HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

 

BAG, Ur­teil vom 03.07.2003, 2 AZR 235/02

   
Schlagworte: Strafanzeige, Kündigung: Strafanzeige , Whistleblowing
   
Gericht: Bundesarbeitsgericht
Aktenzeichen: 2 AZR 235/02
Typ: Urteil
Entscheidungsdatum: 03.07.2003
   
Leitsätze: Eine zur Kündigung berechtigende arbeitsvertragliche Pflichtverletzung eines Arbeitnehmers liegt nicht nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer in einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber oder einen seiner Repräsentanten wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hat. Eine kündigungsrelevante erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten kann sich im Zusammenhang mit der Erstattung einer Strafanzeige im Einzelfall auch aus anderen Umständen ergeben.
Vorinstanzen: Arbeitsgericht Kassel, Urteil vom 7.02.2001, 5 Ca 418/00
Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 27.11.2001, 15 Sa 411/01
   


BUN­DES­AR­BEITS­GERICHT

2 AZR 235/02
15 Sa 411/01

Hes­si­sches
Lan­des­ar­beits­ge­richt

 

Im Na­men des Vol­kes!

Verkündet am

3. Ju­li 2003

UR­TEIL

An­derl, Ur­kunds­be­am­tin

der Geschäfts­stel­le

In Sa­chen

Be­klag­ter, Be­ru­fungs­be­klag­ter und Re­vi­si­onskläger,

pp.

Kläger, Be­ru­fungskläger und Re­vi­si­ons­be­klag­ter,

hat der Zwei­te Se­nat des Bun­des­ar­beits­ge­richts auf Grund der münd­li­chen Ver­hand­lung vom 3. Ju­li 2003 durch den Vor­sit­zen­den Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Prof. Dr. Rost, die Rich­ter am Bun­des­ar­beits­ge­richt Bröhl und Dr. Ey­lert so­wie den eh­ren­amt­li­chen Rich­ter Dr. Ben­sin­ger und die eh­ren­amt­li­che Rich­te­rin Nie­le­bock für Recht er­kannt:
 


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1. Auf die Re­vi­si­on des Be­klag­ten wird das Ur­teil des Hes­si­schen Lan­des­ar­beits­ge­richts vom 27. No­vem­ber 2001 - 15 Sa 411/01 - auf­ge­ho­ben.


2. Die Sa­che wird zur an­der­wei­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung - auch über die Kos­ten der Re­vi­si­on - an das Lan­des­ar­beits­ge­richt zurück­ver­wie­sen.

Von Rechts we­gen!

Tat­be­stand

Die Par­tei­en strei­ten noch über die Wirk­sam­keit ei­ner vom Be­klag­ten erklärten or­dent­li­chen Kündi­gung und ei­nen von ihm hilfs­wei­se ge­stell­ten Auflösungs­an­trag.

Der Be­klag­te ist ein bun­des­weit täti­ger frei­er Träger der Ju­gend-, So­zi­al- und Bil­dungs­ar­beit mit Sitz in F. Er be­treibt ua. in K. ein Ju­gend­ge­mein­schafts­werk mit den Be­rei­chen Be­ra­tungs­stel­len für ju­gend­li­che Aus­sied­ler und Kin­der­ta­gesstätten so­wie ein Ju­gend­zen­trum mit ins­ge­samt ca. 45 Mit­ar­bei­tern. Ein­rich­tungs­lei­ter der Sek­ti­on K./N. war J. R. Er war nicht kündi­gungs­be­rech­tigt. Die Sek­ti­on N. ist der Re­gi­on West zu­ge­ord­net, für die T. S. und B. W. kündi­gungs­be­rech­tigt sind.

Der am 6. Ju­ni 1962 ge­bo­re­ne, le­di­ge und ei­nem Kind zum Un­ter­halt ver­pflich­te­te Kläger war beim Be­klag­ten seit dem 1. Mai 1997 als So­zi­al­ar­bei­ter im Ju­gend­zen­trum in K. mit ei­ner wöchent­li­chen Ar­beits­zeit von 29 St­un­den beschäftigt. Sein Brut­to­mo­nats­ver­dienst be­trug zu­letzt 3.677,18 DM. Auf das Ar­beits­verhält­nis fin­det ein Haus-Man­tel­ta­rif­ver­trag (MTV) An­wen­dung. Die­ser be­stimmt in § 7 Abs. 2, dass Mit­ar­bei­ter von dienst­li­chen Vorgängen zu außer­dienst­li­chen Zwe­cken we­der sich noch an­de­ren Kennt­nis, Ab­schrif­ten, Ab- oder Nach­bil­dun­gen ver­schaf­fen dürfen.


Zwi­schen dem Kläger und sei­nem Vor­ge­setz­ten, dem Ein­rich­tungs­lei­ter R., gab es Span­nun­gen und Aus­ein­an­der­set­zun­gen ua. im Zu­sam­men­hang mit Ar­beits­zeit­ab­rech­nun­gen des Klägers. R. hat­te den Kläger an­ge­wie­sen, ab Fe­bru­ar 2000 ei­nen ausführ­li­chen Ar­beits­plan vor­zu­le­gen und mit ihm zu be­spre­chen. Der Kläger kam dem nicht nach. Mit Schrei­ben vom 21. März 2000 wur­de er auf­ge­for­dert, ei­nen Ar­beits­plan für April und Mai 2000 zu er­stel­len.
 


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Nach vor­he­ri­ger Be­ra­tung er­stat­te­te der jet­zi­ge Pro­zess­be­vollmäch­tig­te des Klägers mit Schrift­satz 21. März 2000 im Na­men sei­nes Man­dan­ten, je­doch oh­ne des­sen Na­mens­nen­nung ei­ne Straf­an­zei­ge bei der Staats­an­walt­schaft K. ge­gen R. aus al­len recht­li­chen Gründen, vor­zugs­wei­se we­gen der Ver­un­treu­ung von Gel­dern. Der Straf­an­zei­ge wa­ren Ko­pi­en von Rech­nungs­be­le­gen bei­gefügt. Sie wur­de da­mit be­gründet, R. ha­be in den ver­gan­ge­nen Jah­ren un­be­rech­tigt Leis­tun­gen zu Las­ten des Be­klag­ten ab­ge­rech­net. So sei die Tätig­keit von drei ver­mut­lich pol­ni­schen Staats­an­gehöri­gen, die im Rah­men von Um­bau­maßnah­men des Ju­gend­zen­trums Ar­bei­ten ver­rich­tet hätten, als Se­mi­nar­leis­tun­gen zu Las­ten des Be­klag­ten ver­bucht wor­den. Auch sei­en Bücher, CDs, Bau­ma­te­ri­al, Blu­men­er­de, Fil­me und ähn­li­ches ein­ge­kauft und zu Las­ten des Be­klag­ten ab­ge­rech­net wor­den. Die ge­nau­en Hin­ter­gründe und ei­ne mögli­che Straf­bar­keit könn­ten nur im Rah­men ei­nes wei­te­ren Ver­fah­rens er­mit­telt wer­den. Es wer­de ei­ne Durch­su­chung der Geschäftsräume an­ge­regt. Als Zeu­ge ste­he bis­her le­dig­lich frei­wil­lig L. (der Kläger) zur Verfügung.

