger in sei­nem Haus­brief­kas­ten zwei se­pa­ra­te Brief­sen­dun­gen der Be­klag­ten vor. Je­der der bei­den Brief­um­schläge ent­hielt je­weils ein auf den 5.07.2010 da­tier­tes und im Be­treff mit „außer­or­dent­li­che Kündi­gung aus wich­ti­gem Grund“ be­zeich­ne­tes Schrei­ben. Die an­sons­ten in­halt­lich und ge­stal­te­risch glei­chen Schrei­ben un­ter­schie­den sich le­dig­lich im ers­ten Satz da­durch, dass ein­mal aus­geführt war, dass „aus wich­ti­gem Grund mit so­for­ti­ger Wir­kung“ und ein­mal, dass „aus wich­ti­gem Grund un­ter Ein­hal­tung ei­ner so­zia­len Aus­lauf­frist von sechs Mo­na­ten zum 30.06.2011“ gekündigt wer­de.

Der Kläger ging da­von aus, bei­de Schrei­ben sei­en in­halt­lich gleich sei­en bzw. sich le­dig­lich da­durch un­ter­schie­den, dass das ei­ne den Be­en­di­gungs­zeit­punkt kon­kre­ti­sie­re. Da er nicht er­kann­te, dass es sich um zwei ver­schie­de­ne Kündi­gun­gen han­del­te, überg­ab er le­dig­lich ei­nes der Schrei­ben, nämlich das mit der Kündi­gung „mit so­zia­ler Aus­lauf­frist zum, 30.06.2010“, sei­nem Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten mit dem Auf­trag, Kündi­gungs­schutz­kla­ge zu er­he­ben. Die­ser reich­te in­ner­halb von drei Wo­chen nach Zu­gang der Kündi­gung Kündi­gungs­schutz­kla­ge beim Ar­beits­ge­richt Mar­burg (Az. 1 Ca 355/10) ein. Im dor­ti­gen Güte­ter­min am 24.01.2011 erklärte die Be­klag­te, dass

 

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sie da­von aus­ge­he, dass das Ar­beits­verhält­nis be­reits auf­grund der eben­falls aus­ge­spro­che­nen frist­lo­sen Kündi­gung, die nicht mit der Kla­ge an­ge­grif­fen wor­den sei, ge­en­det ha­be. Das Ar­beits­ge­richt Mar­burg setz­te nach dem dor­ti­gen Güte­ter­min den Rechts­streit aus.

Am 31.01.2011 hat der Kläger die vor­lie­gen­de, nun­mehr aus­drück­lich ge­gen die außer­or­dent­li­che Kündi­gung mit so­for­ti­ger Wir­kung ge­rich­te­te Kündi­gungs­schutz­kla­ge beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­reicht und gleich­zei­tig die nachträgli­che Zu­las­sung der Kla­ge be­an­tragt.

Bei­den Kündi­gun­gen liegt der­sel­be Sach­ver­halt, die seit dem 27.03.2007 durch­ge­hend be­ste­hen­de Ar­beits­unfähig­keit des Klägers, zu­grun­de. Der Kläger teil­te in Te­le­fo­na­ten mit dem Per­so­nal­lei­ter der Be­klag­ten am 7.06.2010 und am 29.06.2010 mit, dass die Ar­beits­unfähig­keit auf nicht ab­seh­ba­re Zeit fort­be­ste­he. Die Teil­nah­me an ei­nem be­trieb­li­chen Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment nach § 84 SGB IX lehn­te er ab. Die be­triebsärzt­li­che Un­ter­su­chung vom 8.09.2010 bestätig­te die Be­den­ken des Be­triebs­arz­tes ge­gen ei­ne künf­ti­ge Beschäfti­gung des Klägers als Kran­ken­pfle­ger.

Der Kläger hat be­an­tragt,

die Kündi­gungs­schutz­kla­ge nachträglich zu­zu­las­sen;

fest­zu­stel­len, dass das Ar­beits­verhält­nis nicht durch die außer­or­dent­li­che Kündi­gung der Be­klag­ten vom 5.07.2010, zu­ge­gan­gen am 9.12.2010, auf­gelöst wor­den ist.

