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LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.03.2016, 9 Sa 44/15
Schlagworte: | Tarifvertrag, Tarifvertrag: Anerkennungstarifvertrag | |
Gericht: | Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg | |
Aktenzeichen: | 9 Sa 44/15 | |
Typ: | Urteil | |
Entscheidungsdatum: | 11.03.2016 | |
Leitsätze: | ||
Vorinstanzen: | Arbeitsgericht Karlsruhe, Urteil vom 07.10.2015, 5 Ca 231/15 nachgehend: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22.03.2017, 4 AZR 462/16 |
|
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
- Kammern Freiburg -
Aktenzeichen:
9 Sa 44/15
______________________________
5 Ca 231/15 ArbG Karlsruhe
Verkündet am 11.03.2016
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Im Namen des Volkes
Urteil
In der Rechtssache
- Kläger/Berufungskläger -
Proz.-Bev.: gegen
- Beklagte/Berufungsbeklagte -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Kammern Freiburg - 9. Kammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Tillmanns, den ehrenamtlichen Richter Goller und die ehrenamtliche Richterin Heuer-Klug auf die mündliche Verhandlung vom 11.03.2016
für Recht erkannt:
1. Die Berufung d. Kläg. gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 07.10.2015, Az. 5 Ca 231/15 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird für d. Kläg. zugelassen.
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Tatbestand
Die Parteien streiten um eine dynamische Anwendbarkeit der Tarifverträge der chemischen Industrie.
Die Klagpartei begründete das streitgegenständliche Arbeitsverhältnis am 16. November 1981 mit der Firma F. GmbH, die später in die F. Group GmbH umfirmierte. Über deren Vermögen, sowie die über die Vermögen der mitverbundenen Unternehmen B. GmbH und S. GmbH wurden am 00.00.2009 Insolvenzverfahren eröffnet. Mit notariellem Vertrag vom 11. März 2010 vereinbarte die B. Group AG, die mittlerweile zur Beklagten umfirmiert hat, mit den Insolvenzverwaltern der genannten Insolvenzgesellschaften den Erwerb und die Übernahme der Vermögen der Insolvenzgesellschaften, was mit Wirkung zum 1. August 2010 geschah. Am 2. August 2010 schloss die B. Group AG rückwirkend mit Wirkung zum 1. April 2010 mit der IG BCE einen Anerkennungstarifvertrag (im Folgenden: ATV; ABl. 13 ff. der erstinstanzlichen Akte), dessen wesentliche Bestimmungen lauten:
„Präambel
Über die Vermögen der F. Group GmbH, der B. GmbH sowie der S. GmbH wurde am 00.00.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Die B. Group AG hat durch notariellen Vertrag vom 11. März 2010 mit den Insolvenzverwaltern der Insolvenzgesellschaften den Erwerb und die Übernahme des wesentlichen Vermögens der Insolvenzgesellschaften entweder durch die Firma selbst oder durch eine andere Gesellschaft der B.-Gruppe vereinbart.
...
§ 2 Anerkennung
Es werden im Rahmen dieses Anerkennungstarifvertrages alle Tarifverträge von der Firma anerkannt und angewendet, welche von der IG BCE im Bereich der westdeutschen chemischen Industrie abgeschlossen wurden bzw. werden.
Im Einzelnen umfasst dies folgende Tarifverträge:... Bundesentgelttarifvertrag... . Die anerkannten Tarifverträge gelten in ihrer jeweils aktuellen Fassung.
Die Anerkennung umfasst ausdrücklich auch die Tarifverträge der westdeutschen chemischen Industrie, die erst nach Abschluss dieses Anerkennungstarifvertrages abgeschlossen werden.
§ 3 Sonderregelungen für das Jahr 2010
Für das Jahr 2010 gelten folgende Sonderregelungen:
1. Aus dem Tarifvertrag über Einmalzahlung und Altersvorsorge findet der § 3 (Jahresleistung) im Jahre 2010 keine Anwendung.
2. Aus dem Tarifvertrag über Einmalzahlung und Altersvorsorge findet der § 10 (zusätzliches Urlaubsgeld) im Jahre 2010 keine Anwendung.
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3. Für den Zeitraum ab dem 1. April 2010 bis zum 31. Dezember 2010 werden die bezirklichen Tarifentgeltsätze um 5 % abgesenkt.
4. Die im Rahmen des Tarifabschlusses vom 21.04.2010 für den Bereich der chemischen Industrie zu leistenden Einmalzahlungen finden keine Anwendung.
...
