HENSCHE RECHTSANWÄLTE, FACHANWALTSKANZLEI FÜR ARBEITSRECHT

ARBEITSRECHT AKTUELL // 17/290

Schwel­len­wer­te bei Mas­sen­ent­las­sun­gen und Zeit­ar­beit

Das BAG legt dem EuGH die Fra­ge vor, ob Zeit­ar­beit­neh­mer bei Mas­sen­ent­las­sun­gen zur Be­leg­schaft zäh­len: Bun­des­ar­beits­ge­richt, Be­schluss vom 16.11.2017, 2 AZR 90/17 (A)
Zwei Gruppen von je drei Arbeitnehmern mit Helm, Bekleidung der beiden Gruppen unterschiedlich

17.11.2017. Sol­len meh­re­re Ar­beit­neh­mern in­ner­halb von 30 Ta­gen ent­las­sen wer­den, ist ei­ne sol­che Per­so­nal­re­du­zie­rung mög­li­cher­wei­se ei­ne Mas­sen­ent­las­sung im Sin­ne von § 17 Abs.1 Kün­di­gungs­schutz­ge­setz (KSchG). In ei­nem sol­chen Fall muss der Ar­beit­ge­ber die ge­plan­ten Ent­las­sun­gen der Ar­beits­agen­tur vor­ab an­zei­gen (Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge).

Ab wel­cher Zahl be­trof­fe­ner Ar­beit­neh­mer ei­ne Mas­sen­ent­las­sung vor­liegt, ist in § 17 Abs.1 KSchG zah­len­mä­ßig fest­ge­legt und hängt von der Grö­ße des Be­triebs ab. Je mehr Ar­beit­neh­mer in ei­nem Be­trieb be­schäf­tigt sind, des­to mehr Ent­las­sun­gen sind er­for­der­lich, um von ei­ner „Mas­sen­ent­las­sung“ spre­chen zu kön­nen.

Vor gut ei­nem Jahr hat­te das Lan­des­ar­beits­ge­richt (LAG) Düs­sel­dorf ent­schie­den, dass im Be­trieb tä­ti­ge Leih­ar­beit­neh­mer bei der Fest­stel­lung der Ar­beit­neh­mer­zahl bzw. Be­triebs­grö­ße nicht mit­zäh­len, mit der Fol­ge, dass ei­ne ge­rin­ge­re Zahl von Ent­las­sun­gen be­reits als Mas­sen­ent­las­sung zu be­wer­ten ist (LAG Düs­sel­dorf, Ur­teil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 17/128 Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge und Leih­ar­beit­neh­mer).

Ges­tern hat das Bun­des­ar­beits­ge­richt (BAG) über den Fall ent­schie­den und die Fra­ge, ob Leih­ar­beit­neh­mer bei den Mas­sen­ent­las­sungs-Schwel­len­wer­ten mit­zäh­len, dem Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof (EuGH) vor­ge­legt: BAG, Be­schluss vom 16.11.2017, 2 AZR 90/17 (A)

Wie zählt man die die Ar­beit­neh­mer ei­nes Be­triebs bei ei­ner Mas­sen­ent­las­sung - mit oder oh­ne Leih­ar­beit­neh­mer?

§ 14 Abs.1 Ar­beit­neh­merüber­las­sungs­ge­setz (AÜG) schreibt vor, dass Leih­ar­beit­neh­mer dem Be­trieb ih­res Ar­beit­ge­bers an­gehören, d.h. der Zeit­ar­beits­fir­ma. Das gilt auch für die Zeit ih­rer Ar­beits­leis­tung bei ei­nem Ent­lei­her. Trotz die­ser all­ge­mei­nen bzw. grundsätz­li­chen Zu­ord­nung zum Be­trieb der Zeit­ar­beits­fir­ma gehören Zeit­ar­beits­kräfte auch dem Be­trieb des Ent­lei­hers an, je­den­falls fak­tisch.

