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ARBEITSRECHT AKTUELL // 17/003

An­we­sen­heits­prä­mi­en sind auf den Min­dest­lohn an­zu­rech­nen

Ei­ne ta­rif­li­che An­we­sen­heits­prä­mie, die zu­sätz­lich zum St­un­den­lohn ge­zahlt und bei Krank­heits­zei­ten ge­kürzt wird, er­füllt den Min­dest­lohn­an­spruch: Lan­des­ar­beits­ge­richt Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 22.11.2016, 5 Sa 298/15
Lagerarbeit zieht ein Hubwagen im Lagerhaus, Lagerist

03.01.2017. Ei­ni­ge Lohn­be­stand­tei­le (Prä­mi­en, Zu­la­gen) ge­hö­ren zum ge­setz­li­chen Min­dest­lohn, da sie die re­gu­lä­re Ar­beits­leis­tung ver­gü­ten. Zahlt der Ar­beit­ge­ber sol­che Lohn­be­stand­tei­le, er­füllt er da­mit zu­gleich auch den Min­dest­lohn­an­spruch des Ar­beit­neh­mers.

An­de­re Lohn­be­stand­tei­le er­fül­len ei­ne an­de­re Auf­ga­be und sind da­her un­ab­hän­gig vom Min­dest­lohn, d.h. zu­sätz­lich zu be­zah­len.

In ei­nem ak­tu­el­len Ur­teil hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Meck­len­burg-Vor­pom­mern ent­schie­den, dass ta­rif­ver­trag­li­che An­we­sen­heits­prä­mi­en, die ne­ben ei­nem ta­rif­li­chen St­un­den­lohn ge­zahlt und bei Krank­heits­zei­ten ge­kürzt wer­den, auf den Min­dest­lohn an­zu­rech­nen sind: LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern, Ur­teil vom 22.11.2016, 5 Sa 298/15.

Erfüllt die Be­zah­lung von An­we­sen­heits­prämi­en zu­gleich auch Min­dest­lohn­ansprüche?

Ar­beit­neh­mer ha­ben in Deutsch­land ei­nen ge­setz­li­chen An­spruch auf Zah­lung ei­nes Min­dest­lohns von der­zeit 8,84 EUR brut­to pro St­un­de. Der An­spruch folgt aus § 1 Min­dest­l­ohn­ge­setz (Mi­LoG) und ist un­abhängig von ar­beits­ver­trag­li­chen und ta­rif­ver­trag­li­chen Lohn­ansprüchen.

Dass der Min­dest­lohn­an­spruch von an­de­ren Lohn­ansprüchen un­abhängig ist, heißt, dass es für sein Be­ste­hen al­lein auf das Mi­LoG an­kommt. Nicht ge­meint ist da­mit, dass Ar­beit­neh­mer ei­nen dop­pel­ten Lohn­an­spruch ha­ben, d.h. zwei­mal für die­sel­be Ar­beits­leis­tung kas­sie­ren können. Denn ar­beits- und/oder ta­rif­ver­trag­li­che Lohn­zah­lun­gen, mit de­nen der Ar­beit­ge­ber die "nor­ma­le Ar­beits­leis­tung" vergütet, erfüllen zu­gleich auch den ge­setz­li­chen Min­dest­lohn­an­spruch.

Das hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) in ei­ner Ent­schei­dung vom Mai 2016 klar­ge­stellt (BAG, Ur­teil vom 25.05.2016, 5 AZR 135/16, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 16/175 BAG ent­schei­det zu Ur­laubs­geld, Weih­nachts­geld und Min­dest­lohn). Da­nach können auch jähr­li­che Ein­mal­zah­lun­gen wie ein Ur­laubs­geld oder ein Weih­nachts­geld auf den Min­dest­lohn an­ge­rech­net wer­den, vor­aus­ge­setzt die­se Gra­ti­fi­ka­tio­nen vergüten die nor­ma­le Ar­beits­leis­tung des Ar­beit­neh­mers und es be­steht ei­ne wirk­sa­me recht­li­che Re­ge­lung, der zu­fol­ge die­se Ein­mal­zah­lun­gen in mo­nat­li­chen Por­tio­nen aus­ge­zahlt wer­den können.