§ 4 Schlussbestimmungen
1. Dieser Anerkennungstarifvertrag tritt (rückwirkend) zum 1. April 2010 in Kraft.
2. Dieser Anerkennungstarifvertrag ist kündbar mit einer Frist von sechs Monaten, frühestens zum 31. Dezember 2011.
3. Hält bei ungekündigtem Vertrag eine der tarifschließenden Parteien eine Änderung oder Ergänzung des Anerkennungstarifvertrages oder einzelner seiner Bestimmungen für notwendig, so ist sie berechtigt, bei der Gegenpartei die Aufnahme von Verhandlungen zu beantragen. “
Bereits vor Abschluss dieses ATV übersandten die Insolvenzverwalter der drei Unternehmen der F. Gruppe den Mitarbeitern einen arbeitgeberseits bereits unterzeichneten Vereinbarungsentwurf vom 14. Juli 2010 mit folgendem Anschreiben vom 13. Juli 2010:
"Information an die Mitarbeiter der Unternehmen
...
Letzte offene Bedingung, dass es zum Betriebsübergang kommt ist, dass die Belegschaft der insolventen Unternehmen für das Jahr 2010 (nicht darüber hinaus) einen Verzicht auf 5 % des Bruttogehalts ab dem 1. April 2010 sowie auf das Urlaubs – und Weihnachtsgeld erklärt.
Hierauf haben sich die Insolvenzverwalter der vorgenannten Unternehmen bereits mit der zuständigen Gewerkschaft, der Tarifkommission und den Betriebsräten verständigt. Ein Haustarifvertrag (Anerkenntnistarifvertrag genannt) mit entsprechendem Inhalt ist fixiert und von allen Parteien bestätigt.
Mangels bisheriger Einbeziehung von Haustarifverträgen in die Arbeitsverträge der Mitarbeiter ist es erforderlich, dass jeder Mitarbeiter beigefügte Vereinbarung unterschreibt, in der geregelt wird, dass die Regeln des Haustarifvertrages Bestandteil jedes Arbeitsvertrages werden.
...
Sobald alle unterschrieben haben, wird es umgehend zum Betriebsübergang auf die B. AG kommen und das Ziel, auf das nun eineinhalb Jahre hingearbeitet wurde, ist erreicht. Dadurch sichern Sie sich alle bisher in Ihrem Arbeitsverhältnis vorhandenen Vorteile wie Kündigungsschutz seit Einstellung etc.
Anbei finden Sie den Text des Haustarifvertrages (Anerkennungstarifvertrag genannt) und die Vereinbarung zur Einbeziehung des Haustarifvertrages (Anerkennungstarifvertrag genannt) in Ihr Arbeitsverhältnis.“
Am 14. Juli 2010 trafen der damalige Insolvenzverwalter der F. GmbH und die Klagpartei folgende Vereinbarung (ABl. 36 der erstinstanzlichen Akte):
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„Zwischen Herrn F. als Insolvenzverwalter über das Vermögen der F. Group GmbH und dem unterzeichnenden Mitarbeiter wird hiermit vereinbart, dass der zwischen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Landesbezirk Baden-Württemberg und der B. Group AG und Herrn F. als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin geschlossene Anerkennungstarifvertrag über die Anerkennung der Geltung der von der IG BCE abgeschlossenen Tarifverträge der westdeutschen chemischen Industrie und die für das Jahr 2010 geltenden Sonderregelungen insbesondere Gehaltsverzicht Bestandteil des zwischen der F. Group GmbH und dem unterzeichnenden Mitarbeiter bestehenden Arbeitsverhältnisses ist und die Regelungen dieses Anerkennungstarifvertrages (auch Haustarifvertrag genannt) vollumfänglich auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden.
Als Anlage zu dieser Vereinbarung wurde mit übergeben
- Informationsschreiben zum Anerkennungstarifvertrag der Insolvenzverwalter und der Betriebsratsvorsitzenden
- Text des Anerkennungstarifvertrages (auch Haustarifvertrag genannt).“
Die B. Group AG kündigte den ATV mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 und gab nach diesem Zeitpunkt in der chemischen Industrie vereinbarte Tariferhöhungen nicht mehr an die Klagpartei weiter.
Mit ihrer am 5. Juni 2015 beim Arbeitsgericht Karlsruhe eingereichten Klage hat die Klagpartei beantragt, festzustellen, dass auf das Arbeitsverhältnis die Tarifverträge, die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie im Bereich der westdeutschen chemischen Industrie abgeschlossen wurden bzw. noch würden, in ihrer jeweils aktuellen Fassung Anwendung fänden und die Beklagte zu verurteilen, Vergütungsdifferenzen für die Zeit von August 2012 bis einschließlich August 2015 nachzuentrichten. Sie hat vorgetragen, aufgrund der vereinbarten individualrechtlichen Bezugnahme auf den ATV gelte die dynamische Verweisung auf die Tarifverträge der chemischen Industrie auch noch nach Kündigung des ATV weiter fort.
Die Beklagte hat vor dem Arbeitsgericht Klagabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, es liege keine dynamische Verweisung auf die jeweils geltenden Tarifverträge vor, vielmehr sei die Verweisung aufgrund der Kündigung des ATV zu einer statischen geworden.