Das dar­auf­hin ein­ge­lei­te­te Er­mitt­lungs­ver­fah­ren ge­gen R. we­gen Un­treue zum Nach­teil des Be­klag­ten wur­de gemäß § 170 Abs. 2 St­PO ein­ge­stellt. So­weit ge­gen R. we­gen des Ver­dachts der Bei­hil­fe zum Ver­s­toß ge­gen das Ausländer­ge­setz er­mit­telt wor­den war, stell­te die Staats­an­walt­schaft das Straf­ver­fah­ren gemäß § 153 Abs. 1 St­PO ein. Im wei­ter­geführ­ten Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ver­fah­ren wur­de ein Bußgeld­be­scheid ge­gen R. er­las­sen, ge­gen den er Ein­spruch ein­ge­legt hat.

Mit Schrei­ben vom 1. Au­gust 2000 kündig­te der Be­klag­te nach Anhörung des Be­triebs­rats das Ar­beits­verhält­nis des Klägers frist­los. Mit Schrei­ben glei­chen Da­tums, dem Kläger am 3. Au­gust 2000 zu­ge­gan­gen, kündig­te er hilfs­wei­se frist­ge­recht zum 30. Sep­tem­ber 2000. Die or­dent­li­che Kündi­gung war vom stell­ver­tre­ten­den Re­gio­nal­geschäftsführer der Re­gi­on West B. W. „iV.“ un­ter­zeich­net wor­den. Dem Kündi­gungs­schrei­ben war die Ko­pie ei­ner Voll­macht vom 11. Fe­bru­ar 1998 bei­gefügt. Mit Schrei­ben vom 8. Au­gust 2000 wies der Pro­zess­be­vollmäch­tig­te des Klägers die or­dent­li­che Kündi­gung zurück, weil ihr kei­ne Voll­machts­ur­kun­de bei­ge­le­gen ha­be. Die ge­gen die Wirk­sam­keit der Kündi­gun­gen ge­rich­te­te Kla­ge ist am 17. Au­gust 2000 beim Ar­beits­ge­richt ein­ge­gan­gen.
R. ist auf Grund ei­nes ar­beits­ge­richt­li­chen Ver­gleichs vom 30. Ja­nu­ar 2002 zum 30. No­vem­ber 2001 aus den Diens­ten des Be­klag­ten aus­ge­schie­den.


Der Kläger hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Kündi­gung sei un­wirk­sam. Ihr ha­be kei­ne Ori­gi­nal­voll­macht bei­ge­le­gen. Von ei­ner Be­vollmäch­ti­gung W. durch Aus-


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hang am Schwar­zen Brett ha­be er kei­ne Kennt­nis, er ha­be ei­nen der­ar­ti­gen Aus­hang nie ge­se­hen. Es lie­ge kein Kündi­gungs­grund vor. Sei­ne An­zei­ge sei be­rech­tigt ge­we­sen. Er ha­be in Wah­rung ei­ge­ner be­rech­tig­ter In­ter­es­sen ge­han­delt. R. ha­be ihn zur Ma­ni­pu­la­ti­on von Ab­rech­nungs­un­ter­la­gen be­we­gen wol­len, um un­be­rech­tigt Maßnah­me­gel­der zu er­hal­ten. Das Ju­gend­zen­trum sei in der ers­ten Hälf­te des Jah­res 2000 um­ge­baut wor­den. Se­mi­na­re sei­en nur ein­ge­schränkt an­ge­bo­ten wor­den. Auf Ver­an­las­sung von R. hätten pol­ni­sche Ar­bei­ter Rech­nun­gen für ein tatsächlich nicht durch-geführ­tes Se­mi­nar „C.“ aus­ge­stellt, um Förder­mit­tel zu er­hal­ten. Er ha­be im Auf­trag von R. ei­nen Be­richt zu die­sem Se­mi­nar schrei­ben müssen. Für die­ses Se­mi­nar sei­en un­zu­tref­fen­de Teil­neh­mer­lis­ten er­stellt wor­den. Ge­ne­rell sei­en für Se­mi­na­re überhöhte Sach­kos­ten ab­ge­rech­net wor­den. In den vom je­weils zuständi­gen So­zi­al­ar­bei­ter zu führen­den Ord­ner sei­en et­wa 10 - 20 % mehr Quit­tun­gen als tatsächlich an­ge­fal­len ein­ge­hef­tet wor­den. Es sei sei­ne Auf­ga­be ge­we­sen, sämt­li­che Quit­tun­gen ab­zu­rech­nen und die For­de­run­gen zu be­gründen. Er ha­be sei­nen Vor­ge­setz­ten be­reits En­de 1997 dar­auf hin­ge­wie­sen, er könne „dies nicht al­les er­fin­den“. R. ha­be ihm ge­ant­wor­tet: „Mach das oder lass es, die Kon­se­quen­zen musst Du tra­gen.“ Er ha­be sich nicht an die Zen­tra­le in F. ge­wandt, da er ei­ne Rück­spra­che als er­folg­los an­ge­se­hen ha­be. R. ha­be ihm erklärt, das Vor­ge­hen sei mit F. ab­ge­spro­chen. Er ha­be den Ein­druck ge­win­nen müssen, die geübte Pra­xis sei „von oben“ ge­deckt. Auf Grund ei­nes persönli­chen Rei­fe­pro­zes­ses ha­be er sich 1999 ent­schlos­sen, nicht mehr so zu ver­fah­ren. R. sei ihn „hart an­ge­gan­gen“, als er ihm mit­ge­teilt ha­be, er sei nicht mehr be­reit, sich straf­bar zu ma­chen.

Der Kläger hat - so­weit für das Re­vi­si­ons­ver­fah­ren noch von Be­deu­tung - zu­letzt be­an­tragt

fest­zu­stel­len, dass das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis nicht durch die or­dent­li­che Kündi­gung des Be-klag­ten vom 1. Au­gust 2000 auf­gelöst wor­den ist.


Der Be­klag­te hat be­an­tragt, die Kla­ge ab­zu­wei­sen. Hilfs­wei­se hat er be­an­tragt,

das zwi­schen den Par­tei­en be­ste­hen­de Ar­beits­verhält­nis ge­gen Zah­lung ei­ner ent­spre­chend der Be­triebs­zu­gehörig­keit des Klägers an­ge­mes­se­nen Ab­fin­dung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG auf­zulösen.


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Der Be­klag­te hat die Auf­fas­sung ver­tre­ten, die Kündi­gung sei we­gen schwe­ren Ver­trau­ens­bruchs so­zi­al ge­recht­fer­tigt. Die an­onym er­stat­te­te Straf­an­zei­ge ge­gen sei­nen Vor­ge­setz­ten ma­che ei­ne Fort­set­zung des Ar­beits­verhält­nis­ses unmöglich. Der Ver­trau­ens­bruch sei um so größer, als der Kläger nie ver­sucht ha­be, die Vorwürfe zu-nächst in­tern, zB durch In­for­ma­ti­on der Vor­ge­setz­ten von R., zu klären. Zu­dem sei die An­zei­ge zu ei­nem Zeit­punkt er­stat­tet wor­den, als es zwi­schen dem Kläger und sei­nem Vor­ge­setz­ten er­heb­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Ar­beits­zeit des Klägers ge­ge­ben ha­be. Der Kläger ha­be sei­nem Vor­ge­setz­ten „eins aus­wi­schen“ wol­len. Der Kläger ha­be die an­ony­me An­zei­ge nur des­halb er­stat­tet, um R. aus des­sen Stel­lung als Vor­ge­setz­ten zu ent­fer­nen. Er ha­be auch ge­gen § 7 Abs. 2 MTV ver­s­toßen, in­dem er von Un­ter­la­gen Ko­pi­en ge­fer­tigt und an die Staats­an­walt­schaft wei­ter­ge­lei­tet ha­be. Ab Mai 2000 ha­be am Schwar­zen Brett der K. Ein­rich­tung ein Schrei­ben aus­ge­han­gen, in dem auf die Be­rech­ti­gung von Herrn W. zum Aus­spruch von Kündi­gun­gen hin­ge­wie­sen wor­den sei. Je­den­falls sei das Ar­beits­verhält­nis auf­zulösen. Der Kläger zei­ge sich trotz der zwi­schen­zeit­lich er­folg­ten Ein­stel­lung des Straf­ver­fah­rens völlig un­ein­sich­tig.