Da­ge­gen können ar­beits- und/oder ta­rif­ver­trag­li­che Lohn­be­stand­tei­le nicht auf den Min­dest­lohn an­ge­rech­net wer­den und sind da­her ge­son­dert zu zah­len, wenn mit ih­nen be­son­de­re Leis­tun­gen oder Be­las­tun­gen aus­ge­gli­chen wer­den oder wenn es ei­nen spe­zi­el­len ge­setz­li­chen Grund für ei­ne sol­che Zu­satz­zah­lung gibt wie z.B. bei den Nacht­zu­schlägen gemäß § 6 Abs.5 Ar­beits­zeit­ge­setz (Arb­ZG).

Frag­lich ist, zu wel­cher Grup­pe von Lohn­ansprüchen ta­rif­ver­trag­li­che An­we­sen­heits­prämi­en gehören. Mit sol­chen Zu­satz­zah­lun­gen sol­len Ar­beit­neh­mer ei­nen fi­nan­zi­el­len An­reiz er­hal­ten, an möglichst vie­len Ta­gen an­we­send zu sein, d.h. ge­rin­ge krank­heits­be­ding­te Fehl­zei­ten wer­den fi­nan­zi­ell be­lohnt.

Im Streit: La­ger­ar­bei­ter klagt auf Zah­lung ei­ner ta­rif­li­chen An­we­sen­heits­prämie - ne­ben dem Min­dest­lohn

Im Streit­fall hat­te ein La­ger­ar­bei­ter auf Zah­lung ei­ner An­we­sen­heits­prämie von je­weils 37,20 EUR brut­to für Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2015 ge­klagt. Denn der auf ihn an­zu­wen­den­de Ta­rif­ver­trag sah ei­ne An­we­sen­heits­prämie von 0,37 EUR brut­to pro St­un­de vor.

Dar­aus er­gab sich je nach den mo­nat­li­chen Ar­beits­stun­den ein mehr oder we­ni­ger ho­her An­spruch auf ei­ne An­we­sen­heits­prämie. Die aber zahl­te der Ar­beit­ge­ber nur auf Ba­sis der Re­gel­ar­beits­zeit von 40 St­un­den pro Wo­che ab, ob­wohl der Ar­beit­neh­mer länger ar­bei­te­te.

Und da­mit nicht ge­nug: Der Ar­beit­ge­ber rech­ne­te die An­we­sen­heits­prämie auf den Min­dest­lohn­an­spruch an, denn der Ta­rif­lohn des Ar­beit­neh­mers be­trug im strei­ti­gen Zeit­raum (Ja­nu­ar und Fe­bru­ar 2015) nur 8,34 EUR und lag da­mit un­ter dem da­mals gülti­gen Min­dest­lohn von 8,50 EUR. Zu­sam­men mit der An­we­sen­heits­prämie war der Ar­beit­ge­ber aber im grünen Be­reich, je­den­falls aus sei­ner Sicht, denn Ta­rif­stun­den­lohn plus An­we­sen­heits­prämie wa­ren zu­sam­men mehr als der Min­dest­lohn.

Der Ar­beit­neh­mer sah das an­ders und zog vor das Ar­beits­ge­richt Stral­sund. Das wies sei­ne Lohn­dif­fe­renz­kla­ge ab, da es mein­te, die strit­ti­ge Prämie sei auf den Min­dest­lohn an­zu­rech­nen (Ur­teil vom 07.10.2015, 3 Ca 149/15).

LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern: Ei­ne ta­rif­li­che An­we­sen­heits­prämie, die zusätz­lich zum St­un­den­lohn ge­zahlt und bei Krank­heits­zei­ten gekürzt wird, erfüllt den Min­dest­lohn­an­spruch

Das LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern wies die Be­ru­fung zurück, ab­ge­se­hen von ei­ner klei­nen Dif­fe­renz von 1,68 EUR für Ja­nu­ar 2015, die noch zu zah­len wa­ren, da der Ar­beit­ge­ber bei der Be­rech­nung der An­we­sen­heits­prämie für die­sen Mo­na­te zu we­nig St­un­den berück­sich­tig hat­te. Im We­sent­li­chen gab das LAG aber dem Ar­beit­ge­ber recht.

Denn im All­ge­mei­nen erfüllen al­le Lohn­zah­lun­gen nicht nur ar­beits- und ta­rif­ver­trag­li­che Ansprüche, son­dern zu­gleich auch den An­spruch auf den Min­dest­lohn, so das LAG un­ter Be­ru­fung auf das o.g. BAG-Ur­teil. Ei­ne Aus­nah­me gilt nur für sol­che Lohn­be­stand­tei­le, die der Ar­beit­ge­ber "oh­ne Rück­sicht auf ei­ne tatsächli­che Ar­beits­leis­tung er­bringt" oder die "auf ei­ner be­son­de­ren ge­setz­li­chen Zweck­be­stim­mung be­ru­hen" (Ur­teil, Rn.64).

Ein sol­cher Aus­nah­me­fall lag hier bei der strei­ti­gen An­we­sen­heits­prämie nicht vor. Denn ei­ne sol­che Prämie

"ho­no­riert die tatsächli­che Er­brin­gung der Ar­beits­leis­tung. Sie ist eben­so wie der St­un­den­lohn ei­ne un­mit­tel­ba­re Ge­gen­leis­tung für die ge­leis­te­te Ar­beit. Der Ar­beit­neh­mer erhält die­se Zu­la­ge, weil er tatsächlich am Ar­beits­platz tätig ge­wor­den ist." (Ur­teil, Rn.67)

Fa­zit: Lohn­be­stand­tei­le sind nur dann zusätz­lich zum Min­dest­lohn, d.h. "on top" zu zah­len, wenn sie nicht die „nor­ma­le“ Ar­beits­leis­tung des Ar­beit­neh­mers vergüten sol­len, son­dern die ei­nen an­de­ren Zweck ha­ben. Sol­che Aus­nah­me-Lohn­be­stand­tei­le sind zum Bei­spiel Über­stun­den­zu­schläge, Zu­schläge für Nacht­ar­beit, für Sonn­tags- oder für Fei­er­tags­ar­beit, Schmutz­zu­la­gen und leis­tungs­abhängi­ge Prämi­en.

Zu die­sen Aus­nah­men gehören An­we­sen­heits­prämi­en nicht, so je­den­falls das LAG Meck­len­burg-Vor­pom­mern. Über die­se Fra­ge wird demnächst das BAG ent­schei­den müssen, denn das LAG hat die Re­vi­si­on zu­ge­las­sen, die der Kläger in­zwi­schen auch ein­ge­legt hat (Ak­ten­zei­chen des BAG: 5 AZR 864/16). Vor­aus­sicht­lich wird das BAG das Ur­teil des LAG bestäti­gen.

Ar­beit­neh­mer soll­ten sich durch das hier be­spro­che­ne Ur­teil nicht vor­schnell von Lohn­dif­fe­renz­kla­gen ab­hal­ten las­sen, wenn der Ar­beit­ge­ber re­gelmäßig ge­zahl­te Lohn­be­stand­tei­le auf den Min­dest­lohn an­rech­net. Geht es um leis­tungs­abhängi­ge Lohn­be­stand­tei­le wie z.B. um Um­satz­be­tei­li­gun­gen oder Ak­kord­prämi­en, soll­te man sich an­walt­lich be­ra­ten las­sen und/oder Dif­fe­renz­lohn­ansprüche zu­min­dest ein­mal an­zu­mah­nen, um Aus­schluss­fris­ten zu wah­ren.

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Letzte Überarbeitung: 23. November 2020

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