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ARBEITSRECHT AKTUELL // 12/274

Ur­laub bei Dau­er­krank­heit ver­fällt nach 15 Mo­na­ten

Auch oh­ne ge­setz­li­che oder ta­rif­li­che Re­ge­lung ver­fällt der Ur­laub zum 31. März des über­nächs­ten Jah­res: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Ur­teil vom 07.08.2012, 9 AZR 353/10
Abrisskalender Bei lan­ger Krank­heit gibt es kein end­lo­ses An­sam­meln von Ur­laub mehr.

07.08.2012. Im All­ge­mei­nen ver­fällt der ge­setz­li­che Ur­laub er­satz­los, wenn er nicht bis zum Jah­res­en­de ge­nom­men wird. Das gilt aber nach der Recht­spre­chung des Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hofs (EuGH) und des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) nicht für den Ur­laub, den Ar­beit­neh­mer we­gen ei­ner Er­kran­kung nicht neh­men konn­ten.

Al­ler­dings darf das „An­spa­ren“ von Ur­laubs­an­sprü­chen bei lan­ger Er­kran­kung zeit­lich be­grenzt wer­den. Das ent­schied der EuGH En­de 2011 in ei­nem Fall, in dem es um ei­ne ta­rif­ver­trag­li­che Ver­falls­frist von 15 Mo­na­ten (ge­rech­net ab dem En­de des Ur­laubs­jah­res) ging. Ei­ne sol­che zeit­li­che Be­gren­zung des Ur­laubs­schut­zes in Krank­heits­fäl­len hielt der EuGH für eu­ro­pa­recht­lich zu­läs­sig (EuGH, Ur­teil vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS gg. Schul­te).

Wie die­se eu­ro­pa­recht­li­che Be­gren­zung des Schut­zes er­krank­ter Ar­beit­neh­mer in Deutsch­land um­ge­setzt wer­den könn­te, ist seit die­sem Ur­teil um­strit­ten. Denn das Bun­des­ur­laubs­ge­setz (BUrlG) ent­hält ei­ne sol­che Spe­ziel­re­ge­lung für Krank­heits­fäl­le nicht. Trotz­dem hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) in ei­nem Grund­satz­ur­teil vom heu­ti­gen Ta­ge zu­guns­ten der Ar­beit­ge­ber­sei­te ent­schie­den, dass der in Krank­heits­fäl­len "an­ge­spar­te" Ur­laub all­ge­mein, d.h. auch oh­ne ei­ne ta­rif­ver­trag­li­che Re­ge­lung, 15 Mo­na­te nach dem En­de des Ur­laubs­jah­res ver­fällt, d.h. zum 31. März des über­nächs­ten Jah­res: BAG, Ur­teil vom 07.08.2012, 9 AZR 353/10.

Gibt es ei­ne all­ge­mei­ne Gren­ze für das An­sam­meln von Ur­laub bei lan­ger Krank­heit?

Sei­nen Ur­laub muss man im lau­fen­den Ka­len­der­jahr neh­men. Das schreibt § 7 Abs.3 BUrlG vor. Und auch in den ge­setz­lich ge­re­gel­ten Aus­nah­mefällen ei­ner Über­tra­gung des Ur­laubs verfällt der Ur­laub zum 31. März im Fol­ge­jahr, wenn er nicht bis da­hin ge­nom­men wur­de.

Hin­ter die­sen Re­ge­lun­gen steht aber Art.7 der Richt­li­nie 2003/88/EG. Er schreibt für al­le Ar­beit­neh­mer, auch die lan­ge er­krank­ten, ei­nen Min­des­t­ur­laub von vier Wo­chen vor. Die­se Richt­li­nie ver­bie­tet nach Auf­fas­sung des EuGH, dass Ur­laub in­fol­ge ei­ner lan­gen Krank­heit verfällt (EuGH, Ur­teil vom 20.01.2009, C-350/06 - Schultz-Hoff). Das BAG setz­te die­ses EuGH-Ur­teil durch ei­ne Um­in­ter­pre­ta­ti­on von § 7 Abs.3 BUrlG in deut­sches Recht um (BAG, Ur­teil vom 24.03.2009, 9 AZR 983/07).

Seit­dem gilt der 31. März des Fol­ge­jah­res nicht mehr als zeit­li­ches Ra­sier­mes­ser für den Vor­jah­res­ur­laub, den er­krank­te Ar­beit­neh­mer we­gen ih­rer Krank­heit nicht neh­men konn­ten. Und dem­ent­spre­chend sieht es seit­dem so aus, als könn­ten langjährig er­krank­te Ar­beit­neh­mer "end­los" Ur­laub an­sam­meln.