Mit Urteil vom 7. Oktober 2015 – 5 Ca 231/15 – hat das Arbeitsgericht Karlsruhe die Klage in vollem Umfang als unbegründet abgewiesen und ausgeführt, aufgrund der Kündigung des ATV zum Ablauf des 31. Dezember 2011 bestehe keine beidseitige Tarifgebundenheit. Ein Anspruch ergebe sich nicht aus § 2 Abs. 5 ATV iVm. § 4 Abs. 5 TVG und auch nicht aus betrieblicher Übung. Zudem ergebe sich die Anwendbarkeit der Tarifverträge der chemischen Industrie nicht aufgrund der individualrechtlichen Vereinbarung der Parteien in Verbindung mit dem ATV. Bei der Vereinbarung vom 14. Juli 2010 handele es sich um eine statische Verweisungsklausel auf den ATV. Der Wortlaut der Vereinbarung sei eindeutig. Die Klagpartei habe mit dem Insolvenz-
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verwalter vereinbart, dass die Regelungen des ATV vollumfänglich auf das Arbeitsverhältnis Anwendung fänden. Dazu sei der Text des ATV der Vereinbarung beigefügt worden. Diese Vereinbarung habe ausschließlich statische Wirkung, ohne dass damit bereits eine Dynamik vereinbart sei. Sie habe lediglich sicherstellen sollen, dass die Regelungen des Haustarifvertrages auf sämtliche Arbeitsverhältnisse Anwendung fänden. Damit seien der ATV und dessen dynamische Verweisung auf die Tarifverträge der chemischen Industrie als inkorporierter Teil des Verweisungstarifvertrages Bestandteil des Arbeitsverhältnisses geworden. Der verweisende Tarifvertrag und der in Bezug genommene Tarifvertrag bildeten eine Einheit. Jede Änderung, Ergänzung oder Ersetzung des Verweisungsobjektes sei gleichzeitig eine des Verweisungssubjekts. Die Kündigung des ATV beende damit zugleich die dynamische Fortgeltung der Tarifverträge der chemischen Industrie.
Gegen dieses, der Klagpartei am 5. November 2015 zugestellte Urteil wendet sich diese mit ihrer am 24. November 2015 beim Landesarbeitsgericht eingereichten und sogleich ausgeführten Berufung.
Die Klagpartei trägt vor, das Urteil sei fehlerhaft ergangen. Sie habe ihre Klage weder auf eine normative Tarifgeltung noch auf betriebliche Übung gestützt. Die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass mit der Vereinbarung vom 14. Juli 2010 der ATV und damit aufgrund dessen dynamischer Verweisung auch die Tarifverträge der chemischen Industrie als inkorporierter Teil des Verweisungstarifvertrages Bestandteil des Arbeitsverhältnisses geworden seien, weil der verweisende ATV und das in Bezug genommene Tarifwerk eine Einheit bildeten, sei falsch. Es sei völlig einerlei, ob ein Arbeitsvertrag direkt dynamisch auf ein Tarifwerk verweise oder im Wege einer mehrstufigen Verweisungstechnik. Bei einer zweistufigen Verweisungstechnik sei für die Auslegung der arbeitsvertraglichen Verweisungsklausel ohne Bedeutung, ob das Regelwerk, auf das verwiesen werde, gekündigt oder beendet sei. Entscheidend sei allein, welchen Rechtscharakter die im Regelwerk enthaltene Verweisung habe. Die vertragliche Verweisung auf den ATV enthalte ihren materiellen Inhalt erst durch dessen dynamische Verweisung auf die Verbandstarifverträge.
Indem das Arbeitsgericht darauf hinweise, dass das „Verweisungssubjekt“ – also der ATV – nur noch nachgelte, also auf § 5 Abs. 5 TVG verweise, verlasse es die Ebene der Auslegung der einzelvertraglich vereinbarten Klauseln und begründe das Entscheidungsergebnis mit Kategorien der normativen Bindung an Tarifverträge, wobei es die „neue“ Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die bereits mit Urteil vom 14. Dezember 2005 (- 4 AZR 536/04 -) angekündigt worden sei, übergehe. Das Bundesarbeitsgericht habe mit Urteil vom 15. März 2006 (- 4 AZR 132/05) darauf hingewiesen, dass die alte Rechtsprechung zu den Gleichstellungsklauseln
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nur noch für Altverträge gelte, die bis zum 31. Dezember 2001 abgeschlossen worden seien. Nach der neueren Rechtsprechung sei eine einzelvertraglich vereinbarte dynamische Bezugnahme auf einen bestimmten Tarifvertrag jedenfalls dann, wenn eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers an den im Arbeitsvertrag genannten Tarifvertrag nicht für den Arbeitnehmer erkennbar zur auflösenden Bedingung der Vereinbarung gemacht worden sei, eine konstitutive Verweisungsklausel, die durch den Verbandsaustritt nicht berührt werde, mithin eine unbedingte zeitdynamische Verweisung.