Die Be­klag­te hat be­an­tragt,

die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

 

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Das Ar­beits­ge­richt Mar­burg hat mit Ur­teil vom 14.04.2011 die Kündi­gungs­schutz­kla­ge nachträglich zu­ge­las­sen und der Kündi­gungs­schutz­kla­ge statt­ge­ge­ben, da die lang an­dau­ern­de Er­kran­kung des Klägers nicht zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses mit so­for­ti­ger Wir­kung be­rech­ti­ge. Für die Ein­zel­hei­ten der Be­gründung wird auf die Ent­schei­dungs­gründe des ar­beits­ge­richt­li­chen Ur­teils Be­zug ge­nom­men (Bl. 29 - 30 d.A.).


Die Be­klag­te hat ge­gen das ihr am 21.04.2011 zu­ge­stell­te ar­beits­ge­richt­li­che Ur­teil am 6.05.2011 Be­ru­fung beim Hes­si­schen Lan­des­ar­beits­ge­richt ein­ge­legt und sie am 23.05.2011 be­gründet.


Die Be­klag­te ist der An­sicht, der Kläger hätte, da die bei­den Schrei­ben sich schon im ers­ten Ab­satz op­tisch und in­halt­lich un­ter­schie­den, er­ken­nen müssen, dass es sich um zwei ver­schie­de­ne Erklärun­gen han­delt. Außer­dem sei ihm schuld­haft zu­zu­rech­nen, dass er sei­nen Pro­zess­be­vollmäch­tig­ten un­vollständig in­for­miert ha­be. Er hätte ihm bei­de Schrei­ben vor­le­gen müssen.

Die Be­klag­te be­an­tragt,

das Ur­teil des Ar­beits­ge­richts Mar­burg vom 14.04.2011, Az.: 1 Ca 39/11aufzuheben, den An­trag auf nachträgli­che Zu­las­sung der Kla­ge zurück­zu­wei­sen und die Kla­ge ab­zu­wei­sen.

Der Kläger be­an­tragt,

die Be­ru­fung zurück­zu­wei­sen.

 

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Der Kläger ver­tei­digt un­ter Ver­tie­fung sei­nes erst­in­stanz­li­chen Vor­trags das ar­beits­ge­richt­li­che Ur­teil. Er be­haup­tet, dass die Be­klag­te – be­wusst oder un­be­wusst – zur Fehl­einschätzung des Klägers bei­ge­tra­gen ha­be, in­dem sie zwei fast wort­glei­che se­pa­ra­te Kündi­gun­gen ge­trennt in zwei Um­schlägen über­sandt ha­be. Es könn­te er­war­tet wer­den, dass meh­re­re gleich­zei­ti­ge Kündi­gun­gen in ei­nem Schrei­ben aus­ge­spro­chen und dass ei­ne frist­lo­se Kündi­gung und ei­ne mit so­zia­ler Aus­lauf­frist ab­ge­stuft, die letz­te­re hilfs­wei­se, aus­ge­spro­chen wer­den. Dann könn­te das hier auf­ge­tre­te­ne Pro­blem leicht ver­mie­den wer­den.

Zur Ergänzung des Be­ru­fungs­vor­brin­gens der Par­tei­en wird auf den vor­ge­tra­ge­nen In­halt der Be­ru­fungs­schriftsätze ver­wie­sen.

ENT­SCHEI­DUN­GSGRÜNDE

I. Die Be­ru­fung der Be­klag­ten ist nach §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 c ArbGG statt­haft. Sie ist auch im Übri­gen zulässig, ins­be­son­de­re ist sie form- und frist­ge­recht ein­ge­legt und recht­zei­tig be­gründet wor­den (§§ 66 Abs.1 ArbGG, 517, 519, 520 Abs.1, 3 ZPO).