Der Kläger hat be­an­tragt,

den Auflösungs­an­trag zurück­zu­wei­sen.

Das Ar­beits­ge­richt hat die außer­or­dent­li­che Kündi­gung als un­wirk­sam, die or­dent­li­che Kündi­gung hin­ge­gen als wirk­sam an­ge­se­hen. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat auf die Be­ru­fung des Klägers fest­ge­stellt, dass auch die or­dent­li­che Kündi­gung das Ar­beits­verhält­nis nicht auf­gelöst ha­be. Den vom Be­klag­ten in der Be­ru­fungs­in­stanz ge­stell­ten Auflösungs­an­trag hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt zurück­ge­wie­sen. Mit der vom Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­ge­las­se­nen Re­vi­si­on be­gehrt der Be­klag­te wei­ter­hin die Ab­wei­sung der ge­gen die or­dent­li­che Kündi­gung ge­rich­te­ten Kla­ge, hilfs­wei­se die Auflösung des Ar­beits­verhält­nis­ses.

Ent­schei­dungs­gründe

Die Re­vi­si­on des Be­klag­ten ist be­gründet. Sie führt zur Auf­he­bung des Be­ru­fungs­ur­teils und zur Zurück­ver­wei­sung (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO aF). Auf Grund der bis­he­ri­gen Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen steht noch nicht fest, ob die vom Be­klag­ten er-
 


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klärte or­dent­li­che Kündi­gung das Ar­beits­verhält­nis der Par­tei­en wirk­sam auf­gelöst hat und ob ggf. ein Auflösungs­grund be­steht.
I. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat an­ge­nom­men, die or­dent­li­che Kündi­gung sei un­wirk­sam. Nach der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 2. Ju­li 2001 (- 1 BvR 2049/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188) könne ei­ne Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber oder Vor­ge­setz­ten ei­ne Kündi­gung ei­nes Ar­beits­verhält­nis­ses nur so­zi­al recht­fer­ti­gen, wenn die Straf­an­zei­ge wis­sent­lich un­wah­re oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ent­hal­te. Auf den Ver­such ei­ner vor­he­ri­gen be­trieb­li­chen Klärung kom­me es nicht an. Für wis­sent­lich fal­sche An­ga­ben des Klägers gäbe es kei­ne kon­kre­ten An­halts­punk­te. Ge­gen ei­ne leicht­fer­ti­ge An­zei­ge sprächen die an­walt­li­che Be­ra­tung und die vor­sich­ti­gen For­mu­lie­run­gen. Dem Vor­trag des Klägers zu dem aus sei­ner Sicht straf­ba­ren Ver­hal­ten des R. sei der für den Kündi­gungs­grund dar­le­gungs-und be­weis­pflich­ti­ge Be­klag­te nicht ent­ge­gen­ge­tre­ten. Der al­lein ver­blei­ben­de Ver­s­toß ge­gen § 7 Abs. 2 MTV be­rech­ti­ge den Be­klag­ten oh­ne vor­he­ri­ge Ab­mah­nung nicht zur Kündi­gung. Der Auflösungs­an­trag sei un­be­gründet. Aus den an­geführ­ten ver­fas­sungs-recht­li­chen Gründen sei ein Zurück­grei­fen auf die Straf­an­zei­ge nicht möglich. Fer­ner sei­en die für die Kündi­gung an­geführ­ten Umstände nicht ge­eig­net, die er­for­der­li­che ne­ga­ti­ve Zu­kunfts­pro­gno­se zu stel­len. Es be­ste­he nach dem Aus­schei­den des Mit­ar­bei­ters R. auch ei­ne ge­wis­se Wahr­schein­lich­keit, dass das Ar­beits­verhält­nis des Klägers in nor­ma­le Bah­nen zurück­keh­ren könne.


II. Dem folgt der Se­nat nicht. Nach den bis­he­ri­gen tatsächli­chen Fest­stel­lun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts lässt sich nicht ab­sch­ließend be­ur­tei­len, ob die or­dent­li­che Kündi­gung des Be­klag­ten vom 1. Au­gust 2000 durch Gründe, die in dem Ver­hal­ten des Klägers lie­gen (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG), be­dingt und da­mit so­zi­al ge­recht­fer­tigt ist. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat ver­kannt, dass ei­ne zur Kündi­gung be­rech­ti­gen­de ar­beits­ver­trag­li­che Pflicht­ver­let­zung nicht nur dann ge­ge­ben sein kann, wenn der Ar­beit­neh­mer in ei­ner Straf­an­zei­ge ge­gen den Ar­beit­ge­ber oder ei­nen sei­ner Re­präsen­tan­ten wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht hat. Ei­ne kündi­gungs­re­le­van­te er­heb­li­che Ver­let­zung ar­beits­ver­trag­li­cher Ne­ben­pflich­ten kann sich im Zu­sam­men­hang mit der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge im Ein­zel­fall auch aus an­de­ren Umständen er­ge­ben. Ob sol­che be­son­de­ren Umstände vor­lie­gen, steht nach den bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen noch nicht fest und wird vom Lan­des­ar­beits­ge­richt im Ein­zel­nen zu prüfen sein.
 


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1. Die Ent­schei­dung des Be­ru­fungs­ge­richts über die So­zi­al­wid­rig­keit ei­ner Kündi­gung ist in der Re­vi­si­ons­in­stanz nur be­schränkt nach­prüfbar. Bei der Fra­ge der So­zi­al­wid­rig­keit (§ 1 Abs. 2 KSchG) han­delt es sich um die An­wen­dung ei­nes un­be­stimm­ten Rechts­be­griffs, die vom Re­vi­si­ons­ge­richt nur dar­auf ge­prüft wer­den kann, ob das Be­ru­fungs­ge­richt den Rechts­be­griff selbst ver­kannt hat, ob es bei der Un­ter­ord­nung des Sach­ver­halts un­ter die Rechts­norm des § 1 KSchG Denk­ge­set­ze oder all­ge­mei­ne Er­fah­rungssätze ver­letzt hat, ob es bei der ge­bo­te­nen In­ter­es­sen­abwägung, bei der dem Tat­sa­chen­rich­ter ein Be­ur­tei­lungs­spiel­raum zu­steht, al­le we­sent­li­chen Umstände berück­sich­tigt hat und ob die Ent­schei­dung in sich wi­der­spruchs­frei ist (st. Se­nats­recht­spre­chung, vgl. zB 13. Ju­ni 2002 - 2 AZR 234/01 - AP KSchG 1969 § 1 Nr. 69 = EzA KSchG § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 57; 15. No­vem­ber 2001 - 2 AZR 609/00 - BA­GE 99, 340; 27. Fe­bru­ar 1997 - 2 AZR 302/96 - AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 36 = EzA KSchG § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 51).


Die­sem ein­ge­schränk­ten Über­prüfungs­maßstab hält das an­ge­foch­te­ne Ur­teil nicht stand.