Dass der Wegfall der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers in der Klausel vom 14. Juli 2010 für die Arbeitnehmer in erkennbarer Weise zur auflösenden Bedingung der Vereinbarung gemacht worden sei, ergebe sich nicht.
Wenn das Arbeitsgericht aus § 4 Nr. 2 ATV schließe, dass bereits bei Abschluss des Tarifvertrages bei der Beklagten ein „nur vorübergehender Tarifbindungswille erkennbar“ gewesen sei und es dieser darum gegangen sei, die Sonderregelungen des vorübergehenden Gehaltsverzichts durchzusetzen, möge das das Motiv gewesen sein. Dass aber Tarifverträge kündbar seien, sei seit jeher anerkannt. Die Kündbarkeit lasse bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme genauso wenig wie ein möglicher Verbandsaustritt die vereinbarte Tarifdynamik entfallen.
Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus den sonstigen Umständen um die Vereinbarung vom 14. Juli 2010. Im Informationsschreiben an die Mitarbeiter vom 13. Juli 2010 werde als Grund für die Notwendigkeit der Unterzeichnung der Vereinbarung darauf hingewiesen, dass die Arbeitsverträge nur auf die Flächentarife verwiesen, Haustarifverträge aber nicht erfasst seien. Es gehe also nicht vorrangig um die Gleichstellung von Gewerkschafts- und Nichtgewerkschaftsmitgliedern, sondern um die Durchsetzung eines einheitlichen Arbeitsvertragsregimes im ganzen Betrieb, mit dem vertraglich der ATV habe durchgesetzt werden sollen. Zu einer Vereinheitlichung der Bezugnahmeklauseln habe auch Anlass bestanden. Das spreche gegen die Auslegung des Vertrages vom 14. Juli 2010 als Gleichstellungsklausel.
Die mit der Vereinbarung vom 14. Juli 2010 einzelvertraglich wirksam vereinbarte dynamische Verweisung habe nicht durch die Kündigung des ATV beseitigt werden können. Diese habe lediglich die normative Bindung der Beklagten entfallen lassen. Im Ergebnis habe das Arbeitsgericht lediglich an der früheren Rechtsprechung zur Gleichstellungsabrede festgehalten, ohne dies auszusprechen. Es sei der Beklagten möglich gewesen, eine Vertragsklausel zu formulieren, mit der sie habe einzelvertraglich sicherstellen können, dass die vereinbarte Tarifdynamik mit Kündigung des ATV auch ende.
Klagerweiternd mache sie noch die Vergütungsdifferenzen bis einschließlich Januar 2016 geltend.
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Die Klagpartei beantragt:
Das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 7. Oktober 2015 – 5 Ca 231/15 –wird abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien die Tarifverträge, die von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie im Bereich der westdeutschen chemischen Industrie abgeschlossen wurden bzw. noch werden, in ihrer jeweils aktuellen Fassung Anwendung finden.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagpartei Euro 8.094,00 zu bezahlen nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten aus
€ 109,00 seit 01.09.2012
€ 109,00 seit 01.10.2012
€ 109,00 seit 01.11.2012
€ 212,55 seit 01.12.2012
€ 109,00 seit 01.01.2013
€ 109,00 seit 01.02.2013
€ 109,00 seit 01.03.2013
€ 109,00 seit 01.04.2013
€ 109,00 seit 01.05.2013
€ 109,00 seit 01.06.2013
€ 109,00 seit 01.07.2013
€ 109,00 seit 01.08.2013
€ 109,00 seit 01.09.2013
€ 109,00 seit 01.10.2013
€ 109,00 seit 01.11.2013
€ 212,55 seit 01.12.2013
€ 109,00 seit 01.01.2014
€ 109,00 seit 01.02.2014
€ 109,00 seit 01.03.2014
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€ 204,00 seit 01.04.2014
€ 204,00 seit 01.05.2014
€ 204,00 seit 01.06.2014
€ 204,00 seit 01.07.2014
€ 204,00 seit 01.08.2014
€ 204,00 seit 01.09.2014
€ 204,00 seit 01.10.2014
€ 204,00 seit 01.11.2014
€ 397,80 seit 01.12.2014
€ 204,00 seit 01.01.2015
€ 204,00 seit 01.02.2015
€ 204,00 seit 01.03.2015
€ 204,00 seit 01.04.2015
€ 204,00 seit 01.05.2015
€ 278,00 seit 01.06.2015
€ 278,00 seit 01.07.2015
€ 278,00 seit 01.08.2015
€ 278,00 seit 01.09.2015
€ 278,00 seit 01.10.2015
€ 278,00 seit 01.11.2015
€ 542,10 seit 01.12.2015
€ 278,00 seit 01.01.2016
€ 278,00 seit 01.02.2016.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die arbeitsgerichtliche Entscheidung und führt aus, die Klagpartei unterscheide
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Tarifvertragsparteien des ATV vereinbart hätten. Sie meine fälschlicherweise, es sei einerlei, ob die dynamische Bezugnahme im Arbeitsvertrag oder im ATV vereinbart worden sei. Folgerichtig stütze sie sich auch auf nicht einschlägige Urteile. So griffen die zitierten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts nicht im vorliegenden Fall, weil die Vereinbarung vom 14. Juli 2010 gerade keine dynamische Bezugnahmeklausel, sondern eine statische enthalte. Der Wortlaut sei eindeutig. Die Bezugnahme werde ausdrücklich eingeschränkt auf den ganz konkreten Tarifvertrag mit ausdrücklich genannten Tarifvertragsparteien und auf einen konkret benannten Tarifinhalt. Konkreter und eindeutiger „statisch“ könne eine Bezugnahme nicht formuliert sein. Deshalb sei auch die zitierte Rechtsprechungsänderung irrelevant. Denn diese beziehe sich nur auf dynamische Bezugnahmeklauseln. Wegen des eindeutigen Wortlauts der Vereinbarung seien weitere Auslegungsfaktoren nicht hinzuzuziehen.