II. In der Sa­che selbst bleibt die Be­ru­fung je­doch oh­ne Er­folg, weil sie un­be­gründet ist. Zwar war die ver­spätet, da erst nach Ab­lauf der Frist des § 4 KSchG, ein­ge­reich­te Kündi­gungs­schutz­kla­ge nicht gemäß § 5 Abs. 1 KSchG nachträglich zu­zu­las­sen. Das ist je­doch hier unschädlich und führt nicht zur Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses gemäß §§ 13 Abs, 2, 7 KSchG, weil der Kläger in ana­lo­ger An­wen­dung des § 6 KSchG für die Kla­ge­ein­rei­chung hier nicht an die Frist des § 4 KSchG

 

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ge­bun­den war. Die frist­lo­se Kündi­gung selbst ist man­gels ei­nes wich­ti­gen Grun­des iSd. § 626 Abs. 1 BGB un­wirk­sam.

Gemäß § 7 KSchG gilt die Kündi­gung als von An­fang an wirk­sam, wenn nicht recht­zei­tig gemäß §§ 4, 5 KSchG die Rechts­un­wirk­sam­keit ei­ner Kündi­gung gel­tend ge­macht wird. Gemäß § 4 KSchG hat dies durch Er­he­ben ei­ner Kündi­gungs­schutz­kla­ge in­ner­halb von 3 Wo­chen nach Zu­gang der Kündi­gung beim Ar­beits­ge­richt zu ge­sche­hen. Wird die Kla­ge­frist versäumt, kann das Versäum­nis ge­heilt wer­den, wenn der Ar­beit­neh­mer trotz al­ler ihm nach La­ge der Din­ge zu­zu­mu­ten­den Sorg­falt ver­hin­dert war, recht­zei­tig Kla­ge zu er­he­ben oder wenn er nach § 6 KSchG, auch in ana­lo­ger An­wen­dung, die Kla­ge in­ner­halb ei­ner verlänger­ten Frist ein­rei­chen durf­te.

1. Der Kläger hat die Kündi­gungs­schutz­kla­ge ver­spätet, erst nach Ab­lauf der 3-Wo­chen-Frist des § 4 KSchG, beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­reicht. Dem Kläger ist die Kündi­gung vom 5.07.2010 un­strei­tig am 9.12.2010 durch Ein­wurf in den Haus­brief­kas­ten zu­ge­gan­gen. Die Kla­ge ist erst am 31.01.2011, mit­hin mehr als sie­ben Wo­chen nach Zu­gang der Kündi­gung, beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­reicht wor­den.

Die Kündi­gungs­schutz­kla­ge ge­gen die frist­lo­se Kündi­gung vom 5.07.2010 konn­te nicht gemäß § 5 Abs. 1 KSchG nachträglich zu­ge­las­sen wer­den; denn der Kläger wäre un­ter An­wen­dung der ihm nach La­ge der Umstände zu­zu­mu­ten­den Sorg­falt in der La­ge ge­we­sen, die Kla­ge in­ner­halb von drei Wo­chen nach dem 9.12.2010 ein­zu­rei­chen. Grundsätz­lich kann ei­nem Ar­beit­neh­mer bei der Ver­fol­gung ei­ner so wich­ti­gen An­ge­le­gen­heit, ob sein Ar­beits­verhält­nis be­en­det wur­de oder nicht, ei­ne ge­stei­ger­te Sorg­falt ab­ver­langt wer­den. Grundsätz­lich kann er­war­tet wer­den, dass er al­le Vor­keh­run­gen trifft, die in sei­ner La­ge nach Emp­fang der Kündi­gung ge­trof­fen wer­den können (KR-Fried­rich § 5 KSchG Rz. 13).

Die von ihm kon­kret zu er­war­ten­de Sorg­falt hat der Kläger nicht wal­ten las­sen, in­dem er dem von ihm be­auf­trag­ten Rechts­an­walt bei der

 

