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Schwellenwerte bei Massenentlassungen und Zeitarbeit
17.11.2017. Sollen mehrere Arbeitnehmern innerhalb von 30 Tagen entlassen werden, ist eine solche Personalreduzierung möglicherweise eine Massenentlassung im Sinne von § 17 Abs.1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG). In einem solchen Fall muss der Arbeitgeber die geplanten Entlassungen der Arbeitsagentur vorab anzeigen (Massenentlassungsanzeige).
Ab welcher Zahl betroffener Arbeitnehmer eine Massenentlassung vorliegt, ist in § 17 Abs.1 KSchG zahlenmäßig festgelegt und hängt von der Größe des Betriebs ab. Je mehr Arbeitnehmer in einem Betrieb beschäftigt sind, desto mehr Entlassungen sind erforderlich, um von einer „Massenentlassung“ sprechen zu können.
Vor gut einem Jahr hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf entschieden, dass im Betrieb tätige Leiharbeitnehmer bei der Feststellung der Arbeitnehmerzahl bzw. Betriebsgröße nicht mitzählen, mit der Folge, dass eine geringere Zahl von Entlassungen bereits als Massenentlassung zu bewerten ist (LAG Düsseldorf, Urteil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15, wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 17/128 Massenentlassungsanzeige und Leiharbeitnehmer).
Gestern hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) über den Fall entschieden und die Frage, ob Leiharbeitnehmer bei den Massenentlassungs-Schwellenwerten mitzählen, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt: BAG, Beschluss vom 16.11.2017, 2 AZR 90/17 (A).
- Wie zählt man die die Arbeitnehmer eines Betriebs bei einer Massenentlassung - mit oder ohne Leiharbeitnehmer?
- Der Essener Streitfall: Kündigung von zwölf Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen bei einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 120 eigenen Arbeitnehmern und drei Leiharbeitnehmern
- BAG: Der EuGH soll entscheiden, ob Leiharbeitnehmer bei Massenentlassungen mitzählen oder nicht
Wie zählt man die die Arbeitnehmer eines Betriebs bei einer Massenentlassung - mit oder ohne Leiharbeitnehmer?
§ 14 Abs.1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) schreibt vor, dass Leiharbeitnehmer dem Betrieb ihres Arbeitgebers angehören, d.h. der Zeitarbeitsfirma. Das gilt auch für die Zeit ihrer Arbeitsleistung bei einem Entleiher. Trotz dieser allgemeinen bzw. grundsätzlichen Zuordnung zum Betrieb der Zeitarbeitsfirma gehören Zeitarbeitskräfte auch dem Betrieb des Entleihers an, jedenfalls faktisch.
Daher hat das BAG bereits mehrfach entschieden, dass Leiharbeitnehmer zur Belegschaft des Entleiher-Betriebs zählen, wenn es um die Frage geht, ob dieser Betrieb bestimmte arbeitsrechtliche Schwellenwerte erreicht, so z.B. den Schwellenwert von mindestens 21 Arbeitnehmern für die Sozialplanpflicht (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell 11/204 Interessenausgleich und Sozialplan: Leiharbeitnehmer zählen mit) oder den Schwellenwert von mehr als zehn Arbeitnehmern für den Kündigungsschutz nach dem KSchG (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 13/018 Beim Kündigungsschutz zählen Leiharbeitnehmer mit). Und auch bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl des Betriebs, von der die Größe des Betriebsrats abhängt, zählen Leiarbeitnehmer mit.
Auf den ersten Blick würde es in diese Rechtsprechung gut hineinpassen, Leiharbeitnehmer auch dann mitzuzählen, wenn es um die Betriebsgröße geht, von der es gemäß § 17 Abs.1 KSchG abhängt, ob eine Entlassungswelle eine anzeigepflichtige Massenentlassung ist oder nicht. Auf den zweiten Blick sprechen allerdings gute Gründe dafür, die Betriebsgröße bei Massenentlassungen ohne Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern zu ermitteln, wie das LAG Düsseldorf in seinem Urteil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15 betont hat (wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 17/128 Massenentlassungsanzeige und Leiharbeitnehmer):
Massenentlassungsanzeigen sollen nämlich die lokalen Arbeitsagenturen frühzeitig über einen größeren Ansturm von Arbeitslosen informieren, doch werden Leiharbeitnehmer gar nicht arbeitslos, wenn es in dem Entleiher-Betrieb zu Kündigungswellen kommt. Vielmehr muss sich ihr Arbeitgeber, die Leiharbeitsfirma, um eine andere Einsatzmöglichkeit kümmern. Dementsprechend wird durch eine Einbeziehung von Leiharbeitnehmern in § 17 Abs.1 KSchG auch der Kündigungsschutz von Leiharbeitnehmern nicht verbessert. Und schließlich hat auch der Betriebsrat des Entleiher-Betriebs keinen Vorteil von einer solchen Zählweise, da Leiharbeitnehmer in Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan nicht einbezogen werden.
