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ARBEITSRECHT AKTUELL // 18/214

Krank­heits­be­ding­te Kün­di­gung als Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung

Die Kün­di­gung we­gen häu­fi­ger Kurz­er­kran­kung kann dis­kri­mi­nie­rend sein, wenn die Er­kran­kun­gen durch ei­ne Be­hin­de­rung des ge­kün­dig­ten Ar­beit­neh­mers be­dingt sind: Eu­ro­päi­scher Ge­richts­hof, Ur­teil vom 18.01.2018, C-270/16 (Ruiz Co­ne­je­ro)
Diskriminierungsverbote - Behinderung, Schutz vor Diskriminierung von Menschen mit Behinderung

30.08.2018. Ar­beit­neh­mer ha­ben wäh­rend ei­ner krank­heits­be­ding­ten Ar­beits­un­fä­hig­keit An­spruch auf Ent­gelt­fort­zah­lung bis zur Dau­er von sechs Wo­chen (§ 3 Abs.1 Satz 1 Ent­gelt­fort­zah­lungs­ge­setz - EFZG).

Bei all­zu häu­fi­gen krank­heits­be­ding­ten Fehl­zei­ten ist aber der Be­stand des Ar­beits­ver­hält­nis­ses ge­fähr­det, denn Ar­beit­ge­ber kön­nen dann mög­li­cher­wei­se aus krank­heits­be­ding­ten Grün­den kün­di­gen.

Hier stellt sich die Fra­ge der Gleich­be­hand­lung von be­hin­der­ten mit nicht-be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern. Denn be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ha­ben oft in­fol­ge ih­rer Be­hin­de­rung ein hö­he­res Ri­si­ko, aus krank­heits­be­ding­ten Grün­den nicht ar­bei­ten zu kön­nen. Da­mit er­höht sich ihr Ri­si­ko, aus krank­heits­be­ding­ten Grün­den ent­las­sen zu wer­den.

Ob ei­ne sol­che Be­nach­tei­li­gung be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer mit dem Eu­ro­pa­recht ver­ein­bar ist, hat vor kur­zem der eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof (EuGH) ent­schie­den: EuGH, Ur­teil vom 18.01.2018, C-270/16 (Ruiz Co­ne­je­ro).

Wel­che rechtmäßigen so­zi­al­po­li­ti­schen Zie­le können es recht­fer­ti­gen, be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer durch krank­heits­be­ding­te Ent­las­sun­gen mit­tel­bar schlech­ter zu stel­len als nicht-be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer?

In sei­nem Ur­teil vom 11.07.2006 (C-13/05 - Chacón Na­vas) hat der EuGH klar­ge­stellt, dass ei­ne Krank­heit als sol­che nicht zur Fol­ge hat, dass der er­krank­te Ar­beit­neh­mer durch die Richt­li­nie 2000/78 geschützt ist. Denn die­se Richt­li­nie, die sog. Gleich­be­hand­lungs-Rah­men­richt­li­nie, sieht ei­nen Dis­kri­mi­nie­rungs­schutz bei körper­li­chen Be­ein­träch­ti­gun­gen im Ar­beits­recht nur für älte­re und für be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer vor. Be­hin­de­run­gen und Krank­hei­ten sind laut EuGH aber ver­schie­de­ne Sach­ver­hal­te bzw. ver­schie­de­ne Be­grif­fe.

Soll­te ein Ar­beit­ge­ber al­ler­dings, so der Ge­richts­hof in die­sem Ur­teil, ei­nen Ar­beit­neh­mer we­gen be­hin­de­rungs­be­ding­ter Pro­ble­me bei der Er­le­di­gung der Ar­beits­auf­ga­ben ent­las­sen, wäre dies ei­ne ver­bo­te­ne Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung, falls der Ar­beit­ge­ber kei­ne Vor­keh­run­gen zur In­te­gra­ti­on be­hin­der­ter Men­schen im Sin­ne von Art.5 Richt­li­nie 2000/78 ge­trof­fen hat.