2. Nach § 1 Abs. 2 KSchG ist ei­ne or­dent­li­che Kündi­gung dann so­zi­al ge­recht­fer­tigt, wenn sie durch Gründe, die im Ver­hal­ten des Ar­beit­neh­mers lie­gen, be­dingt ist.

Ein ver­hal­tens­be­ding­ter Kündi­gungs­grund liegt ins­be­son­de­re vor, wenn der Ar­beit­neh­mer rechts­wid­rig und schuld­haft sei­ne ver­trag­li­chen Pflich­ten er­heb­lich ver­letzt hat (BAG 17. Ja­nu­ar 1991 - 2 AZR 375/90 - BA­GE 67, 75; 21. Mai 1992 - 2 AZR 10/92 - BA­GE 70, 262; 21. No­vem­ber 1996 - 2 AZR 357/95 - AP BGB § 626 Nr. 130 = EzA KSchG § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 50; KR-Et­zel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 395 ff.).


3. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat den Rechts­be­griff der ver­hal­tens­be­ding­ten Kündi­gung (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG) ver­kannt, in­dem es ei­ne mögli­che „kündi­gungs­re­le­van­te“ Pflicht­ver­let­zung nur bei ei­ner auf wis­sent­lich un­wah­ren oder leicht­fer­tig fal­schen An­ga­ben be­ru­hen­den Straf­an­zei­ge des Ar­beit­neh­mers ge­gen den Ar­beit­ge­ber oder sei­nen Vor­ge­setz­ten se­hen will. Es sind je­doch wei­te­re Sach­ver­hal­te denk­bar, in de­nen der Ar­beit­neh­mer durch ei­ne An­zei­gen­er­stat­tung er­heb­lich sei­ne ver­trag­li­chen Pflich­ten ver­letzt. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Lan­des­ar­beits­ge­richts schließen die auch im Ar­beits­verhält­nis zu be­ach­ten­den ver­fas­sungs­recht­li­chen Vor­ga­ben ei­ne ver­hal­tens­be­ding­te or­dent­li­che Kündi­gung we­gen schuld­haf­ter Ver­let­zung von ar­beits­ver-
 


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trag­li­chen Ne­ben­pflich­ten im Zu­sam­men­hang mit ei­ner vom Ar­beit­neh­mer ge­gen ei­nen Vor­ge­setz­ten er­stat­te­ten Straf­an­zei­ge nicht im­mer aus.


a) Aus­ge­hend von der Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 2. Ju­li 2001 (- 1 BvR 2049/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188) hat das Lan­des­ar­beits­ge­richt zu­tref­fend an­ge­nom­men, dass den ar­beits­ver­trag­li­chen Ne­ben-pflich­ten des Ar­beit­neh­mers durch das Ver­fas­sungs­recht Gren­zen ge­setzt wer­den. Zeigt ein Ar­beit­neh­mer sei­nen Ar­beit­ge­ber „frei­wil­lig“ bei der Straf­ver­fol­gungs­behörde an, so kann die dar­in lie­gen­de Wahr­neh­mung staatsbürger­li­cher Rech­te im Straf­ver­fah­ren re­gelmäßig nicht zu ei­ner Ver­let­zung der ar­beits­ver­trag­li­chen Pflich­ten führen und ei­ne des­we­gen erklärte Kündi­gung so­zi­al recht­fer­ti­gen (BVerfG 2. Ju­li 2001 aaO; da­vor be­reits BAG 4. Ju­li 1991 - 2 AZR 80/91 - RzK I 6 a Nr. 74). Mit dem Rechts­staats­prin­zip ist es re­gelmäßig un­ver­ein­bar, wenn ei­ne An­zei­ge und Aus­sa­ge im Er­mitt­lungs­ver­fah­ren zu zi­vil­recht­li­chen Nach­tei­len für den an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mer bzw. Zeu­gen führen würde, es sei denn, er hat wis­sent­lich un­wah­re oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben ge­macht (BAG 4. Ju­li 1991 aaO).


b) Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Lan­des­ar­beits­ge­richts ist je­doch ei­ne ver­trags-wid­ri­ge Pflicht­ver­let­zung nicht aus­nahms­los dann zu ver­nei­nen, wenn der Ar­beit­neh­mer ei­ne An­zei­ge, oh­ne wis­sent­lich oder leicht­fer­tig fal­sche An­ga­ben zu ma­chen, bei den Straf­ver­fol­gungs­behörden er­stat­tet.

aa) Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat in der Ent­schei­dung vom 2. Ju­li 2001 (- 1 BvR 2094/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188) ei­nen sol­chen Rechts­satz nicht auf­ge­stellt. Es hat le­dig­lich für den „Re­gel­fall“ aus­geführt, auch bei ei­ner „frei­wil­li­gen“ Ein­schal­tung der Staats­an­walt­schaft durch den Ar­beit­neh­mer dürfe sein Han­deln aus rechts­staat­li­chen Gründen nicht zu ei­nem wich­ti­gen Grund für ei­ne frist­lo­se Kündi­gung führen. Wie schon die For­mu­lie­rung „im Re­gel­fall“ zeigt, sind - auch - von Ver­fas­sungs­we­gen wei­te­re Aus­nah­mefälle denk­bar, in de­nen ei­ne Kündi­gung auch dann möglich ist, wenn die vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt selbst for­mu­lier­te Ein­schränkung der wis­sent­lich oder leicht­fer­tig ge­mach­ten fal­schen An­ga­ben nicht ein­greift. Wei­ter gilt es zu be­den­ken, dass sich die an­ony­me An­zei­ge im Streit­fall nicht ge­gen den Ar­beit­ge­ber selbst, son­dern ge­gen ei­nen Vor­ge­setz­ten des An­zei­ge­er­stat­ters rich­te­te und mit sol­chen straf­ba­ren Pflicht­ver­let­zun­gen be­gründet wor­den war, die den auf öffent­li­che Zu­wen­dun­gen an­ge­wie­se­nen Ar­beit­ge­ber und des­sen Vermögen be­tra­fen. An­ders als im Fall des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ge­winnt des-
 


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halb hier der As­pekt ei­nes in­ner­be­trieb­li­chen Ab­hil­fe­ver­suchs ei­ne be­son­de­re Be­deu­tung.


bb) Dem Ar­beits­ver­trag sind zahl­rei­che Ne­ben­pflich­ten im­ma­nent. Da­zu gehört ins­be­son­de­re die ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht (§ 242 BGB; jetzt aus­drück­lich § 241 Abs. 2 BGB nF; vgl. zu­letzt BAG 10. Ok­to­ber 2002 - 2 AZR 472/01 - AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 44 = EzA KSchG § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 58; MünchArbR-Blo­mey­er 2. Aufl. § 51 Rn. 19 ff.; ErfK/Preis 3. Aufl. § 611 BGB Rn. 906). Der Ar­beit­neh­mer ist ver­pflich­tet, auf die geschäft­li­chen In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers Rück­sicht zu neh­men und sie im zu­mut­ba­ren Um­fang zu wah­ren (zu­sam­men­fas­sen­de Über­sicht bei BGH 23. Fe­bru­ar 1989 - IX ZR 236/86 - BB 1989, 649; Müller NZA 2002, 424, 427 ff. je­weils mwN; Er­man-Ha­nau BGB 10. Aufl. § 611 Rn. 508; MünchArbR-Blo­mey­er 2. Aufl. § 51 Rn. 19 ff.). Der Ar­beit­neh­mer hat darüber hin­aus die Be­triebs- und Geschäfts­ge­heim­nis­se zu wah­ren und den Ar­beit­ge­ber über al­le we­sent­li­chen Vor­komm­nis­se im Be­trieb in Kennt­nis zu set­zen, vor al­lem um Schäden des Ar­beit­ge­bers zu ver­hin­dern (Pa­landt-Putzo BGB 62. Aufl. § 611 Rn 40; ErfK/Preis 3. Aufl. § 611 BGB Rn. 906; Stahl­ha­cke/Preis/Vos­sen Kündi­gung und Kündi­gungs­schutz im Ar­beits­verhält­nis 8. Aufl. Rn. 692; MünchArbR-Blo­mey­er 2. Aufl. § 53 Rn. 55; Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1961).