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Er­tei­lung des Auf­trags zur Er­he­bung ei­ner Kündi­gungs­schutz­kla­ge le­dig­lich ei­nes der bei­den Kündi­gungs­schrei­ben über­ge­ben und für sich selbst wer­tend ent­schie­den hat, es han­de­le sich bei­de Ma­le um die­sel­be Erklärung. Die­se un­vollständi­ge In­for­ma­ti­on sei­nes Rechts­an­walts über den Sach­ver­halt, die zur ver­späte­ten Kla­ge­ein­rei­chung geführt hat, ist ihm schuld­haft zu­zu­rech­nen. Ihm ist zwar zu­zu­ge­ste­hen, dass der Zu­gang von zwei se­pa­ra­ten Schrei­ben, bei­de da­tie­rend vom sel­ben Ta­ge, zu der An­nah­me ver­lei­ten können, man ha­be zwei­mal das­sel­be Schrei­ben er­hal­ten. Nach sei­nem ei­ge­nen Vor­trag ist der Kläger da­von aber nicht ein­mal aus­ge­gan­gen, son­dern hat die ab­wei­chen­den For­mu­lie­run­gen im ers­ten Ab­satz durch­aus zur Kennt­nis ge­nom­men, dann je­doch ei­ne – of­fen­sicht­lich fal­sche – recht­li­che Wer­tung vor­ge­nom­men. An­ge­sichts der Wahr­neh­mung von Un­ter­schie­den hätte es bei An­wen­dung auch der ei­nem Kran­ken­pfle­ger zu­zu­mu­ten­den Sorg­falt viel näher ge­le­gen, ein­fach al­les, was der Ar­beit­ge­ber ihm ge­schickt hat, dem An­walt zu über­ge­ben und die­sen sei­ner Auf­ga­be wal­ten zu las­sen, statt selbst zu ent­schei­den, wel­che recht­li­che Be­deu­tung ei­nem Schrei­ben bei­zu­mes­sen ist bzw. oder nicht. Es hätte auf je­den Fall zu sorgfälti­gem Han­deln des Klägers gehört, sei­nen Rechts­an­walt darüber zu in­for­mie­ren, dass er zeit­gleich ein zwei­tes Schrei­ben er­hal­ten hat. Dafür, war­um er die­se In­for­ma­ti­on gänz­lich un­ter­drückt und nicht we­nigs­tens sei­ne – lai­en­haf­te - Be­wer­tung des Schrei­bens dem Rechts­an­walt mit­ge­teilt hat, lie­fert sein Vor­trag kei­ne Erklärung.

2. Der Kläger konn­te je­doch gemäß § 6 KSchG ana­log die Kündi­gungs­schutz­kla­ge noch nach Ab­lauf der Kla­ge­frist des § 4 KSchG ein­rei­chen, oh­ne dass die Fol­ge des § 7 KSchG ein­trat, weil er die außer­or­dent­li­che Kündi­gung mit so­zia­ler Aus­lauf­frist, die ihm am sel­ben Ta­ge wie die frist­lo­se Kündi­gung zu­ge­gan­gen ist, in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG mit der Kündi­gungs­schutz­kla­ge an­ge­grif­fen hat und das Ver­fah­ren ers­ter In­stanz dort noch an­dau­ert.

Nach h.M. (BAG 23.04.2008 EzA § 4 nF KSchG Nr.84; BAG 13.03.1997 – 2 AZR 512/96 – AP 38 zu § 4 KSchG 1969; KR/Fried­rich § 6 KSchG Rz. 23-24; APS/Hes­se § 6 KSchG Rz. 10-11; Ba­der/Bram-

 

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Krie­bel § 6 Rz. 11, 16) ist nach dem Zweck der Norm, der durch die sprach­li­che Neu­fas­sung zum 1.1. 2004 kei­ne Ände­rung er­fah­ren hat, ei­ne ana­lo­ge An­wen­dung des § 6 KSchG auch nach sei­ner Neu­fas­sung wei­ter­hin möglich.