In ei­nem wei­te­ren Ur­teil zum The­ma Ent­las­sung und Be­hin­de­rung, dem Ur­teil vom 11.04.2013 (C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark), hat der EuGH ge­nau­er erläutert, was un­ter ei­ner „Be­hin­de­rung“ im Sin­ne der Richt­li­nie 2000/78 zu ver­ste­hen ist (wir be­rich­te­ten über das Gut­ach­ten der Ge­ne­ral­anwältin in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 13/023 Krank­heits­be­ding­te Kündi­gung bei Be­hin­de­rung). Da­nach ist ei­ne Be­hin­de­rung ei­ne

„Ein­schränkung (…), die ins­be­son­de­re auf phy­si­sche, geis­ti­ge oder psy­chi­sche Be­ein­träch­ti­gun­gen zurück­zuführen ist, die in Wech­sel­wir­kung mit ver­schie­de­nen Bar­rie­ren den Be­tref­fen­den an der vol­len und wirk­sa­men Teil­ha­be am Be­rufs­le­ben, gleich­be­rech­tigt mit den an­de­ren Ar­beit­neh­mern, hin­dern können“; die­se Be­ein­träch­ti­gun­gen müssen „lang­fris­tig“ sein. (Ur­teil vom 11.04.2013, C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark, Rn.38 und 39)

Da­bei spielt es kei­ne Rol­le, wor­auf ei­ne sol­che Be­hin­de­rung bzw. „lang­fris­ti­ge Be­ein­träch­ti­gung“ zurück­zuführen ist, d.h. ob die Be­hin­de­rung

Wei­ter­hin hat der Ge­richts­hof in die­sem Ur­teil ent­schie­den, dass die Ent­las­sung ei­nes be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mers we­gen länge­rer krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten kei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung ist. Das gilt je­den­falls dann, wenn ei­ne na­tio­na­le ge­setz­li­che Vor­schrift, die dem Ar­beit­ge­ber die krank­heits­be­ding­te Kündi­gung nach länge­ren Fehl­zei­ten er­laubt, nicht zwi­schen be­hin­der­ten und nicht-be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mern un­ter­schei­det. Denn Krank­heit und Be­hin­de­rung sind wie erwähnt ver­schie­de­ne Din­ge, und länger er­krankt sein können auch nicht-be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer (Ur­teil vom 11.04.2013, C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark, Rn.72).

Al­ler­dings kann ei­ne krank­heits­be­ding­te Ent­las­sung ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer sein, weil be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer ein höhe­res Ri­si­ko tra­gen, in­fol­ge ih­rer Be­hin­de­rung häufig zu er­kran­ken (Ur­teil vom 11.04.2013, C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark, Rn.76). Ei­ne mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung ist we­ni­ger schwer­wie­gend als ei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung und kann da­her gemäß Art.2 Abs.3 Buch­sta­be b) (i) Richt­li­nie 2000/78 durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt sein, wenn die Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich sind.

In sei­nem Ur­teil vom 11.04.2013 (C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark, Rn.87, 88) ging der EuGH von ei­ner sol­chen Recht­fer­ti­gung der in die­sem Fall um­strit­te­nen Ent­las­sun­gen zwei­er Ar­beit­neh­me­rin­nen aus (wo­bei er die letzt­ver­bind­li­che Ent­schei­dung darüber dem däni­schen Ge­richt über­ließ). Hier ging es um ei­ne et­was un­gewöhn­li­che däni­sche Ge­set­zes­vor­schrift, der zu­fol­ge lan­ge er­krank­te Ar­beit­neh­mer mit kur­zer Frist (von ei­nem Mo­nat) gekündigt wer­den können, al­ler­dings nur dann, wenn der Ar­beit­ge­ber zu­vor zwölf Mo­na­te lang Lohn­fort­zah­lung ge­leis­tet hat­te. Mit die­ser Re­ge­lung soll ei­nen An­reiz für Ar­beit­ge­ber ge­schaf­fen wer­den, lang­fris­tig er­krank­te (und mögli­cher­wei­se be­hin­der­te) Ar­beit­neh­mer nicht vor­schnell zu ent­las­sen. Denn nach zwölf­mo­na­ti­ger Ent­gelt­fort­zah­lung kann der Ar­beit­ge­ber ja schnell die Not­brem­se zie­hen. Vor die­sem Hin­ter­grund hat­te der EuGH in die­sem Fall kei­nen An­lass, sich ge­nau­er zu den Recht­fer­ti­gungs­gründen zu äußern, die ei­ne be­hin­de­rungs­be­ding­te Be­nach­tei­li­gung durch krank­heits­be­ding­te Kündi­gun­gen recht­fer­ti­gen könn­ten.