Zum weiteren Vorbringen der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und eingereichten Unterlagen verwiesen.
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Entscheidungsgründe
A.
Die Berufung der Klagpartei ist statthaft und zulässig. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 64 Abs. 2 b), 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO.
B.
Die Berufung ist aber unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat das Arbeitsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Parteien haben in ihrer Vereinbarung vom 14. Juli 2010 im Rahmen einer zweistufigen Verweisung lediglich vereinbart, dass der ATV nur im Rahmen seiner eigenen – kollektivrechtlichen Geltung – die Tarifverträge der chemischen Industrie in das Arbeitsverhältnis der Parteien transportiert.
I.
An der Zulässigkeit der Feststellungs- und Zahlungsklage bestehen keine Bedenken. Die Klagerweiterung hinsichtlich der bis zum Kammertermin erster Instanz errechneten Differenzvergütungsansprüche ist gemäß §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 533, 529 Abs. 1 ZPO sachdienlich und zulässig.
II.
1. Die Feststellungsklage ist unbegründet. Nachdem weder eine beidseitige Tarifgebundenheit vorliegt, noch Grundsätze der betrieblichen Übung greifen, können die Tarifverträge der chemischen Industrie allenfalls dann für das Arbeitsverhältnis dynamisch gelten, wenn sich dies aus der Vereinbarung der Parteien vom 14. Juli 2010 in Verbindung mit dem ATV und dessen Verweisung auf die streitgegenständlichen Tarifverträge ergibt. Diese Vereinbarung vom 14. Juli 2010 enthält jedoch eine eindeutige, keinen Zweifeln unterliegende, statische Verweisung auf den konkreten ATV vom 2. August 2010, der im fertigen Entwurf der individualrechtlichen Vereinbarung auch als Anlage beigefügt war. Folglich konnte allein dieser, statisch zwischen den Parteien vereinbarte ATV die Tarifverträge der chemischen Industrie in das Arbeitsverhältnis transportieren. Wenn aber individualarbeitsrechtlich nur ein konkret vereinbarter Anerkennungstarifvertrag tarifvertragliche Regelungen einer Branche
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dynamisch in das konkrete Einzelarbeitsverhältnis transportieren kann, kann dies nur während dessen Laufzeit der Fall sein. Deshalb kann es, entgegen der Auffassung der Klagpartei, nicht einerlei sein, ob ein Arbeitsvertrag direkt oder im Wege einer mehrstufigen Verweisungstechnik auf ein Tarifwerk verweist.
a) Die individualvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag ist anerkannt und – unabhängig von einer kollektivrechtlichen Geltung – stets konstitutiv (ErfK/Franzen, 16. Aufl. 2016, § 3 TVG Rn. 33; Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, II V Rz. 7). Durch sie wird der Tarifvertrag, auf den Bezug genommen wird, zum Inhalt des Arbeitsvertrages (allgem. Auffassung, z.B. BAG 7. Dezember 1977 – 4 AZR 474/76 -; ErfK/Franzen aaO. Rn. 32). Eine solche individualrechtliche Bezugnahme kann statisch sein oder dynamisch, es kann sich um eine Globalverweisung oder Teilverweisung handeln. Im Übrigen kann der Tarifvertrag, der einzelvertraglich in Bezug genommen wurde, seinerseits weiter – statisch oder dynamisch – auf einen anderen Tarifvertrag oder sogar auf mehrere Tarifverträge verweisen (Doppel- oder Mehrfachverweisung; vgl. BAG 18. November 2009 – 4 AZR 493/08 – Rn. 26, 21. November 2012 - 4 AZR 85/11 – Rn. 36 ).