cc) Die ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht wird durch die Grund­rech­te näher aus­ge­stal­tet (zu­letzt BAG 10. Ok­to­ber 2002 - 2 AZR 472/01 - AP KSchG 1969 § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 44 = EzA KSchG § 1 Ver­hal­tens­be­ding­te Kündi­gung Nr. 58). Kol­li­diert das dem Ar­beit­ge­ber als Aus­fluss sei­ner grund­recht­lich geschütz­ten Betäti­gungs­frei­heit (Art. 12 Abs. 1 GG) zu­ste­hen­de Recht, vom Ar­beit­neh­mer die Ein­hal­tung ei­nes ge­wis­ses Maßes von Rück­sicht auf sei­ne In­ter­es­sen zu ver­lan­gen, mit grund­recht­lich geschütz­ten Po­si­tio­nen des Ar­beit­neh­mers, so ist das Span­nungs­verhält­nis im Rah­men der Kon­kre­ti­sie­rung und An­wen­dung der Ge­ne­ral­klau­sel des § 242 BGB (jetzt auch § 241 Abs. 2 BGB nF) grund­rechts­kon­form aus­zu­glei­chen und sind die ar­beits­ver­trag­li­chen Ne­ben­pflich­ten ent­spre­chend zu kon­kre­ti­sie­ren (BAG 10. Ok­to­ber 2002 aaO). Da­bei sind die kol­li­die­ren­den Grund­rech­te in ih­rer Wech­sel­wir­kung zu se­hen und so zu be­gren­zen, dass die bei der Aus­for­mung der ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflicht geschütz­ten Rechts­po­si­tio­nen für al­le Be­tei­lig­ten möglichst weit­ge­hend wirk­sam wer­den (prak­ti­sche Kon­kor­danz; zu­letzt BAG 10. Ok­to­ber 2002 aaO mwN).
 


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(1) Mit der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge nimmt der Ar­beit­neh­mer ei­ne von Ver­fas­sungs we­gen ge­for­der­te und von der Rechts­ord­nung er­laub­te und ge­bil­lig­te Möglich­keit der Rechts­ver­fol­gung wahr (so be­reits BVerfG 25. Fe­bru­ar 1987 - 1 BvR 1086/85 - BVerfGE 74, 257).


Da es der Rechts­staat - ab­ge­se­hen von ge­setz­lich ge­re­gel­ten Aus­nah­mefällen (Not­wehr, Not­hil­fe, Selbst­hil­fe, Not­stand und vorläufi­ge Fest­nah­me) - dem Bürger ver­wehrt, sein wirk­li­ches oder ver­meint­li­ches Recht mit Ge­walt durch­zu­set­zen, muss er sein Recht vor staat­li­chen Ge­rich­ten su­chen und es mit Hil­fe der Staats­ge­walt ver­fol­gen. Aus dem Ver­bot der Pri­vat­ge­walt und der Ver­staat­li­chung der Rechts­durch­set­zung folgt um­ge­kehrt die Pflicht des Staa­tes, für die Si­cher­heit sei­ner Bürger zu sor­gen und die Be­ach­tung ih­rer Rech­te si­cher­zu­stel­len. Mit die­sen Grund­ge­bo­ten des Rechts­staats ist es nicht ver­ein­bar, wenn der­je­ni­ge, der in gu­tem Glau­ben ei­ne Straf­an­zei­ge er­stat­tet hat, Nach­tei­le da­durch er­lei­det, dass sich sei­ne Be­haup­tung nach behörd­li­cher Prüfung als un­rich­tig oder nicht aufklärbar er­weist. Die (nicht wis­sent­lich un­wah­re oder leicht­fer­ti­ge) Straf­an­zei­ge ei­nes Bürgers liegt im all­ge­mei­nen In­ter­es­se an der Er­hal­tung des Rechts­frie­dens und an der Aufklärung von Straf­ta­ten; der Rechts­staat kann dar­auf bei der Straf­ver­fol­gung nicht ver­zich­ten (BVerfG 25. Fe­bru­ar 1987 - 1 BvR 1086/85 - BVerfGE 74, 257). Dem­ent­spre­chend nimmt der Ar­beit­neh­mer mit der Er­stat­tung ei­ner Straf­an­zei­ge ein von der Rechts­ord­nung ein­geräum­tes Grund­recht (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechts­staats­prin­zip, Art. 20 Abs. 3 GG) wahr (BVerfG 2. Ju­li 2001 - 1 BvR 2049/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188).


Ob der Schutz­be­reich des Art. 17 GG berührt ist (sie­he Se­nat 18. Ju­ni 1970 - 2 AZR 369/69 - AP KSchG § 1 Nr. 82; Col­ne­ric AiB 1987, 260, 265; Gra­ser Whist­leb­lo­wing - Ar­beit­neh­mer­an­zei­gen im US-ame­ri­ka­ni­schen und deut­schen Recht (2000) S. 126 ff.; Wen­de­ling-Schröder Au­to­no­mie im Ar­beits­recht 1994 S. 192; zu­letzt Dei­se­roth AuR 2002, 161, 166), kann im Hin­blick auf die vor­ste­hen­den Ausführun­gen da­hin­ge­stellt blei­ben (of­fen ge­las­sen auch BVerfG 2. Ju­li 2001- 1 BvR 2049/00 - AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188). Auf den - zusätz­li­chen - Schutz des Grund­rechts aus Art. 5 Abs. 1 GG kann sich der Kläger je­doch nicht be­ru­fen. Zwar un­ter­fal­len Ar­beit­neh­mer­an­zei­gen und Be­schwer­den grundsätz­lich dem Schutz­be­reich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (ErfK/Die­te­rich 3. Aufl. Art. 5 GG Rn. 37; Gra­ser aaO S. 109; Hin­richs in Das Ar­beits­recht der Ge­gen­wart Bd. 18 (1980) S. 35, 39; Müller NZA 2002, 424, 429 f.; Wen­de­ling-Schröder aaO S. 156 ff. Zu­sam­men­fas­sung: S. 211). Dies kann aber nicht für ei­ne an­onym er­stat­te­te An­zei­ge, bei der der An­zei­ger un­ge­nannt bleibt und ge­ra­de nicht sei­ne persönli­che Mei­nung kund­tun will, gel­ten. Ei­ne
 


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sol­che an­ony­me An­zei­ge fällt nicht in den Schutz­be­reich des Art. 5 Abs. 1 GG. Ihr fehlt es ge­ra­de an dem kon­sti­tu­ie­ren­den Ele­ment der Sub­jek­ti­vität (vgl. ErfK/Die­te­rich 3. Aufl. Art. 5 GG Rn. 5 mwN). Oh­ne die deut­lich er­kenn­ba­re persönli­che Zu­ord­nung kann ei­ne an­ony­me Äußerung nicht an der geis­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zung teil­neh­men.