Sch­ließlich hat der EuGH in sei­nem Ur­teil vom 18.12.2014 (C-354/13 - Kaltoft) ent­schie­den, dass ex­tre­me Form von Fett­lei­big­keit bzw. Adi­po­si­tas ei­ne Be­hin­de­rung im Sin­ne der Richt­li­nie 2000/78 dar­stel­len können.

In sei­nem ak­tu­el­len Ur­teil vom 18.01.2018 (C-270/16 - Ruiz Co­ne­je­ro) muss­te der EuGH nun­mehr zu der Fra­ge Stel­lung neh­men, un­ter wel­chen Umständen die krank­heits­be­ding­te Kündi­gung ei­nes be­hin­der­ten Ar­beit­neh­mers, falls sie ei­ne mit­tel­ba­re be­hin­de­rungs­be­ding­te Schlech­ter­stel­lung des gekündig­ten Ar­beit­neh­mers ist, durch rechtmäßige Zie­le im Sin­ne von Art.2 Abs.3 Buch­sta­be b) (i) Richt­li­nie 2000/78 ge­recht­fer­tigt sein kann.

Der spa­ni­sche Streit­fall: We­gen Adi­po­si­tas und Rücken­pro­ble­men be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer wird krank­heits­be­dingt nach häufi­gen Fehl­zei­ten gekündigt

Ein seit 1993 beschäftig­ter Gebäuderei­ni­ger, Herr Ruiz Co­ne­je­ro, war stark über­ge­wich­tig, so dass im Sep­tem­ber 2014 behörd­lich fest­ge­stellt wur­de, dass ei­ne Be­hin­de­rung ent­spre­chend den spa­ni­schen Re­ge­lun­gen vor­lag, und zwar im Um­fang von 37 Pro­zent.

Von März 2014 bis April 2015 war Herr Ruiz Co­ne­je­ro fünf­mal, meist für kürze­re Zei­ten, krank­heits­be­dingt ar­beits­unfähig, ins­ge­samt an 76 Ka­len­der­ta­gen, wo­von 35 Ta­ge auf die Mo­na­te März (12 Ta­ge) und April (23 Ta­ge) 2015 ent­fie­len. Laut ärzt­li­chen Fest­stel­lun­gen wa­ren die­se ge­sund­heit­li­chen Pro­ble­me durch ei­ne Ge­len­ker­kran­kung und ei­ne Po­ly­ar­thro­se ver­ur­sacht, die wie­der­um durch die Adi­po­si­tas ver­schlim­mert wur­den und ih­ren Ur­sprung in den Krank­hei­ten hat­ten, die zur An­er­ken­nung der Be­hin­de­rung von Herrn Ruiz Co­ne­je­ro geführt hat­ten.