Der Zweck der ge­setz­li­chen Re­ge­lung des § 6 KSChG ist es, im Zu­sam­men­spiel mit § 4 KSchG frühzei­tig Rechts­klar­heit und –si­cher­heit zu schaf­fen. § 6 KSchG will den – häufig rechts­un­kun­di­gen – Ar­beit­neh­mer vor ei­nem unnöti­gen Ver­lust sei­nes Kündi­gungs­schut­zes aus for­mel­len Gründen schützen. Der Ar­beit­neh­mer ist nach §§ 4, 6 KSchG nur ver­pflich­tet, durch ei­ne recht­zei­ti­ge An­ru­fung des Ar­beits­ge­richts sei­nen Wil­len, sich ge­gen die Wirk­sam­keit ei­ner Kündi­gung weh­ren zu wol­len, genügend klar zum Aus­druck zu brin­gen. Die­ser Wil­le des Ar­beit­neh­mers, ei­ne Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses nicht zu ak­zep­tie­ren und das Ar­beits­verhält­nis auch in Zu­kunft fort­set­zen zu wol­len, kann während der dreiwöchi­gen Kla­ge­frist auch oh­ne aus­drück­li­chen Hin­weis auf ei­ne ganz be­stimm­te Kündi­gungs­erklärung für den Kündi­gen­den hin­rei­chend klar zum Aus­druck kom­men, bei­spiels­wei­se, in­dem der Ar­beit­neh­mer ei­ne Leis­tungs­kla­ge er­ho­ben hat, de­ren An­spruch zwin­gend die Un­wirk­sam­keit der aus­ge­spro­che­nen Kündi­gung vor­aus­setzt, oder wenn er im Rah­men der Kla­ge­frist ei­nen all­ge­mei­nen Fest­stel­lungs­an­trag ge­stellt hat. Das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers an ei­ner schnel­len Klärung der Rechts­la­ge und sein Ver­trau­en in den Be­stand der aus­ge­spro­che­nen Kündi­gung wird hier­durch re­gelmäßig nicht oder nur ge­ringfügig berührt und muss un­ter Berück­sich­ti­gung des Zwecks des § 6 KSchG zurück­tre­ten (BAG 23.04.2008 – 2 AZR 699/06).

Der Er­he­bung ei­ner Leis­tungs­kla­ge oder ei­nes all­ge­mei­nen Fest­stel­lungs­an­trags ist – wie im vor­lie­gen­den Fall ge­sche­hen – die gemäß § 4 KSchG recht­zei­ti­ge Er­he­bung ei­ner Fest­stel­lungs­kla­ge ge­gen ei­ne wei­te­re Kündi­gung, mit der der Fort­be­stand des Ar­beits­verhält­nis­ses über den Zeit­punkt der Be­en­di­gung der nicht in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG an­ge­grif­fe­nen Kündi­gung hin­aus

 

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gel­tend ge­macht wird, gleich­zu­stel­len. Der Kläger hat in ei­nem se­pa­ra­ten Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren, das noch in der ers­ten In­stanz anhängig ist, die ihm eben­falls am 9.12.2010 zu­ge­gan­ge­ne außer­or­dent­li­che Kündi­gung mit so­zia­ler Aus­lauf­frist in­ner­halb der dreiwöchi­gen Kla­ge­frist mit der Kündi­gungs­schutz­kla­ge an­ge­grif­fen. Da­mit hat er dem Ar­beit­ge­ber deut­lich ge­macht, dass er die Be­en­di­gung des Ar­beits­verhält­nis­ses nicht ak­zep­tie­ren und es in der Zu­kunft fort­set­zen will; denn ei­ne Kla­ge ge­gen die außer­or­dent­li­che Kündi­gung mit so­zia­ler Aus­lauf­frist zum 30.06.2010 bei gleich­zei­ti­ger Hin­nah­me der frist­lo­sen Kündi­gung zum 9.12.2009 ent­behrt – für je­den er­sicht­lich - jeg­li­cher vernünf­ti­gen Über­le­gung und ma­te­ri­el­len Aus­sicht auf Er­folg.

Die sons­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen für die verlänger­te An­ru­fungs­frist nach § 6 KSchG lie­gen vor. Der Kläger hat vor dem Ar­beits­ge­richt Mar­burg in­ner­halb der Frist des § 4 KSchG Kla­ge ge­gen die ihm am sel­ben Ta­ge zu­ge­gan­ge­ne, auf den­sel­ben Kündi­gungs­grund gestütz­te außer­or­dent­li­che Kündi­gung mit so­zia­ler Aus­lauf­frist er­ho­ben. Das Ver­fah­ren ist dort noch in ers­ter In­stanz anhängig, nach­dem das Ar­beits­ge­richt es nach Be­kannt­wer­den der hier an­ge­grif­fe­nen ei­genständi­gen frist­lo­sen Kündi­gung nach dem Güte­ter­min aus­ge­setzt hat.