(2) Nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts ist die Un­ter­neh­mer­frei­heit des Ar­beit­ge­bers im Sin­ne frei­er Gründung und Führung von Un­ter­neh­men durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt (BVerfG 1. März 1979 - 1 BvR 532, 533/77, 419/78 - und - 1 BvL 21/78 - BVerfGE 50, 290, 363).


Als Aus­fluss der ver­fas­sungs­recht­lich geschütz­ten Un­ter­neh­mer­frei­heit hat der Ar­beit­ge­ber auch ein recht­lich geschütz­tes In­ter­es­se, nur mit sol­chen Ar­beit­neh­mern zu­sam­men­zu­ar­bei­ten, die die Zie­le des Un­ter­neh­mens fördern und das Un­ter­neh­men vor Schäden be­wah­ren. Re­gelmäßig wird ein Un­ter­neh­men im Wett­be­werb nur be­ste­hen können, wenn ins­be­son­de­re be­trieb­li­che Abläufe und Stra­te­gi­en nicht in die Öffent­lich­keit ge­lan­gen und der Kon­kur­renz be­kannt wer­den. Des­halb ste­hen nach § 17 UWG Geschäfts- und Be­triebs­ge­heim­nis­se un­ter straf­recht­li­chem Schutz. Ein Ar­beit­ge­ber, der - wie der Be­klag­te - von Zu­wen­dun­gen der öffent­li­chen Hand abhängig ist, kann durch die mit der Ein­lei­tung ei­nes Straf­ver­fah­rens ver­bun­de­ne ne­ga­ti­ve öffent­li­che Pu­bli­zität so­gar in sei­ner Exis­tenz­grund­la­ge gefähr­det wer­den. Dies gilt um­so mehr, als es um die Fra­ge des rechtmäßigen Er­halts von Zu­wen­dun­gen geht.

Dem­ge­genüber kann nicht ein­ge­wandt wer­den, das In­ter­es­se des Ar­beit­ge­bers, Ge­set­zes­verstöße, die er oder sei­ne Hilfs­per­so­nen im Be­trieb be­ge­hen oder be­gan­gen ha­ben, zu ver­heim­li­chen, wer­de durch die Ver­fas­sung nicht geschützt (Col­ne-ric AiB 1987, 260). Die­ser Ein­wand gilt je­den­falls dann nicht, wenn - wie hier - ein selbst nicht rechts­wid­rig und vorsätz­lich han­deln­der Ar­beit­ge­ber be­trof­fen ist.


dd) Un­ter Berück­sich­ti­gung die­ses Rah­mens sind die ver­trag­li­chen Rück­sicht­nah­me­pflich­ten da­hin zu kon­kre­ti­sie­ren, dass sich die An­zei­ge des Ar­beit­neh­mers nicht als ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on auf ein Ver­hal­ten des Ar­beit­ge­bers oder sei­nes Re­präsen­tan­ten dar­stel­len darf (Se­nat 4. Ju­li 1991 - 2 AZR 80/91 - RzK I 6 a Nr. 74; MünchArbR-Blo­mey­er 2. Aufl. § 53 Rn. 70). Da­bei können als In­di­zi­en für ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on des an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mers so­wohl die Be­rech­ti­gung der An­zei­ge als auch die Mo­ti­va­ti­on des An­zei­gen­den oder ein feh­len­der in­ner­be­trieb­li­cher Hin­weis auf die an­ge­zeig­ten Missstände spre­chen. Dies gilt um­so mehr, als auch die ver­trag­li­che Ver­pflich­tung des Ar­beit­neh­mers im Raum steht, den Ar­beit­ge­ber vor dro-
 


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hen­den Schäden durch an­de­re Ar­beit­neh­mer zu be­wah­ren (BGH 23. Fe­bru­ar 1989 - IX ZR 236/86 - BB 1989, 649, 650).

(1) Die Gründe, die den Ar­beit­neh­mer da­zu be­wo­gen ha­ben, die An­zei­ge zu er-stat­ten, ver­die­nen ei­ne be­son­de­re Be­deu­tung (Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1960; vgl. auch Müller NZA 2002, 424, 433). Er­folgt die Er­stat­tung der An­zei­ge aus­sch­ließlich um den Ar­beit­ge­ber zu schädi­gen bzw. „fer­tig zu ma­chen“, kann - un­ter Berück­sich­ti­gung des der An­zei­ge zu­grun­de lie­gen­den Vor­wurfs - ei­ne un­verhält­nismäßige Re­ak­ti­on vor­lie­gen (BAG 4. Ju­li 1991 - 2 AZR 80/91 - RzK I 6 a Nr. 74; LAG Köln 7. Ja­nu­ar 2000 - 4 Sa 1273/99 -; MünchArbR-Bloy­mey­er 2. Aufl. § 53 Rn. 70). Durch ein der­ar­ti­ges pflicht­wid­ri­ges Ver­hal­ten nimmt der Ar­beit­neh­mer kei­ne ver­fas­sungs­recht­li­chen Rech­te wahr, son­dern verhält sich - je­den­falls ge­genüber dem Ar­beit­ge­ber - rechts­miss­bräuch­lich.
(2) Ent­ge­gen ei­ner teil­wei­se ver­tre­te­nen Auf­fas­sung (vgl. da­zu Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1961 f.; Ber­kow­sky NZA-RR 2001, 1, 16; KR-Et­zel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 427; KR-Fi­scher­mei­er 6. Aufl. § 626 BGB Rn. 408; Preis Prin­zi­pi­en des Kündi­gungs­rechts bei Ar­beits­verhält­nis­sen S. 366; ders. DB 1988, 1444, 1448; Preis/Rein­feld AuR 1989, 361, 370; Müller NZA 2002, 424, 432; MünchArbR-Blo­mey­er 2. Aufl. § 53 Rn. 69 ) gebührt der in­ner­be­trieb­li­chen Klärung nicht ge­ne­rell der Vor­rang. Dies würde dem ver­fas­sungs­recht­li­chen Rah­men und den grund­recht­li­chen Po­si­tio­nen des Ar­beit­neh­mers nicht ge­recht. Es ist viel­mehr im Ein­zel­fall zu be­stim­men, wann dem Ar­beit­neh­mer ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che An­zei­ge oh­ne wei­te­res zu­mut­bar ist und ein Un­ter­las­sen ein pflicht­wid­ri­ges Ver­hal­ten dar­stellt (Gach/Rützel aaO S. 1961; Müller aaO S. 435).