Zur Beantwortung der Frage, was nach Beendigung des bezugnehmenden Tarifvertrages gilt und in welchem Umfang eine AGB-Kontrolle stattzufinden hat, ist zwischen der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel und der tarifvertraglichen Verweisungsklausel zu differenzieren. Es ist von der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel auszugehen und diese, soweit es sich wie hier unstreitig um eine allgemeine Geschäftsbedingung handelt, einer AGB-Kontrolle zu unterziehen. Zweifel bei der Auslegung gehen nach § 305c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders. Es ist eine Transparenzkontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB vorzunehmen. Im Übrigen findet bei der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel eine Inhaltskontrolle nicht statt, weil diese nach § 307 Abs. 3 BGB nur für Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen in Betracht kommt, die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen enthält, was vorliegend nicht der Fall ist, weil Tarifverträge, und damit auch Anerkennungstarifverträge, nach § 310 Abs. 4 Satz 3 BGB Rechtsvorschriften im Sinne von § 307 Abs. 3 BGB gleichstehen (BT-Dr 14/6857, S. 54; Thüsing, NZA 2002, 1361, 1362). Der Inhalt des Anerkennungstarifvertrages selbst unterliegt dagegen, genauso wie die Inhalte der von diesem in Bezug genommenen Tarifverträge gem. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB keiner AGB-Kontrolle.
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b) In Anwendung der dargestellten Grundsätze ist die individualvertragliche Bezugnahmeklausel in der Vereinbarung der Parteien vom 14. Juli 2010 als statische Verweisung auf den am 2. August 2010 zwischen der B. Group AG, den Insolvenzverwaltern und der IG BCE abgeschlossenen ATV auszulegen.
aa) Der Wortlaut der Bezugnahmeklausel spricht deutlich für eine statische Verweisung. Zwar wird das Datum des ATV nicht genannt, was allerdings zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht möglich war, da dieser erst später, nämlich am 2. August 2010 unterzeichnet wurde. Allerdings ist der konkrete Text des späteren (unveränderten) ATV der Vereinbarung beigefügt, weshalb diesbezüglich, anders als im Fall, den das Bundesarbeitsgericht am 2. März 1988 zu entscheiden hatte (BAG 2.3.1988 – 4 AZR 595/87 –; hierzu: Preis/Preis, Der Arbeitsvertrag, 4. Aufl. 2011, II V 30) kein Transparenzproblem vorliegen kann. In der Bezugnahmeklausel wird ausdrücklich nur auf diesen beigefügten und damit klar bestimmten Tarifvertrag verwiesen. Es wird im Singular davon gesprochen, dass „der... geschlossene Anerkennungstarifvertrag... Bestandteil des... bestehenden Arbeitsverhältnisses ist“. Damit nehmen die Vertragsparteien auf ein einmaliges, explizit genanntes Ereignis – den Abschluss dieses ATV – Bezug, dessen Wortlaut die Parteien kennen und ihrer Vereinbarung zugrunde legen. Dies machen die Parteien in ihrer Vereinbarung auch dadurch besonders deutlich, dass nach dem Wortlaut „die Regelungen dieses Anerkennungstarifvertrages“ im Arbeitsverhältnis voll umgänglich gelten sollen und zwar nur der „zwischen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Landesbezirk Baden-Württemberg und der B. Group AG und Herrn F. als Insolvenzverwalter“ abgeschlossene Anerkennungstarifvertrag. Nach einem Betriebsübergang auf die Beklagte wäre der Insolvenzverwalter aber nicht mehr an nachfolgenden Tarifvertragsabschlüssen beteiligt gewesen.
bb) Auch eine Auslegung der Bezugnahmeklausel nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn führt zur Annahme einer statischen Verweisung. Aus der Sicht von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der regelmäßig beteiligten Verkehrskreise ist die Bezugnahmeklausel unter Berücksichtigung der Auslegung des ATV dahingehend zu verstehen, dass sie im Zusammenspiel mit dem ATV einen Entgeltverzicht der Arbeitnehmer ausgleichen und der Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Loslösung von ihrer mittelba-
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ren tariflichen Bindung ermöglichen sollte. Nach dem Wortlaut und Willen der Tarifvertragsparteien sollten die Arbeitnehmer durch einen Entgeltverzicht im Jahr 2010 einen Sanierungsbeitrag leisten. Im Gegenzug für die in § 3 Nr. 3 ATV vorgesehene Absenkung der bezirklichen Tarifentgeltsätze um 5 % im Zeitraum vom 1. April 2010 bis zum 31. Dezember 2010 verweist § 2 ATV dynamisch auf die Verbandstarifverträge der IG BCE. Aufgrund der Dynamisierungswirkung von § 2 ATV partizipieren die Arbeitnehmer der Rechtsvorgängerin der Beklagten bereits dann von den tariflichen Lohnerhöhungen auf Verbandsebene, wenn der ATV in einem Arbeitsvertrag statisch in Bezug genommen wird.