Da­her hat das BAG be­reits mehr­fach ent­schie­den, dass Leih­ar­beit­neh­mer zur Be­leg­schaft des Ent­lei­her-Be­triebs zählen, wenn es um die Fra­ge geht, ob die­ser Be­trieb be­stimm­te ar­beits­recht­li­che Schwel­len­wer­te er­reicht, so z.B. den Schwel­len­wert von min­des­tens 21 Ar­beit­neh­mern für die So­zi­al­plan­pflicht (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell 11/204 In­ter­es­sen­aus­gleich und So­zi­al­plan: Leih­ar­beit­neh­mer zählen mit) oder den Schwel­len­wert von mehr als zehn Ar­beit­neh­mern für den Kündi­gungs­schutz nach dem KSchG (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 13/018 Beim Kündi­gungs­schutz zählen Leih­ar­beit­neh­mer mit). Und auch bei der Er­mitt­lung der Ar­beit­neh­mer­zahl des Be­triebs, von der die Größe des Be­triebs­rats abhängt, zählen Lei­ar­beit­neh­mer mit.

Auf den ers­ten Blick würde es in die­se Recht­spre­chung gut hin­ein­pas­sen, Leih­ar­beit­neh­mer auch dann mit­zuzählen, wenn es um die Be­triebs­größe geht, von der es gemäß § 17 Abs.1 KSchG abhängt, ob ei­ne Ent­las­sungs­wel­le ei­ne an­zei­ge­pflich­ti­ge Mas­sen­ent­las­sung ist oder nicht. Auf den zwei­ten Blick spre­chen al­ler­dings gu­te Gründe dafür, die Be­triebs­größe bei Mas­sen­ent­las­sun­gen oh­ne Berück­sich­ti­gung von Leih­ar­beit­neh­mern zu er­mit­teln, wie das LAG Düssel­dorf in sei­nem Ur­teil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15 be­tont hat (wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 17/128 Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge und Leih­ar­beit­neh­mer):

Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­gen sol­len nämlich die lo­ka­len Ar­beits­agen­tu­ren frühzei­tig über ei­nen größeren An­sturm von Ar­beits­lo­sen in­for­mie­ren, doch wer­den Leih­ar­beit­neh­mer gar nicht ar­beits­los, wenn es in dem Ent­lei­her-Be­trieb zu Kündi­gungs­wel­len kommt. Viel­mehr muss sich ihr Ar­beit­ge­ber, die Leih­ar­beits­fir­ma, um ei­ne an­de­re Ein­satzmöglich­keit kümmern. Dem­ent­spre­chend wird durch ei­ne Ein­be­zie­hung von Leih­ar­beit­neh­mern in § 17 Abs.1 KSchG auch der Kündi­gungs­schutz von Leih­ar­beit­neh­mern nicht ver­bes­sert. Und schließlich hat auch der Be­triebs­rat des Ent­lei­her-Be­triebs kei­nen Vor­teil von ei­ner sol­chen Zähl­wei­se, da Leih­ar­beit­neh­mer in Ver­hand­lun­gen über ei­nen In­ter­es­sen­aus­gleich und ei­nen So­zi­al­plan nicht ein­be­zo­gen wer­den.

Frag­lich ist al­ler­dings, ob es bei der Aus­le­gung von § 17 Abs.1 KSchG (al­lein) auf sol­che oder ähn­li­che Ar­gu­men­te an­kommt, denn hin­ter die­ser Vor­schrift steht die Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20.07.1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen (Richt­li­nie 98/59/EG). De­ren Art.1 Abs.1 enthält ei­ne ei­genständi­ge De­fi­ni­ti­on von Mas­sen­ent­las­sung, und für die Aus­le­gung die­ser De­fi­ni­ti­on ist der EuGH zuständig.