Ei­ne vor­he­ri­ge in­ner­be­trieb­li­che Mel­dung und Klärung ist dem Ar­beit­neh­mer al­ler­dings un­zu­mut­bar, wenn er Kennt­nis von Straf­ta­ten erhält, durch de­ren Nicht­an­zei­ge er sich selbst ei­ner Straf­ver­fol­gung aus­set­zen würde (KR-Et­zel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 427). Ent­spre­chen­des gilt auch bei schwer­wie­gen­den Straf­ta­ten oder vom Ar­beit­ge­ber selbst be­gan­ge­nen Straf­ta­ten. Hier muss re­gelmäßig die Pflicht des Ar­beit­neh­mers zur Rück­sicht­nah­me auf die In­ter­es­sen des Ar­beit­ge­bers zurück­tre­ten. Wei­ter trifft den an­zei­gen­den Ar­beit­neh­mer auch kei­ne Pflicht zur in­ner­be­trieb­li­chen Klärung, wenn Ab­hil­fe be­rech­tig­ter­wei­se nicht zu er­war­ten ist. Den Ar­beit­neh­mer in ei­ner sol­chen Kon­stel­la­ti­on auf die in­ner­be­trieb­li­che Ab­hil­fe zu ver­wei­sen, wäre un­verhält­nismäßig und würde un­zulässi­ger­wei­se in sei­ne Frei­heits­rech­te ein­grei­fen. Hat der Ar­beit­neh­mer den Ar­beit­ge­ber auf die ge­set­zes­wid­ri­ge Pra­xis im Un­ter­neh­men hin­ge-


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wie­sen, sorgt die­ser je­doch nicht für Ab­hil­fe, be­steht auch kei­ne wei­te­re ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht mehr (Preis DB 1988, 1444, 1448; Preis/Rein­feld AuR 1989, 361, 370; Er­man-Ha­nau BGB 10. Aufl. § 611 Rn. 510; MünchArbR-Bloy­mey­er 2. Aufl. § 53 Rn. 70).


Et­was an­de­res wird hin­ge­gen dann gel­ten, wenn nicht der Ar­beit­ge­ber oder sein ge­setz­li­cher Ver­tre­ter, son­dern ein Mit­ar­bei­ter sei­ne Pflich­ten ver­letzt oder straf­bar han­delt. Hier er­scheint es eher zu­mut­bar, vom Ar­beit­neh­mer - auch wenn ein Vor­ge­setz­ter be­trof­fen ist - vor ei­ner An­zei­gen­er­stat­tung ei­nen Hin­weis an den Ar­beit­ge­ber zu ver­lan­gen. Dies gilt ins­be­son­de­re dann, wenn es sich um Pflicht­wid­rig­kei­ten han­delt, die - auch - den Ar­beit­ge­ber selbst schädi­gen.


4. In An­wen­dung die­ses Maßstabs ver­let­zen die Ausführun­gen des Lan­des­ar­beits­ge­richts § 1 Abs. 2 KSchG. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt hat die Prüfung un­ter­las­sen, ob nicht auch bei Ver­nei­nung ei­ner wis­sent­lich fal­schen oder leicht­fer­ti­gen An­zei­ge des Klägers die­ser aus an­de­ren Gründen sei­ne ver­trag­li­chen Pflich­ten in ei­nem kündi­gungs­recht­lich re­le­van­ten Aus­maß ver­letzt hat. Die­se Prüfung wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt nach­zu­ho­len ha­ben. Da­zu be­darf es je­doch noch wei­te­rer tatsäch­li­cher Fest­stel­lun­gen.

a) Das Lan­des­ar­beits­ge­richt wird näher auf­zuklären ha­ben, wel­che Mo­ti­va­ti­on des Klägers der An­zei­gen­er­stat­tung zu­grun­de lag. Der Be­klag­te hat vor­ge­tra­gen, der Kläger ha­be die an­ony­me An­zei­ge al­lein des­halb er­stat­tet, um R. aus sei­ner Stel­lung als Vor­ge­setz­ten zu ent­fer­nen. Im Hin­blick auf den zeit­li­chen Zu­sam­men­hang zwi­schen der Aus­ein­an­der­set­zung des Klägers mit R. über des­sen Dienst­pläne und der Er­stat­tung der Straf­an­zei­ge be­steht An­lass, die­sem Vor­trag wei­ter nach­zu­ge­hen und dem Kläger Ge­le­gen­heit zur Stel­lung­nah­me zu ge­ben. Bis­her hat er le­dig­lich aus­geführt, es ha­be seit 1999 ein persönli­cher Rei­fe­pro­zess ein­ge­setzt.

b) Das Lan­des­ar­beits­ge­richt wird darüber hin­aus prüfen müssen, ob der Kläger nicht sei­ne ver­trag­li­che Rück­sicht­nah­me­pflicht da­durch ver­letzt hat, dass er vor Er­stat­tung der An­zei­ge sich nicht an die Zen­tra­le des Be­klag­ten in F. oder an die kündi­gungs­be­rech­tig­ten Vor­ge­setz­ten des R., S. und W. ge­wandt hat. Dies gilt um­so mehr, als auch der Be­klag­te an der - in­ner­be­trieb­li­chen - Aufklärung ei­ner ge­gen sein Vermögen ge­rich­te­ten Hand­lung ei­nes an­de­ren Mit­ar­bei­ters - so­gar mit Vor­ge­setz­ten­funk­ti­on - ein vi­ta­les In­ter­es­se hat, was sich bei­spiels­wei­se in der Schaf­fung ei­nes be­trieb­li­chen Con­trol­lings zei­gen könn­te und auch für den Kläger of­fen­sicht­lich ist. Der Be-
 


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klag­te als Sub­ven­ti­ons­empfänger muss über sol­che - be­haup­te­ten - Un­re­gelmäßig­kei­ten von Mit­ar­bei­tern durch sei­ne Beschäftig­ten in­for­miert wer­den. Ob ein sol­cher Hin-weis ggf. er­folg­los und da­mit ob­so­let ge­we­sen wäre, bei­spiels­wei­se weil die Zen­tra­le des Be­klag­ten oder die kündi­gungs­be­rech­tig­ten Mit­ar­bei­ter von den - be­haup­te­ten - Vor­komm­nis­sen Kennt­nis hat­ten und sie dul­de­ten, wird das Be­ru­fungs­ge­richt zu klären ha­ben. Der Hin­weis des Klägers, R. ha­be ihm mit­ge­teilt, das Vor­ge­hen sei mit F. ab­ge­spro­chen, recht­fer­tigt al­lein ein un­mit­tel­ba­res Ein­schal­ten der Straf­ver­fol­gungs­behörden oh­ne Ver­such ei­ner in­ner­be­trieb­li­chen Klärung noch nicht; ob ei­ne ent­spre­chen­de Ab­spra­che mit der Zen­tra­le be­stand, was in der Tat für die Be­ur­tei­lung von Be­deu­tung wäre, wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt auf­zuklären ha­ben. Das Lan­des­ar­beits­ge­richt wird aber auch zu berück­sich­ti­gen ha­ben, dass sich der Kläger nach sei­nem Vor­trag be­reits 1997 an R. ge­wandt und das aus sei­ner Sicht rechts­wid­ri­ge Ver­hal­ten da­nach über länge­re Zeit hin­ge­nom­men hat, oh­ne die Not­wen­dig­keit zu ei­nem so­for­ti­gen Vor­ge­hen zu er­ken­nen. So­weit er aus­geführt hat, R. ha­be ihn hart an­ge­gan­gen, als er mit­ge­teilt ha­be, er sei nicht mehr be­reit, sich straf­bar zu ma­chen, fehlt es bis­her an jeg­li­cher Erläute­rung, was kon­kret vor­ge­fal­len sein soll.


Auch die zeit­li­chen Abläufe könn­ten für ei­ne bloße Schädi­gungs­ab­sicht des Klägers spre­chen. Fer­ner wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt die in­halt­li­che Be­rech­ti­gung der An­zei­ge ge­gen R. zu prüfen und zu be­wer­ten ha­ben. In die­sem Zu­sam­men­hang bleibt zu be­ach­ten, dass der Be­klag­te bis­her nicht vor­ge­tra­gen hat, wie die Se­mi­na­re in K. ab­ge­rech­net wur­den und ob die Zen­tra­le in F. von der - rechts­wid­ri­gen - Ab­rech­nungs­pra­xis in K. Kennt­nis hat­te. Vor dem Hin­ter­grund der Schil­de­rung der un­zu­tref­fen­den Ab­rech­nungs­pra­xis durch den Kläger (et­wa im Hin­blick auf die Ab­rech­nung von Se­mi­na­ren während des Um­baus des Ju­gend­zen­trums in K.), wird sich der Be­klag­te auch nicht auf den pau­scha­len Hin­weis be­schränken können, die Vorwürfe sei­en in ih­rer Ge­samt­heit un­be­rech­tigt. Dies er­gibt sich auch nicht zwin­gend aus der Ein­stel­lung des Straf­ver­fah­rens.