Fraglich ist allerdings, ob es bei der Auslegung von § 17 Abs.1 KSchG (allein) auf solche oder ähnliche Argumente ankommt, denn hinter dieser Vorschrift steht die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Richtlinie 98/59/EG). Deren Art.1 Abs.1 enthält eine eigenständige Definition von Massenentlassung, und für die Auslegung dieser Definition ist der EuGH zuständig.
Der Essener Streitfall: Kündigung von zwölf Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen bei einer durchschnittlichen Betriebsgröße von 120 eigenen Arbeitnehmern und drei Leiharbeitnehmern
In dem zunächst vom Arbeitsgericht Essen entschiedenen Streitfall ging es um einen Betrieb mit 120 eigenen Arbeitnehmern, der Ende 2014 innerhalb von 30 Kalendertagen mindestens zwölf Arbeitnehmer entlassen hatte, und zwar ohne vorherige Anzeige der einer Massenentlassung bei der Arbeitsagentur. Für sich genommen ist das ein klarer Verstoß gegen § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG, denn bei der Betriebsgröße zwischen 61 und 499 Arbeitnehmern genügt die bevorstehende Entlassung von zehn Prozent der Belegschaft für eine anzeigepflichtige Massenentlassung. Und zwölf Arbeitnehmer von 120 Arbeitnehmern sind exakt zehn Prozent der Belegschaft.
Schwierig wurde der Fall dadurch, dass im Betrieb zusätzlich zu den 120 eigenen Arbeitnehmern drei Leiharbeitnehmer beschäftigt waren. Der Arbeitgeber argumentierte daher, dass die maßgebliche Betriebsgröße hier über 120 Arbeitnehmern lag, so dass die zwölf Entlassungen aus seiner Sicht knapp unterhalb der Schwelle der anzeigepflichtigen Massenentlassung blieben.
Eine der betroffenen Arbeitnehmerinnen erhob Kündigungsschutzklage und warf dem Arbeitgeber einen Verstoß gegen § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG vor. Mit dieser Argumentation hatte sie zwar vor dem Arbeitsgericht Essen kein Glück (Arbeitsgericht Essen, Urteil vom 11.06.2015, 1 Ca 3390/14), doch gab das für die Berufung zuständige LAG Düsseldorf der Klage statt (Urteil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15, wir berichteten in Arbeitsrecht aktuell: 17/128 Massenentlassungsanzeige und Leiharbeitnehmer).
BAG: Der EuGH soll entscheiden, ob Leiharbeitnehmer bei Massenentlassungen mitzählen oder nicht
In seinem gestrigen Beschluss hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und den EuGH gemäß Art.267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen gebeten:
"1. Ist Art.1 Abs.1 Unterabs.1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (RL 98/59/EG) dahin auszulegen, dass zur Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb tätigen Arbeitnehmer auf die Anzahl der im Zeitpunkt der Entlassung bei gewöhnlichem Geschäftsgang beschäftigten Arbeitnehmer abzustellen ist?
2. Ist Art.1 Abs.1 Unterabs.1 Buchst.a RL 98/59/EG dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer dort eingesetzte Leiharbeitnehmer mitzählen können?
Sofern die zweite Frage bejaht wird:
3. Welche Voraussetzungen gelten für die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer?"
Zur Begründung heißt es in der derzeit allein vorliegenden Pressemeldung des BAG kurz und knapp, dass es für das BAG entscheidungserheblich war, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Leiharbeitnehmer bei der Bestimmung der Zahl der in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer gemäß § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG zu berücksichtigen sind. Für die Beantwortung dieser Fragen ist der EuGH zuständig, denn § 17 Abs.1 KSchG dient der Umsetzung der Richtlinie 98/59/EG.
Fazit: Ob "Entlassung" im Sinne der Richtlinie 98/59/EG nun die Beendigung der Beschäftigung im Betrieb und/oder das Ende des Arbeitsverhältnisses und/oder den Ausspruch einer Kündigung und/oder deren rechtliche Wirkungen meint - unter allen diesen Aspekten sind Leiharbeitnehmer nicht von einer Entlassungswelle im Entleiherbetrieb betroffen. Das spricht dafür, die Vorlagefrage des BAG im Sinne des LAG Düsseldorf (Urteil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15) zu beantworten, d.h. in dem Sinne, dass Leiharbeitnehmer bei Massenentlassungen nicht mitzählen.
Nähere Informationen finden Sie hier:
- Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 16.11.2017, 2 AZR 90/17 (A)
- Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15
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Letzte Überarbeitung: 8. Januar 2021
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