Der Es­se­ner Streit­fall: Kündi­gung von zwölf Ar­beit­neh­mern in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen bei ei­ner durch­schnitt­li­chen Be­triebs­größe von 120 ei­ge­nen Ar­beit­neh­mern und drei Leih­ar­beit­neh­mern

In dem zunächst vom Ar­beits­ge­richt Es­sen ent­schie­de­nen Streit­fall ging es um ei­nen Be­trieb mit 120 ei­ge­nen Ar­beit­neh­mern, der En­de 2014 in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen min­des­tens zwölf Ar­beit­neh­mer ent­las­sen hat­te, und zwar oh­ne vor­he­ri­ge An­zei­ge der ei­ner Mas­sen­ent­las­sung bei der Ar­beits­agen­tur. Für sich ge­nom­men ist das ein kla­rer Ver­s­toß ge­gen § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG, denn bei der Be­triebs­größe zwi­schen 61 und 499 Ar­beit­neh­mern genügt die be­vor­ste­hen­de Ent­las­sung von zehn Pro­zent der Be­leg­schaft für ei­ne an­zei­ge­pflich­ti­ge Mas­sen­ent­las­sung. Und zwölf Ar­beit­neh­mer von 120 Ar­beit­neh­mern sind ex­akt zehn Pro­zent der Be­leg­schaft.

Schwie­rig wur­de der Fall da­durch, dass im Be­trieb zusätz­lich zu den 120 ei­ge­nen Ar­beit­neh­mern drei Leih­ar­beit­neh­mer beschäftigt wa­ren. Der Ar­beit­ge­ber ar­gu­men­tier­te da­her, dass die maßgeb­li­che Be­triebs­größe hier über 120 Ar­beit­neh­mern lag, so dass die zwölf Ent­las­sun­gen aus sei­ner Sicht knapp un­ter­halb der Schwel­le der an­zei­ge­pflich­ti­gen Mas­sen­ent­las­sung blie­ben.

Ei­ne der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­me­rin­nen er­hob Kündi­gungs­schutz­kla­ge und warf dem Ar­beit­ge­ber ei­nen Ver­s­toß ge­gen § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG vor. Mit die­ser Ar­gu­men­ta­ti­on hat­te sie zwar vor dem Ar­beits­ge­richt Es­sen kein Glück (Ar­beits­ge­richt Es­sen, Ur­teil vom 11.06.2015, 1 Ca 3390/14), doch gab das für die Be­ru­fung zuständi­ge LAG Düssel­dorf der Kla­ge statt (Ur­teil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15, wir be­rich­te­ten in Ar­beits­recht ak­tu­ell: 17/128 Mas­sen­ent­las­sungs­an­zei­ge und Leih­ar­beit­neh­mer).

BAG: Der EuGH soll ent­schei­den, ob Leih­ar­beit­neh­mer bei Mas­sen­ent­las­sun­gen mitzählen oder nicht

In sei­nem gest­ri­gen Be­schluss hat das BAG das Ver­fah­ren aus­ge­setzt und den EuGH gemäß Art.267 des Ver­tra­ges über die Ar­beits­wei­se der Eu­ropäischen Uni­on (AEUV) um die Be­ant­wor­tung der fol­gen­den Fra­gen ge­be­ten:

"1. Ist Art.1 Abs.1 Un­terabs.1 Buchst. a der Richt­li­nie 98/59/EG des Ra­tes vom 20. Ju­li 1998 zur An­glei­chung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über Mas­sen­ent­las­sun­gen (RL 98/59/EG) da­hin aus­zu­le­gen, dass zur Be­stim­mung der Zahl der in der Re­gel in ei­nem Be­trieb täti­gen Ar­beit­neh­mer auf die An­zahl der im Zeit­punkt der Ent­las­sung bei gewöhn­li­chem Geschäfts­gang beschäftig­ten Ar­beit­neh­mer ab­zu­stel­len ist?

2. Ist Art.1 Abs.1 Un­terabs.1 Buchst.a RL 98/59/EG da­hin aus­zu­le­gen, dass bei der Be­stim­mung der Zahl der in der Re­gel in ei­nem Be­trieb ei­nes ent­lei­hen­den Un­ter­neh­mens täti­gen Ar­beit­neh­mer dort ein­ge­setz­te Leih­ar­beit­neh­mer mitzählen können?