Sch­ließlich wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt auch zu berück­sich­ti­gen ha­ben, dass der Kläger ei­ne Haus­durch­su­chung in der Ein­rich­tung des Be­klag­ten emp­foh­len hat.


III. Die Ent­schei­dung des Lan­des­ar­beits­ge­richts stellt sich auch nicht aus an­de­ren Gründen als rich­tig dar (§ 563 ZPO aF). Ob die Kündi­gung we­gen feh­len­der Vor­la­ge ei­ner Voll­machts­ur­kun­de un­wirk­sam (§ 174 Satz 1 BGB) ist, kann auf Grund der bis­he­ri­gen Fest­stel­lun­gen der Vor­in­stan­zen nicht ab­sch­ließend be­ur­teilt wer­den..

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1. Es ist schon nicht fest­stell­bar, ob der Kläger die Kündi­gung des Be­klag­ten we­gen der Nicht­vor­la­ge ei­ner Voll­machts­ur­kun­de über­haupt un­verzüglich zurück­ge­wie­sen hat, weil der Zeit­punkt des Zu­gangs des Schrei­bens vom 8. Au­gust 2000, in dem die Zurück­wei­sung erklärt wor­den ist, nicht fest­ge­stellt wor­den ist.


2. Ob die Zurück­wei­sung ggf. aus­ge­schlos­sen ist, weil der Be­klag­te den Kläger von der Be­vollmäch­ti­gung von W. aus­rei­chend in Kennt­nis ge­setzt hat­te (§ 174 Satz 2 BGB), be­darf noch wei­te­rer tatsäch­li­cher Fest­stel­lun­gen.

a) Der Kündi­gungs­empfänger soll nach § 174 BGB nur dann ei­ne Kündi­gungs­erklärung wirk­sam zurück­wei­sen können, wenn er kei­ne Ge­wiss­heit hat, ob der Erklären­de wirk­lich be­vollmäch­tigt ist und der Ver­tre­te­ne die Erklärung ge­gen sich gel­ten las­sen muss (BAG 22. Ja­nu­ar 1998 - 2 AZR 267/97 - AP BGB § 174 Nr. 13 = EzA BGB § 174 Nr. 13). Ei­ne Zurück­wei­sung ist nach § 174 Satz 2 BGB aus­ge­schlos­sen, wenn der Voll­macht­ge­ber den an­de­ren von der Be­vollmäch­ti­gung in Kennt­nis ge­setzt hat­te. Ei­ne sol­che Un­ge­wiss­heit kann bei Aus­spruch ei­ner Ar­beit­ge­berkündi­gung je­doch nicht be­ste­hen, wenn der Ar­beit­ge­ber die Ar­beit­neh­mer all­ge­mein darüber in Kennt­nis ge­setzt hat, ein be­stimm­ter Mit­ar­bei­ter sei zu der­ar­ti­gen Erklärun­gen wie ei­ner Kündi­gung be­vollmäch­tigt. Dies kann auch da­durch ge­sche­hen, dass der be­tref­fen­de Mit­ar­bei­ter in ei­ne Stel­lung be­ru­fen wird, mit der das Kündi­gungs­recht re­gelmäßig ver­bun­den ist, bei­spiels­wei­se als Lei­ter der Per­so­nal­ab­tei­lung oder Ge­ne­ral­be­vollmäch­tig­ter des Be­triebs (BAG 18. Mai 1994 - 2 AZR 920/93 - BA­GE 77, 13, 22; 7. No­vem­ber 2002 - 2 AZR 493/01 - AP BGB § 620 Kündi­gungs­erklärung Nr. 18 = EzA BGB § 174 Nr. 1). Un­abhängig von der ver­wen­de­ten Be­zeich­nung ist auf der Grund­la­ge der Ein­zel­fal­l­umstände fest­zu­stel­len, ob für ei­nen ob­jek­ti­ven Be­trach­ter mit ei­ner der­ar­ti­gen Stel­lung ei­ne Kündi­gungs­be­fug­nis re­gelmäßig ver­bun­den zu sein pflegt (BAG 7. No­vem­ber 2002 aaO).

b) Ob der die Kündi­gung un­ter­zeich­nen­de W. als stell­ver­tre­ten­der Re­gio­nal­geschäftsführer der Re­gi­on West be­reits ei­ne sol­che Stel­lung in­ne­hat­te, die übli­cher­wei­se mit dem Kündi­gungs­recht ver­bun­den ist, ist von den Vor­in­stan­zen nicht hin­rei­chend fest­ge­stellt wor­den.


c) Sch­ließlich wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt wei­ter aufklären müssen, ob ggf. der Be­klag­te durch den Aus­hang vom 9. Mai 2000 am Schwar­zen Brett der K. Ein­rich­tung den Kläger hin­rei­chend von der Be­vollmäch­ti­gung W. zur Kündi­gung in Kennt­nis ge­setzt hat­te. Da­bei kann ein In-Kennt­nis-Set­zen auch kon­klu­dent durch die Umstände
 


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er­fol­gen (So­er­gel/Lep­ti­en BGB § 174 Rn. 4). Es reicht grundsätz­lich aber al­lein der all­ge­mei­ne Hin­weis auf ei­nen -zeit­lich be­fris­te­ten - Aus­hang am Schwar­zen Brett hierfür nicht aus (vgl. da­zu LAG Köln 3. Mai 2002 - 4 Sa 1285/01 - NZA-RR 2003, 194).

IV. Soll­te das Lan­des­ar­beits­ge­richt zu dem Er­geb­nis kom­men, es lie­ge kein ver­hal­tens­be­ding­ter Kündi­gungs­grund vor, so wird es ab­sch­ließend über den hilfs­wei­se ge­stell­ten Auflösungs­an­trag ent­schei­den müssen. Mit der bis­he­ri­gen Be­gründung lässt sich die Ab­wei­sung al­lein nicht aus­rei­chend be­gründen. Ob Gründe vor­lie­gen, die ei­ne den Be­triebs­zwe­cken dien­li­che wei­te­re Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen den Par­tei­en nicht er­war­ten las­sen, wird das Lan­des­ar­beits­ge­richt noch näher prüfen müssen. Da­bei wird es so­wohl der Emp­feh­lung ei­ner Haus­durch­su­chung beim Ar­beit­ge­ber als auch dem feh­len­den Ver­such ei­ner in­ner­be­trieb­li­chen Klärung als Aus­druck ei­nes er­heb­li­chen Miss­trau­ens ge­genüber sei­nem Ver­trags­part­ner ei­ner­seits wie auch an­de­rer­seits der Tat­sa­che, dass der un­mit­tel­ba­re Vor­ge­setz­te des Klägers nicht mehr im Un­ter­neh­men ist (Se­nat 7. März 2002 - 2 AZR 158/01 - AP KSchG 1969 § 9 Nr. 42 = EzA KSchG § 9 nF Nr. 45), Be­ach­tung schen­ken müssen.


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