Für das Vorliegen einer statischen schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel spricht auch, dass die Tarifvertragsparteien in § 4 Nr. 2 ATV eine Kündigungsmöglichkeit frühestens zum 31. Dezember 2011 vorgesehen haben. Eine solche entspricht regelmäßig dem Willen der Tarifvertragsparteien, die Anerkennung auf die während der Laufzeit eines Anerkennungstarifvertrages abgeschlossenen Verbandstarifverträge zu beschränken (vgl. LAG Baden-Württemberg 29. Januar 2014 – 19 Sa 42/13 -). Bei einer unbedingten dynamischen Verweisung liefe eine Kündigung der Arbeitgeberin ins Leere, da über die schuldrechtliche Bezugnahme eine Bindung an später abgeschlossene Verbandstarifverträge bestünde. Hätten die Klägerin und der Insolvenzverwalter eine derartige Bindung für die Ewigkeit zulasten der Rechtsvorgängerin der Beklagten vereinbaren wollen, wäre es zumindest erforderlich gewesen, dies ansatzweise in der schuldrechtlichen Bezugnahmeklausel zum Ausdruck zu bringen. Hinzu kommt, dass der in der Kündigungsmöglichkeit erkennbare, nur vorübergehende Tarifbindungswille der Tarifvertragsparteien mit dem bereits dargestellten Ausgleichszweck des ATV durchaus im Einklang steht. Die Arbeitnehmer partizipieren als Ausgleich für ihren Entgeltverzicht bis zu einer Kündigung des ATV und damit zumindest im Jahr 2011 an Tariflohnerhöhungen auf Verbandsebene.
cc) Da nach dem dargestellten Auslegungsergebnis keine Zweifel an der Statik der individualvertraglichen Bezugnahmeklausel bleiben, ist diesbezüglich für die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB kein Raum. Deshalb kann es auch offenbleiben, ob die Vorschrift vorliegend auch schon deshalb nicht anwendbar ist, weil sich die Frage der Günstigkeit für den Arbeitnehmer nicht eindeutig beantworten lässt (vgl. hierzu BAG 24. September 2008 – 6 AZR 76/97 – Rn. 27).
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dd) Die individualvertragliche Bezugnahmeklausel verletzt auch das Transparenzgebot gemäß § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht. Eine Verweisung auf Vorschriften eines anderen Regelungswerkes führt für sich genommen nicht zur Intransparenz, da die Bezugnahme auf andere Rechtsnormen nicht fremd und deshalb nichts Ungewöhnliches ist. Die statische Bezugnahmeklausel wird auch nicht durch die dynamische Weiterverweisung auf die Verbandstarifverträge im ATV unklar. Vielmehr war durch diese Technik in Verbindung mit dem Informationsschreiben an die Mitarbeiter vom 13. Juli 2010 für die Klagpartei deutlich erkennbar, dass die B. AG bereit war, die insolventen Unternehmen zu übernehmen und, dass damit die Arbeitsplätze erhalten werden, allerdings nur um den Preis eines einheitlichen, anteiligen Anspruchsverzichts der Mitarbeiter für das Kalenderjahr 2010 und um den weiteren Preis, dass die Tarifverträge der chemischen Industrie nicht für alle Ewigkeit dynamisch gelten sollen, sondern die Dynamik an die Laufzeit eines mit der IG BCE ausgehandelten Firmentarifvertrags – des ATV – einheitlich für alle Arbeitnehmer geknüpft ist. Dass den betroffenen, von der DGB-Rechtsschutz GmbH vertretenen Arbeitnehmern dies klar war, zeigen auch die im Kammertermin der Berufungsverhandlung angesprochenen Verfahren vor der 19. Kammer des Landesarbeitsgerichts (19 Sa 42 – 47/13), in denen sich niemand auf eine aufgrund der individualvertraglichen Vereinbarung vom 14. Juli 2010 eingetretene, auch nach Kündigung des ATV und Ablauf der Kündigungsfrist weiter geltende dynamische Geltung der Tarifverträge der chemischen Industrie berufen hat.
ee) Eine ergänzende Vertragsauslegung dahingehend, dass Verbandstarifverträge in ihrer jeweils aktuellen Fassung Anwendung finden, ist nicht möglich. Voraussetzung einer solchen ist, dass die Vereinbarung eine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit aufweist (BAG 6. Juli 2011 – 4 AZR 501/09 –). Die Parteien haben hier vorliegend keinen Punkt übersehen oder bewusst offen gelassen, weil sie den Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht für regelungsbedürftig gehalten haben. Vielmehr lässt die Bezugnahmeklausel im Zusammenspiel mit dem ATV, wie bereits gezeigt, keine Bestimmung vermissen, die erforderlich ist, um das Regelungsziel der Parteien angemessen und interessengerecht zu regeln.