Der Ar­beit­ge­ber sprach dar­auf­hin gemäß Art.52 Buch­sta­be b) des spa­ni­schen Ar­beit­neh­mer­sta­tuts ei­ne krank­heits­be­ding­te Kündi­gung aus. Nach die­ser ge­setz­li­chen Vor­schrift ist ei­ne Kündi­gung zulässig, wenn der Ar­beit­neh­mer fol­gen­de (u.a. krank­heits­be­ding­te) Fehl­zei­ten auf­weist:

  • 20 Pro­zent der Ar­beits­ta­ge in zwei auf­ein­an­der­fol­gen­den Mo­na­ten (was hier im März und April 2015 der Fall war) und ins­ge­samt fünf Pro­zent in den zwölf Mo­na­ten vor der Kündi­gung (was hier eben­falls zu­traf), oder
  • 25 Pro­zent in vier nicht auf­ein­an­der­fol­gen­den Mo­na­ten in­ner­halb von zwölf Mo­na­ten.

Die ge­setz­lich vor­ge­se­he­nen Aus­nah­men von die­ser Kündi­gungsmöglich­keit tra­fen auf Herrn Ruiz Co­ne­je­ro nicht zu. Zu die­sen Aus­nah­men gehören u.a. Schwan­ger­schaft und Mut­ter­schutz, die Teil­nah­me an ei­nem rechtmäßigen Streik, länge­re krank­heits­be­ding­te und von der Ge­sund­heits­behörde ge­neh­mig­te Ab­we­sen­heits­zei­ten so­wie Fehl­zei­ten we­gen der ärzt­li­chen Be­hand­lung von Krebs oder ei­ner schwe­ren Er­kran­kung.

Herr Ruiz Co­ne­je­ro klag­te ge­gen die Kündi­gung und ar­gu­men­tier­te, dass die Fehl­zei­ten durch sei­ne Be­hin­de­rung be­dingt sei­en. Das mit dem Fall be­fass­te So­zi­al­ge­richt Nr. 1 von Cu­en­ca setz­te das Ver­fah­ren aus und frag­te den EuGH, ob ge­setz­li­che Kündi­gungs­er­laub­nis­se wie Art.52 Buch­sta­be b) des spa­ni­schen Ar­beit­neh­mer­sta­tuts auf be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer an­ge­wen­det wer­den könn­ten oder ob ei­ne sol­che An­wen­dung ei­ne un­zulässi­ge Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung im Sin­ne der Richt­li­nie 2000/78 wäre.

EuGH: Die Kündi­gung we­gen häufi­ger krank­heits­be­ding­ter Fehl­zei­ten kann ei­ne mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung sein, wenn die Er­kran­kun­gen auf ei­ne Be­hin­de­rung zurück­zuführen sind

Der Ge­richts­hof stellt in sei­nem Ur­teil zunächst im An­schluss an sei­ne bis­he­ri­ge Recht­spre­chung klar, dass ei­ne er­heb­li­che Adi­po­si­tas zwar ei­ne Be­hin­de­rung im Sin­ne der o.g. eu­ro­pa­recht­li­chen De­fi­ni­ti­on von „Be­hin­de­rung“ ist, dass dies aber im Streit­fall noch nicht aus der An­er­ken­nung ei­nes Be­hin­de­rungs­grads von 37 Pro­zent bei Herrn Ruiz Co­ne­je­ro nach spa­ni­schem Recht folgt (Ur­teil, Rn.29 und 32).

Wei­ter­hin geht der EuGH da­von aus, dass die hier strei­ti­ge Kündi­gungs­er­laub­nis in Art.52 Buch­sta­be b) des spa­ni­schen Ar­beit­neh­mer­sta­tuts kei­ne un­mit­tel­ba­re Dis­kri­mi­nie­rung we­gen ei­ner Be­hin­de­rung be­inhal­tet, denn die­se Re­ge­lung ist auf be­hin­der­te wie nicht-be­hin­der­te Ar­beit­neh­mer in glei­cher Wei­se an­zu­wen­den (Ur­teil, Rn.37).