Zwar wäre nach dem Wort­laut des § 6 KSchG der Kündi­gungs­schutz­an­trag in dem­sel­ben Ver­fah­ren ein­zu­brin­gen, das die frist­ge­recht an­ge­grif­fe­ne Kündi­gung zum Ge­gen­stand hat. Da je­doch das Ar­beits­ge­richt in kei­nem der bei­den Ver­fah­ren ei­nen Hin­weis auf § 6 KSchG ge­ge­ben hat, ei­ne Zurück­ver­wei­sung an das Ar­beits­ge­richt in die­sem Ver­fah­ren zu kei­ner Nach­ho­lung des un­ter­blie­be­nen An­trags in dem ers­ten Kündi­gungs­schutz­ver­fah­ren führen könn­te und die Kündi­gung of­fen­sicht­lich un­wirk­sam ist, er­scheint es aus dem Grund­satz der Pro­zessöko­no­mie hier als ver­tret­bar, das Ver­fah­ren we­der an die ers­te In­stanz zurück­zu­ver­wei­sen, noch dem Kläger die Möglich­keit der Kla­ge in der verlänger­ten An­ru­fungs­frist in die­sem zwei­ten Ver­fah­ren zu ver­weh­ren und ihn statt des­sen dar­auf zu

 

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ver­wei­sen, den Kündi­gungs­schutz­an­trag ge­gen die frist­lo­se Kündi­gung vom 9.12.2009 in dem der­zeit in ers­ter In­stanz vor dem Ar­beits­ge­richt Mar­burg anhängi­gen (und ru­hen­den) Ver­fah­ren ein­zu­brin­gen.

3. Die frist­lo­se Kündi­gung vom 9.12.2010 ist man­gels ei­nes wich­ti­gen Grun­des im Sin­ne des § 626 Abs. 1 BGB un­wirk­sam.

Aus­ge­hend da­von, dass krank­heits­be­ding­te Fehl­zei­ten in der Re­gel nur zur or­dent­li­chen Kündi­gung be­rech­ti­gen, kommt die außer­or­dent­li­che Kündi­gung we­gen krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten nur im Aus­nah­me­fall und un­ter Ein­hal­tung ei­ner Aus­lauf­frist in Be­tracht. Die Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts geht da­von aus, dass schon bei ei­ner or­dent­li­chen Kündi­gung we­gen krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten ein stren­ger Maßstab an­zu­le­gen ist. Ei­nen wich­ti­gen Grund zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung gäben krank­heits­be­ding­te Fehl­zei­ten nur in be­son­de­ren Fällen ab. Ein sol­cher sei ge­ge­ben, wenn ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung ta­rif­lich oder ver­trag­lich aus­ge­schlos­sen sei. Dem Ar­beit­neh­mer sei dann re­gelmäßig ei­ne Aus­lauf­frist zu gewähren, die in ih­rer Länge der der sonst ein­schlägi­gen Kündi­gungs­frist ent­spricht. Das folgt dar­aus, dass es ge­genüber ei­nem or­dent­lich künd­ba­ren Ar­beit­neh­mer nor­ma­ler­wei­se zu­mut­bar sei, den Ab­lauf der Kündi­gungs­frist ab­zu­war­ten (BAG 9.9.1992 – 2 AZR 190/92 EzA § 626 BGB Nr. 142).

Nach die­sen Grundsätzen kommt ei­ne auf krank­heits­be­ding­te Fehl­zei­ten gestütz­te außer­or­dent­li­che frist­lo­se Kündi­gung re­gelmäßig nicht in Be­tracht. Umstände, die da­zu führen könn­ten, von die­ser Re­gel ab­zu­wei­chen, hat die Be­klag­te nicht vor­ge­tra­gen.

Die Be­klag­te hat gemäß §§ 46 Abs. 6 ArbGG, 97 ZPO die Kos­ten ih­res er­folg­lo­sen Rechts­mit­tels zu tra­gen.

 

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Die Re­vi­si­on war gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zu­zu­las­sen.

 

 

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