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ff) Entgegen der Auffassung der Klagpartei führt das hier dargestellte Ergebnis, dass sich die Anwendbarkeit der Verbandstarifverträge in ihrer jeweils aktuellen Fassung nicht aus der individualvertraglichen Inbezugnahme in der Vereinbarung vom 14. Juli 2010 ergibt, nicht zu einer Fortsetzung der Rechtsprechung zur sogenannten Gleichstellungsabrede. Im vorliegenden Fall liegt keine schuldrechtlich, dynamische Bezugnahmeklausel vor, die durch einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall der Tarifgebundenheit „eingefroren“ wird. Vielmehr ist eine statische Bezugnahmeklausel gegeben, welche überhaupt erst über eine dynamische Weiterverweisung im dazwischen geschalteten ATV dazu geführt hat, dass die nachfolgenden Änderungen der Verbandstarifverträge für die Rechtsvorgängerin der Beklagten bis zu der Kündigung des ATV bindend war.
gg) Soweit die Klagpartei meint, es hätte ihr gegenüber vor oder bei Abschluss der Vereinbarung vom 14. Juli 2010 klarer gemacht werden müssen, dass die dynamische Geltung der Tarifverträge der chemischen Industrie mit Ablauf des ATV enden werde, verlangt sie eine Belehrung über die Auswirkungen einer Kündigung eines Anerkennungstarifvertrages und Aufklärung über die Unterschiede der verschiedenen Verweisungsmöglichkeiten, also Direkt- und Doppelverweisung. Eine solche Belehrungspflicht ergibt sich jedoch nicht.
hh) Die von der Klagpartei im Kammertermin der Berufungsverhandlung am 11. März 2016 herangezogene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2011 führt zu keinem anderen Ergebnis. In dieser Entscheidung verweist das Bundesarbeitsgericht lediglich darauf, dass die Rechtsprechung zum „Einfrieren“ im vorliegenden Fall nicht einschlägig sei, da im für die Entscheidung relevanten Tarifvertrag selbst festgelegt sei, dass sich die normative Geltung des verweisenden Tarifvertrages und damit auch die in ihm geregelte Dynamik verlängere (BAG 14. Dezember 2011 – 4 AZR 26/10 – Rn. 55). Genau dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.
2. Nachdem allein der ATV im Wege einer dynamischen Verweisung die jeweils geltenden Tarifverträge mit dem Transportmittel der individualvertraglichen Vereinbarung in die Arbeitsverträge der Parteien transportieren konnte, hängt die „Dynamik“ allein von dessen normativer Geltung ab. Dies ergibt sich vorliegend bereits aus § 2 Abs. 3 ATV, der die Dynamik nur für die „anerkannten“ Tarifverträge regelt und in § 2 Abs. 1 nur die genannten Ta-
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rifverträge „im Rahmen dieses Anerkennungstarifvertrages“ anerkennt. Die in Bezug genommenen Tarifnormen der Verbandstarifverträge wurden in den ATV inkorporiert und vervollständigten diesen (BAG 10. März 2004 – 4 AZR 140/03 –; 23. Februar 2012 – 4 AZR 8/10). Mit der Kündigung des ATV zum 31. Dezember 2011 erlosch der übereinstimmende Geltungswille der Tarifvertragsparteien auch hinsichtlich des Inhalts der Verbandstarifverträge (vgl. BAG 22. Februar 2012 – 4 AZR 8/10), weshalb es zu einer „Entdynamisierung" der dynamischen Bezugnahme auf die Verbandstarifverträge kam (Löwisch/Rieble, TVG, 3. Aufl. 2012, § 1 Rn. 36, § 4 Rn. 704; BAG 29. Januar 2008 – 3 AZR 426/06 – LAG Baden-Württemberg 29. Januar 2014 – 19 Sa 42/13 – Rn. 35).
Folglich konnte der Feststellungsantrag der Klagpartei keinen Erfolg haben.
3. Aus dem oben Dargestellten ergibt sich, dass auch die Zahlungsklage unbegründet ist. Da die Verbandstarifverträge in ihrer jeweils aktuellen Fassung nach der Kündigung des ATV zum 31. Dezember 2011 auf das Arbeitsverhältnis der Parteien keine Anwendung mehr finden, stehen der Klagpartei auch keine Zahlungsansprüche wegen vermeintlich nicht weitergegebener Tariflohnerhöhungen zu.
Demgemäß war die Berufung der Klagpartei zurückzuweisen.
C.
Die Klagpartei hat gemäß § 97 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen.
Die Kammer hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision für die Klagpartei gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.
Tillmanns
Goller
Heuer-Klug
Quelle: www.justiz.baden-wuerttemberg.de
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