Al­ler­dings kann die­se Vor­schrift, so der Ge­richts­hof un­ter Ver­weis auf sein Ur­teil vom 11.04.2013 (C-335/11 und C-337/11 - HK Dan­mark, Rn.76), zu ei­ner mit­tel­ba­ren Dis­kri­mi­nie­rung be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer führen. Da­zu heißt es in dem Ur­teil (Rn.39):

„Hier­zu ist fest­zu­stel­len, dass ein Ar­beit­neh­mer mit Be­hin­de­rung grundsätz­lich ei­nem höhe­ren Ri­si­ko als ein Ar­beit­neh­mer oh­ne Be­hin­de­rung aus­ge­setzt ist, dass auf ihn Art. 52 Buchst. d des Ar­beit­neh­mer­sta­tuts an­ge­wandt wird. Im Ver­gleich zu ei­nem Ar­beit­neh­mer oh­ne Be­hin­de­rung trägt ein Ar­beit­neh­mer mit Be­hin­de­rung nämlich ein zusätz­li­ches Ri­si­ko, we­gen ei­ner mit sei­ner Be­hin­de­rung zu­sam­menhängen­den Krank­heit ab­we­send zu sein. (…) Die in die­ser Be­stim­mung auf­ge­stell­te Re­gel kann da­her Ar­beit­neh­mer mit Be­hin­de­rung be­nach­tei­li­gen und so zu ei­ner mit­tel­ba­ren Un­gleich­be­hand­lung we­gen der Be­hin­de­rung im Sin­ne von Art.2 Abs.2 Buchst. b der Richt­li­nie 2000/78 führen (...).“

Da­her stellt sich die Fra­ge, ob ei­ne sol­che mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer gemäß Art.2 Abs.3 Buch­sta­be b) (i) Richt­li­nie 2000/78 durch ein rechtmäßiges Ziel sach­lich ge­recht­fer­tigt ist und ob die Mit­tel zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen und er­for­der­lich sind.

Hier ak­zep­tiert der Ge­richts­hof im Aus­gangs­punkt, dass die frag­li­che spa­ni­sche Kündi­gungs­er­laub­nis dem „Kampf ge­gen Ab­sen­tis­mus am Ar­beits­platz“ dient, d.h. ein sol­ches Ziel ist als beschäfti­gungs­po­li­ti­sche Maßnah­me im Prin­zip sach­lich ge­recht­fer­tigt im Sin­ne von Art.2 Abs.3 Buch­sta­be b) (i) Richt­li­nie 2000/78 (Ur­teil, Rn.44).

Da­mit ist al­ler­dings noch nicht ge­sagt, dass die spa­ni­sche Kündi­gungs­er­laub­nis auch zur Er­rei­chung die­ses Ziels an­ge­mes­sen ist und nicht über das zur Er­rei­chung des Zie­les Er­for­der­li­che hin­aus­geht. Die­se Prüfung überträgt der EuGH zwar dem spa­ni­schen Streit­ge­richt, gibt ihm da­bei aber ei­ni­ge Hin­wei­se mit auf den Weg:

Er­for­der­lich und an­ge­mes­sen ist Art.52 Buch­sta­be b) des spa­ni­schen Ar­beit­neh­mer­sta­tuts nur, wenn die hier fest­ge­leg­ten Kündi­gungs­vor­aus­set­zun­gen tatsächlich ge­eig­net sind, „Ab­sen­tis­mus am Ar­beits­platz zu bekämp­fen, oh­ne rein punk­tu­el­le und spo­ra­di­sche Fehl­zei­ten zu er­fas­sen“ (Ur­teil, Rn.46). Aus­drück­lich erwähnt der Ge­richts­hof hier die Fra­ge, ob Art.52 Buch­sta­be b) Ar­beit­neh­mer­sta­tut „Ar­beit­ge­bern ei­nen An­reiz zur Ein­stel­lung und Wei­ter­beschäfti­gung bie­tet, in­dem er das Recht vor­sieht, Ar­beit­neh­mer zu ent­las­sen, die krank­heits­be­dingt wie­der­holt ei­ne Rei­he von Ta­gen ab­we­send sind“ (Ur­teil, Rn.48). Sch­ließlich sind die Krank­heits­kos­ten auf Ar­beit­ge­ber­sei­te so­wie die be­son­de­ren Schwie­rig­kei­ten be­hin­der­ter Ar­beit­neh­mer am Ar­beits­markt zu berück­sich­ti­gen (Ur­teil, Rn.47 und 51).