So­fern die zwei­te Fra­ge be­jaht wird:

3. Wel­che Vor­aus­set­zun­gen gel­ten für die Berück­sich­ti­gung von Leih­ar­beit­neh­mern bei der Be­stim­mung der An­zahl der in der Re­gel in ei­nem Be­trieb ei­nes ent­lei­hen­den Un­ter­neh­mens täti­gen Ar­beit­neh­mer?"

Zur Be­gründung heißt es in der der­zeit al­lein vor­lie­gen­den Pres­se­mel­dung des BAG kurz und knapp, dass es für das BAG ent­schei­dungs­er­heb­lich war, ob und ggf. un­ter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen Leih­ar­beit­neh­mer bei der Be­stim­mung der Zahl der in ei­nem Be­trieb beschäftig­ten Ar­beit­neh­mer gemäß § 17 Abs.1 Nr.2 KSchG zu berück­sich­ti­gen sind. Für die Be­ant­wor­tung die­ser Fra­gen ist der EuGH zuständig, denn § 17 Abs.1 KSchG dient der Um­set­zung der Richt­li­nie 98/59/EG.

Fa­zit: Ob "Ent­las­sung" im Sin­ne der Richt­li­nie 98/59/EG nun die Be­en­di­gung der Beschäfti­gung im Be­trieb und/oder das En­de des Ar­beits­verhält­nis­ses und/oder den Aus­spruch ei­ner Kündi­gung und/oder de­ren recht­li­che Wir­kun­gen meint - un­ter al­len die­sen As­pek­ten sind Leih­ar­beit­neh­mer nicht von ei­ner Ent­las­sungs­wel­le im Ent­lei­her­be­trieb be­trof­fen. Das spricht dafür, die Vor­la­ge­fra­ge des BAG im Sin­ne des LAG Düssel­dorf (Ur­teil vom 08.09.2016, 11 Sa 705/15) zu be­ant­wor­ten, d.h. in dem Sin­ne, dass Leih­ar­beit­neh­mer bei Mas­sen­ent­las­sun­gen nicht mitzählen.

Nähe­re In­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier:

Letzte Überarbeitung: 8. Januar 2021

Weitere Auskünfte erteilen Ihnen gern:

Dr. Martin Hensche
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hensche@hensche.de
Christoph Hildebrandt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Kontakt:
030 / 26 39 620
hildebrandt@hensche.de
Nina Wesemann
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht

Kontakt:
040 / 69 20 68 04
wesemann@hensche.de

Bewertung:

Auf Facebook teilen Auf Google+ teilen Ihren XING-Kontakten zeigen Beitrag twittern

 

Für Personaler, betriebliche Arbeitnehmervertretungen und andere Arbeitsrechtsprofis: "Update Arbeitsrecht" bringt Sie regelmäßig auf den neusten Stand der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung. Informationen zu den Abo-Bedingungen und ein kostenloses Ansichtsexemplar finden Sie hier:

Alle vierzehn Tage alles Wichtige
verständlich / aktuell / praxisnah

HINWEIS: Sämtliche Texte dieser Internetpräsenz mit Ausnahme der Gesetzestexte und Gerichtsentscheidungen sind urheberrechtlich geschützt. Urheber im Sinne des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG) ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Martin Hensche, Lützowstraße 32, 10785 Berlin.

Wörtliche oder sinngemäße Zitate sind nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung des Urhebers bzw. bei ausdrücklichem Hinweis auf die fremde Urheberschaft (Quellenangabe iSv. § 63 UrhG) rechtlich zulässig. Verstöße hiergegen werden gerichtlich verfolgt.

© 1997 - 2024:
Rechtsanwalt Dr. Martin Hensche, Berlin
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Lützowstraße 32, 10785 Berlin
Telefon: 030 - 26 39 62 0
Telefax: 030 - 26 39 62 499
E-mail: hensche@hensche.de