Dann al­ler­dings stell­te der EuGH zu­guns­ten der Ar­beit­ge­ber klar, dass das Eu­ro­pa­recht ein sol­ches un­be­grenz­tes An­sam­meln von Ur­laubs­ansprüchen nicht ver­langt. Da­her kann z.B. ein Ta­rif­ver­trag den Ur­laub 15 Mo­na­ten nach dem En­de des Ur­laubs­jah­res ver­fal­len las­sen (Ur­teil vom 22.11.2011, C-214/10 - KHS gg. Schul­te).

Ei­ni­ge Ge­rich­te und Au­to­ren mei­nen, man könn­te auf der Grund­la­ge des EuGH-Ur­teils in Sa­chen KHS (C-214/10) das BUrlG jetzt noch­mals an­ders „aus­le­gen“, nämlich in dem Sin­ne, dass krank­heits­be­dingt an­ge­sam­mel­ter Ur­laub eben ent­spre­chend der ak­tu­el­len EuGH-Recht­spre­chung 15 Mo­na­te nach Ab­lauf des je­wei­li­gen Ur­laubs­jah­res verfällt. Da­ge­gen spricht al­ler­dings, dass im BUrlG von ei­ner sol­chen 15-Mo­nats­gren­ze für Krank­heitsfälle nichts steht.

Der Streit­fall: Lan­ge er­krank­te Ar­beit­neh­me­rin be­zieht Er­werbs­unfähig­keits­ren­te und möch­te für vier Jah­re und drei Mo­na­te Ur­laubs­ab­gel­tung

Im Streit­fall ging es um ei­ne schwer­be­hin­der­te Ar­beit­neh­me­rin mit ei­nem Grad der Be­hin­de­rung von 50. Sie war vom 01.07.2001 bis zum 31.03.2009 in ei­ner Re­ha­bi­li­ta­ti­ons­kli­nik beschäftigt. Die meis­te Zeit des Beschäfti­gungs­verhält­nis­ses über war sie aber nicht bei der Ar­beit, da sie im Jahr 2004 er­krank­te und ab Mit­te De­zem­ber 2004 ei­ne be­fris­te­te Ren­te we­gen Er­werbs­min­de­rung be­zog. Da­her nahm sie bis zum Aus­schei­den aus dem Ar­beits­verhält­nis am 31.03.2009 ih­re Ar­beit nicht mehr auf.

Da der Ta­rif­ver­trag für den öffent­li­chen Dienst (TVöD) auf das Ar­beits­verhält­nis an­zu­wen­den war, ruh­te das Ar­beits­verhält­nis während des Ren­ten­be­zugs. Außer­dem sieht der TVöD vor, dass während ei­nes sol­chen Ru­hens der Ur­laub (ein­sch­ließlich ei­nes et­wai­gen ta­rif­li­chen Zu­satz­ur­laubs) für je­den Ka­len­der­mo­nat des Ru­hens um ein Zwölf­tel gekürzt wird.

Die Ar­beit­neh­me­rin ver­lang­te für die Jah­re 2005 bis 2009 Ab­gel­tung von ins­ge­samt 149 Ur­laubs­ta­gen, im­mer­hin 18.841,05 EUR brut­to. Das Ar­beits­ge­richt Frei­burg (Ur­teil vom 21.07.2009, 7 Ca 198/09) und das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Ba­den-Würt­tem­berg ga­ben der Kla­ge über­wie­gend statt: Sie ver­ur­teil­ten den Ar­beit­ge­ber zur Ab­gel­tung des ge­setz­li­chen Er­ho­lungs­ur­laubs von 20 Ta­gen pro Jahr und des fünftägi­gen Zu­satz­ur­laubs für schwer­be­hin­der­te Men­schen, d.h. zur Zah­lung ei­ner Ur­laubs­ab­gel­tung von 13.403,70 EUR brut­to (LAG Ba­den-Würt­tem­berg, Ur­teil vom Ur­teil vom 29.04.2010, 11 Sa 64/09).

Das LAG be­gründe­te sei­ne Ent­schei­dung im we­sent­li­chen mit dem Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH. Außer­dem mein­te es, ei­ne all­ge­mei­ne zeit­li­che Be­gren­zung des An­sam­melns von Ur­laub bei lan­ger Krank­heit sei dem BUrlG nicht zu ent­neh­men. Und auch das vom TVöD an­ge­ord­ne­te "Ru­hen" des Ar­beits­verhält­nis­ses in­fol­ge der Be­ren­tung führ­te nach An­sicht des LAG nicht da­zu, dass die Ar­beit­neh­me­rin kei­ne Ur­laubs­ansprüche für die Dau­er ih­rer Er­werbs­unfähig­keit an­sam­meln konn­te. Denn zwi­schen Ar­beits­unfähig­keit und Er­werbs­unfähig­keit be­steht kein großer Un­ter­schied, so dass das Schultz-Hoff-Ur­teil des EuGH auch auf Fälle der Er­werbs­unfähig­keit an­zu­wen­den ist, so das LAG.