Fa­zit: Über­tra­gen auf das deut­sche Kündi­gungs­schutz­recht könn­te man vor dem Hin­ter­grund der ak­tu­el­len EuGH-Ent­schei­dung fra­gen, ob Ar­beit­neh­mer, die un­ter das Kündi­gungs­schutz­ge­setz (KSchG) fal­len, weil sie länger als sechs Mo­na­te (§ 1 Abs.1 KSchG) in ei­nem Be­trieb mit mehr als 10,25 Ar­beit­neh­mern ar­bei­ten (§ 23 Abs.1 KSchG), bei häufi­gen krank­heits­be­ding­ten Fehl­zei­ten in aus­rei­chen­der Wei­se vor krank­heits­be­ding­ten Kündi­gun­gen geschützt sind.

Ei­ne sol­che Kündi­gung kommt nach der Recht­spre­chung in Be­tracht, wenn Ar­beit­neh­mer über drei Jah­re hin­weg pro Jahr durch­schnitt­lich (deut­lich) länger als sechs Wo­chen ar­beits­unfähig er­krankt sind. Ei­ne sol­che Krank­heits­anfällig­keit könn­te man als „Be­hin­de­rung“ im Sin­ne der EuGH-Recht­spre­chung an­se­hen, was zur Fol­ge hätte, dass der Kündi­gungs­schutz mögli­cher­wei­se verstärkt wer­den müss­te.

Da­ge­gen spricht aber zum ei­nen, dass man da­mit (ent­ge­gen dem EuGH) die Be­grif­fe „Krank­heit“ und „Be­hin­de­rung“ gleich­set­zen würde. Und zum an­de­ren ver­pflich­tet § 167 Abs.2 Satz 1 Neun­tes Buch So­zi­al­ge­setz­buch (SGB IX) den Ar­beit­ge­ber da­zu, bei mehr als sechswöchi­ger Ar­beits­unfähig­keit pro Jahr ein be­trieb­li­ches Ein­glie­de­rungs­ma­nage­ment (bEM) durch­zuführen, und zwar un­abhängig vom Vor­lie­gen ei­ner Be­hin­de­rung, d.h. auch im Fal­le ei­ner nur mögli­chen Be­hin­de­rung. Das bEM dient der Su­che nach Möglich­kei­ten, wie die Ar­beits­unfähig­keit über­wun­den wer­den, wie ei­ner er­neu­ten Ar­beits­unfähig­keit vor­ge­beugt wer­den und wie da­mit der Ar­beits­platz er­hal­ten wer­den kann.

Die­ser be­son­de­re Schutz be­hin­der­ter oder von ei­ner Be­hin­de­rung be­droh­ter Ar­beit­neh­mer ergänzt die ho­hen Hürden, die Ar­beit­ge­ber bei ei­ner krank­heits­be­ding­ten Kündi­gung we­gen häufi­ger Kurz­er­kran­kun­gen über­win­den müssen. Ins­be­son­de­re muss die Kündi­gung das letz­te Mit­tel sein und es ist ei­ne um­fas­sen­de In­ter­es­sen­abwägung er­for­der­lich. Vor die­sem Hin­ter­grund ist das deut­sche Kündi­gungs­schutz­recht mit dem hier be­spro­che­nen EuGH-Ur­teil ver­ein­bar, wie auch das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) vor kur­zem für den Fall ei­ner außer­or­dent­li­chen krank­heits­be­ding­ten Kündi­gung mit Aus­lauf­frist fest­ge­stellt hat (BAG, Ur­teil vom 25.04.2018, 2 AZR 6/18, S.14).


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Letzte Überarbeitung: 16. November 2020

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