BAG: Der Ur­laub lang­zei­tig er­krank­ter Ar­beit­neh­mer verfällt ge­ne­rell 15 Mo­na­te nach dem Ur­laubs­jahr, d.h. zum 31. März des übernächs­ten Jah­res

An die­ser Stel­le mach­te das BAG zwar mit, d.h. es stell­te zu­guns­ten der Ar­beit­neh­me­rin klar, dass das ren­ten­be­ding­te Ru­hen ih­res Ar­beits­verhält­nis­ses kein Hin­de­rungs­grund für das An­sam­meln von Ur­laubs­ansprüchen in den Jah­ren der Krank­heit und/oder Er­werbs­unfähig­keit ist.

Da­von konn­te sich die Kläge­rin aber letzt­lich "nichts kau­fen", denn die zu ih­ren Guns­ten an­ge­sam­mel­ten Ur­laubs­ansprüche gin­gen laut BAG je­weils zum 31. März des übernächs­ten Jah­res un­ter. Kon­kret ver­fie­len die Ur­laubs­ansprüche für 2005 am 31. März 2007, die Ur­laubs­ansprüche für 2006 am 31. März 2008 und die Ur­laubs­ansprüche für 2007 am 31. März 2009. Übrig blie­ben da­her nur die Ur­laubs­ansprüche für 2008 und für das ers­te Quar­tal 2009. Da­her sprach das BAG der Ar­beit­neh­me­rin letzt­lich nur 3.919,95 EUR brut­to zu.

Zur Be­gründung sei­ner zen­tra­len Aus­sa­ge, dass Ur­laub in Krank­heitsfällen ge­ne­rell, d.h. auch oh­ne ent­spre­chen­de ta­rif­li­che Re­ge­lung zum 31. März des übernächs­ten Jah­res verfällt, heißt es in der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mel­dung des BAG:

"Bei langjährig ar­beits­unfähi­gen Ar­beit­neh­mern ist § 7 Abs.3 Satz 3 BUrlG, wo­nach im Fall der Über­tra­gung der Ur­laub in den ers­ten drei Mo­na­ten des fol­gen­den Ka­len­der­jah­res gewährt und ge­nom­men wer­den muss, uni­ons­rechts­kon­form so aus­zu­le­gen, dass der Ur­laubs­an­spruch 15 Mo­na­te nach Ab­lauf des Ur­laubs­jah­res verfällt. Der EuGH hat in der KHS-Ent­schei­dung vom 22. No­vem­ber 2011 sei­ne Recht­spre­chung bezüglich des zeit­lich un­be­grenz­ten An­sam­melns von Ur­laubs­ansprüchen ar­beits­unfähi­ger Ar­beit­neh­mer geändert und den Ver­fall des Ur­laubs 15 Mo­na­te nach Ab­lauf des Ur­laubs­jah­res nicht be­an­stan­det."

Fa­zit: Die Li­nie des BAG ist da­mit klar. Der Ar­beit­neh­mer kann lan­ge Jah­re krank sein und/oder ei­ne Ren­te we­gen Er­werbs­min­de­rung be­zie­hen (so dass sein Ar­beits­verhält­nis "ruht"): Er er­wirbt für je­des Jahr der Krank­heit bzw. des Ren­ten­be­zugs sei­nen vol­len ge­setz­li­chen Ur­laubs­an­spruch so­wie sei­nen Zu­satz­ur­laub als Schwer­be­hin­der­ter. Die­se Ansprüche ge­hen aber ziem­lich rasch wie­der un­ter, nämlich zum 31. März des übernächs­ten Jah­res. Da­mit gilt nach der Recht­spre­chung des BAG ei­ne all­ge­mei­ne "ge­setz­li­che" 15-Mo­nats-Gren­ze für das An­sam­meln von Ur­laubs­ansprüchen bei lan­ger Krank­heit.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Hin­weis: In der Zwi­schen­zeit, d.h. nach Er­stel­lung die­ses Ar­ti­kels, hat das BAG sei­ne Ent­schei­dungs­gründe veröffent­licht. Das vollständig be­gründe­te Ur­teil fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 18. April 2020

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